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Rezension Verschwundene Journalisten, Hitlers Hellseher und Berlin

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Erik Jan Hanussen bei einer Séance.

Kohls Protagonisten handeln in der Zeit der Anfänge des Nationalsozialismus, ihr Schicksal erzählt vom Widerstand gegen den Despoten wie auch von dessen Scheitern. Angesiedelt ist die Handlung in der Journalistenszene Berlins: Da sind auf der einen Seite linke Journalisten, die wissen, wofür Hitler steht. Ludwig Lechner, der für die österreichische Arbeiterzeitung schreibt, ist in Berlin verschwunden: „Der Lechner ist weg. Plötzlich weg. Verschwunden. Seit über einer Woche meldet er sich nicht mehr aus Berlin.“

Es ist Januar 1933. Lechners Kollege Martin Stemmer macht sich auf die Suche, um die Umstände von Lechners Verschwinden ausfindig zu machen. Lebt er noch? Oder wurde Lechner aus politischen Gründen ermordet? Er weiß nur wenig über ihn: „Doch wenn Stemmer ehrlich ist, kennt er Lechner nicht wirklich. Er erlebte ihn als zuverlässigen Kollegen, aber privat wusste er fast nichts über ihn, und das änderte sich nie.“ Die allgegenwärtige Angst der Protagonisten lebt im Buch in dichter, spannender Weise.

Judith, die Kostümbildnerin und Schauspielerin

Stemmer wohnt während seiner Recherchen bei Judith, einer Schauspielerin und Kostümbildnerin, die durch Vermietungen überlebt. Eine mutige Frau, bei ihr leben widerständige Menschen, das wird dem Journalisten rasch bewusst. Hier fühlt er sich wohl. Dass Judith Jüdin ist, offenbart sie ihm bald.

Der österreichische Journalist Stemmer erlebt die Nazipropaganda, den Sturm der Emotionen, der viele zum Nationalsozialismus treibt: „Mit uns beginnt die neue Zeit! Wir schaffen ein neues, ein besseres Deutschland! Mehr Arbeitsplätze, mehr Freiheit für Deutsche!“, hört er in der Berliner U-Bahn. Berlin wird ihm rasch vertraut, die Gefahr, die auch ihm selbst droht, spürt er.

In Lechners letzter Unterkunft findet Stemmer dessen Tagebuch. Immerhin. Darin vor allem Aufzeichnungen über Erik Jan Hanussen, dem berühmt-berüchtigten Hellseher Berlins; seine Rolle im Nationalsozialismus gilt bis heute als ungeklärt. Paul Kohl hat viel hierzu recherchiert.

Der Hellseher und Hitler-Verehrer Erik Jan Hanussen

Erik Jan Hanussen macht sich rasch einen Namen, seine Auftritte als Hellseher auf Berliner Bühnen machen ihn berühmt. Er gibt vor, über heilende Kräfte zu verfügen. Auf der Bühne beweist er dies immer wieder, Kranke verlassen mit neuen Kräften und Fähigkeiten die Bühne. Sein Ruhm steigert sich rasch ins Unermessliche. Doch Ludwig Lechner hatte ihm misstraut, obwohl dieser für ihn anfangs ein Idol war, ist seinem Tagebuch zu entnehmen. Hanussen war ein Anhänger der Nationalsozialisten. Er hatte wohl Einfluss bis in die höchsten Kreise, notierte Lechner.

Zugleich hatte der politische Auslandskorrespondent Ludwig Lechner über einflussreiche Nationalsozialisten recherchiert, wollte diese interviewen: Über SA-Gruppenführer Helldorff und Karl Ernst. Ernst gilt als randständige, gescheiterte Figur, der die Chance spürt, die ihm der Nationalsozialismus bietet. Er ist schwul und somit erpressbar, mit Kontakten zu Röhm, hat Lechner in seinem Tagebuch aufgeschrieben. Weiterhin wollte er den berühmten Muskel-Adolf interviewen, ein Berliner Untergrundkönig, skrupellos, machtbesessen, gefährlich.

Martin Stemmer erlebt bald nach seiner Ankunft in Berlin die ersten Überfälle gegen Linke, auch seine Wohnung wird von den Nazis angegriffen: „Die großen Fenster zur Straße sind eingeschlagen, überall liegen Glassplitter auf dem Boden.“

Stemmer sucht Kontakte zu Kollegen. Einer ist Gustav Franke, Redakteur der Roten Fahne. Sie erfahren, dass Lechner wohl tot ist. Die näheren Umstände sind ungeklärt. Sicher jedoch ist nichts.

Dann nimmt Martin Stemmer Kontakt mit höheren Nationalsozialisten aus dem Pressebereich auf, kann einem Auftritt Hitlers beiwohnen.

Linke und Rechte und linke Rechte

Judith macht ihn mit weiteren linken Freunden vertraut in den Zeiten des Misstrauens. Sie erleben, wie Bekannte, Freunde eilfertig zu den Nazis überlaufen: „Wir sind gleich alt. Fünfundzwanzig, kommen aus ärmlichen Verhältnissen. Waren lange arbeitslos. Jetzt ist er bei der SA und ich bei der KPD.“

Martin Stemmer kommt Judith näher. Sie vertraut ihm, erzählt ihm vom allgegenwärtigen Terror, dem zuallererst Berliner Juden ausgesetzt sind: „Ich habe erlebt wie die SA im September `31 zum jüdischen Neujahrsfest die Juden auf dem Kurfürstendamm verprügelt hat. Für mich als Jüdin ein Schock.“

Dann wird Hitler zum Reichskanzler ernannt: „‚Jetzt habt ihr die Kacke‘, hört Stemmer eine Frau sagen. „Seht zu, wie ihr da wieder rauskommt.““

Bei den Auseinandersetzungen wird ein örtlicher SA-Mann getötet, es ist eher ein Unfall, der Schuss eines Nazis. „Die Straßen frei den braunen Bataillonen!“ hört Judith auf den Straßen. „Judith zittert am ganzen Leib. Wieder rennt sie zur Tür und kontrolliert, ob sie tatsächlich verschlossen ist.“ Die allgegenwärtige Angst wird beschrieben.

Er und Judith erleben den Hellseher und Star Erik Jan Hanussen auf der Bühne, sind gleichermaßen fasziniert wie abgestoßen durch Hanussens öffentlich zelebrierte Verehrung der neuen Herrscher, seiner Begeisterung für Hitler. Dann werden sie Zeuge, wie Hanussen auf der Bühne von einem Konkurrenten, Moecke, öffentlich attackiert wird. Die Zeitungen berichten über den Skandal.

Judiths Ängste steigern sich. Sie spürt die Gefahr, sie ist bedroht: „‚Du weinst?‘ ‚Es ist bald aus mit mir.‘ ‚Was sagst du da?‘ ‚Bald aus mit mir.‘ ‚Das bildest du dir ein‘“, entgegnet sie Stemmer.

Eine Sensation sickert im Laufe seiner Recherchen durch: Der Hitler-Fanatiker Hanussen soll Jude sein. Beide arbeiten mit der Suggestion, dem Wunderglauben, der Fähigkeit zur Verführung von Gruppen. Will Hanussen Karriere bei den Nazis machen, um sich zu schützen? Oder fühlt er sich den Nazis nahe, ist begeistert von ihrem Wahn, ihrem Sadismus? Eine Zeitung bringt die Sensation in fetten Lettern: „Finanziert Hanussen die SA?“

„Das deutsche Volk wurde vergiftet“

Martin Stemmer, der Österreicher in Berlin, erlebt die Aufmärsche der NSDAP; er beschreibt die Atmosphäre der Angst, der Triumphe. Er ist als Journalist bei Goebbels „Sportpalastrede“ dabei: „Das deutsche Volk wurde vergiftet vom jüdischen Intellektualismus. (…) Überall nur Juden. Die Juden wollen unser deutsches Volk zersetzen! Die Juden sind unser Unglück! Weg mit ihnen!“ triumphiert der Demagoge Goebbels.

Später dann eine öffentliche Konfrontation zwischen Hanussen und Moecke in einem Cafe. Es kommt zu brutalsten Misshandlungen, Moecke ist das Opfer. Die Demütigung ist seine Rache für die vorhergehende Konfrontation im Theater. Das vorher kulturell Verbotene kann nun öffentlich ausgelebt werden. Hanussen gleitet voller Triumph in die Rolle des brutalen Täters, der seinen Feind demütigt, niedermacht.

Die oppositionelle Presse wird verboten. Dennoch bleibt Martin Stemmer in Berlin, fühlt sich seinem ermordeten Kollegen verpflichtet. Judiths Lage wird ausweglos, ihr Theater wird geschlossen: „Noch bevor sie ihren Mantel auszieht, schreit sie: ‚Sie haben die Aufführung verboten!‘, und schmettert ihre Tasche auf den Boden.“

Wenig später findet sie konkrete Warnungen in ihrem Briefkasten: „‚Erste Warnung! Wir kriegen dich! Beide Sätze sind mit Farbstift rot unterstrichen.“

Judith bittet ihren Freund, zurück nach Wien zu fliehen. Der vertraut seinem österreichischen Pass. Ihm könne doch nichts passieren.

Die Leiche im Wald

Stemmer macht weiter. Er sucht seinen ermordeten Kollegen, findet einen Toten. Hat er Lechner gefunden? Nachts sucht er Schutz und Nähe bei Judith und sie bei ihm: „Ich muss dich neben mir spüren. Damit ich weiß, dass du noch lebst.“

Dann wird eine Leiche in einem Wald gefunden. Es ist Hanussen, die Enthüllungsschlagzeile, dass er Jude sei, hat er nicht überlegt. Stemmers Wiener Chefredakteur beauftragt ihn, zu recherchieren. Das ist selbst in Wien eine Sensation.

Weitere Wirrungen und Abgründe der Geschichte um Hanussen, Hitlers Propheten, fließen in den Handlungsstrang ein. Berliner Geschichten, Nazigeschichten, menschliche Irrwege, Triumphe. Menschlicher Sadismus, der aus der kulturellen Einebnung ausgebrochen ist. Die Geschichte kennt keine Gerechtigkeit. Die Widersprüche des Hellsehers und Verführers, des zynischen Machtmenschen Hanussen, werden entfaltet.

Lechner war der Geschichte bei seinen Recherchen auf die Spur gekommen, hatte dafür mit seinem Leben bezahlt. Je mehr Stemmer hierüber erfährt umso unentbehrlicher erscheint er in Wien für die Arbeiterzeitung. Er muss in Berlin bleiben: „Stemmer wendet sich zu Judith. ‚Du siehst‘, sagt er zu ihr, ‚ich muss weitermachen.‘ Erstarrt sieht sie ihn an“.

Stemmer, der Journalist, bleibt in Berlin, sucht weiter. Schließlich gerät er in die Fänge der Geheimpolizei. Im letzten Absatz, auf dringt die SA nachts in Judiths Zimmer ein, führt sie ab. Illusionen möchte Paul Kohl nicht entstehen lassen. An der Vergangenheit gibt es nichts zu romantisieren. Sie ist vergangen und wirkt doch immer noch.

Paul Kohl: Hitlers Prophet. Historischer Kriminalroman, Emons Verlag: Köln, 2017, 333 S., TB, 11,90 Euro, Bestellen?

 

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