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Rostock 1992 Wie jüdische Aktivist:innen gegen die Abschiebung von Sinti:zze und Rom:nja protestierten

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Im Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen lebten ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter:innen. 1992 fanden dort tagelange rassistische Ausschreitungen statt
Im Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen lebten ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter:innen. 1992 fanden dort tagelange rassistische Ausschreitungen statt (Quelle: Timur Y/CC BY 3.0)

Während in den Nachwendejahren in großen Teilen der deutschen Gesellschaft der Einheitstaumel negative Gefühle verdrängte, hatten progressive Stimmen bereits lange davor gewarnt, was im Schatten der Einheit wachsen würde. Heute, drei Jahrzehnte später, haben sich ihre Warnungen zum Teil bestätigt. Mit der Normalisierung des deutschen Nationalismus sind Antisemitismus und Rassismus wieder an der Tagesordnung. Große Teile der deutschen Gesellschaft scheinen die Vergangenheit zu verbiegen, um sich der aus ihr ergehenden Verantwortung zu entziehen.

Den daraus hervorgehenden Mythen gilt es die schmerzhafte Erinnerung an die Wirklichkeit entgegenzuhalten. Und die Wirklichkeit, die wir an dieser Stelle benennen wollen, zeigt auf, dass die Wahrnehmung der „Wiedervereinigung“ als freudiges Ereignis keineswegs alle Mitglieder dieser diversen Gesellschaft gleichermaßen betraf.

Bereits wenige Monate nach der „Deutschen Einheit“ kam es zu rassistischen und rechtsextremen Ausschreitungen. Drei der bekanntesten Vorfälle ereigneten sich in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen und Mölln. In Folge der rassistischen Ausschreitungen kam es wenige Wochen später auf Bundesebene zum sogenannten Asylkompromiss. In dem von Regierung und Teilen der Opposition zusammen verabschiedeten Beschluss wurde eine drastische Einschränkung des Grundrechts auf Asyl vorgenommen.

Der sogenannte Asylkompromiss löste innerhalb der jungen Bundesrepublik Verwunderung aus. Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie kritisierte, dass der „‚Rechtsruck‘ […] mit einem kräftigen Ruck nach rechts ‚bekämpft‘“ wurde. Der damalige Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, stand Leggewies Kritik in nichts nach. Er kritisierte öffentlich, dass hier ein falscher Zusammenhang hergestellt wurde. So stand die tatsächliche soziale Misere in keinerlei Zusammenhang mit der rassistisch-motivierten Gewalt in Rostock-Lichtenhagen. Des Weiteren betonte Bubis, dass die Pogrome darauf abzielten, die Vertreibung oder sogar die Vernichtung von Asylberweber:innen herbeizuführen.

Knapp einen Monat nach den rassistischen Pogromen in Rostock-Lichtenhagen, am 24. September 1992, wurde die deutsch-rumänische Rücknahmevereinbarung unterzeichnet. Das Rücknahmeabkommen trat offiziell am 1. November 1992 in Kraft. In den ersten Monaten des Abkommens, bis einschließlich dem 26. Januar 1993, wurden auf dem Luftweg 2.998 rumänische Staatsangehörige und auf dem Landweg 62 Rumän:innen nach Rumänien gebracht.

Die Geschehnisse jener Jahre sorgten nicht nur bei vielen Jüdinnen:Juden in der noch jungen Bundesrepublik für große Sorgen, sondern wurden auch von einigen französischen Jüdinnen:Juden intensiv verfolgt. Daher entschieden sich 46 jüdische Aktivist:innen aus Frankreich für den 19. Oktober 1992 mit einem Bus die 1.200 Kilometer nach Rostock zurückzulegen. Etliche jüdische Organisationen, darunter Mitglieder der Gruppe „Söhne und Töchter der deportierten Juden aus Frankreich“ (FFDJF), sowie Enkel von Shoa-Überlebenden und Mitglieder der „Union des étudiants juifs de France“ (zu Deutsch: Jüdische Studierendenunion Frankreichs), hatten zu der Aktion aufgerufen. Unter den Aktivist:innen befanden sich auch Beate und Serge Klarsfeld, die sich einen Ruf als Nazijäger:innen errungen hatten. Gemeinsam wollten sie sich gegen die vorgesehenen Abschiebungen von Sinti:zze und Rom:nja aus Deutschland nach Rumänien stellen.

Serge Klarsfeld betonte, dass er sich gerade aus jüdischer Sicht mit Sinti:zze und Rom:nja solidarisch zeigen wollte, da sie nach dem Ende der Porajmos (zu Deutsch: „das Verschlingen“, eine Bezeichnung für den Völkermord an mindestens 500.000 Sinti:zze und Rom:nja zur NS-Zeit) weiterhin massiver Verfolgung und Ermordung ausgesetzt waren. Die jüdischen Aktivist:innen, rund um die Klarsfelds, brachten ihren Protest vor das Rostocker Rathaus. Sie wollten eine Tafel in Erinnerung an die Shoa, die Porajmos und die rassistischen Pogrome von Lichtenhagen an der Wand anbringen. Sie wiesen damit auf die historische Verantwortung Deutschlands hin. Während auf der Straße die jüdische Solidarität mit den Sinti:zze und Rom:nja durch Transparente wie „Juden solidarisch mit Sinti und Roma“, „Gestern vergast – heute deportiert?“ und „Nein zu dem deutschrumänischen Pakt“ gezeigt wurde, verschafften sich einige Aktivist:innen Zugang zum CDU-Fraktionsbüro und ließen ein Banner mit der Aufschrift „Keine Ausweisung der Roma aus Deutschland“ aus dem Fenster hängen.

Draußen ließen die Anwesenden französische und israelische Fahnen, sowie Fahnen ihrer Gruppen wehen. Mit der Besetzung des CDU-Fraktionsbüros eskalierte jedoch die Situation zwischen der anwesenden Polizei und den jüdischen Demonstrant:innen. Zuvor hatte sich die Polizei selbst dann noch zurückgehalten, als einem Autofahrer die Frontscheibe eingeschlagen wurde, weil er versucht hatte, die Sitzblockade zu durchbrechen. Infolgedessen wurden vier Aktivist:innen von Polizeibeamt:innen festgenommen. Andere jüdische Aktivist:innen versuchten die verhafteten Jüdinnen:Juden zu befreien, was zu acht verletzten Polizeibeamt:innen führte.

In Folge der Konfrontation wurden die 46 Aktivist:innen von einem Sondereinsatzkommando der Polizei in ihren Bussen festgesetzt und saßen kurzzeitig in Untersuchungshaft. Nazijägerin Beate Klarsfeld widersprach den Aussagen der Polizei, dass die Gewalt von den Aktivist:innen ausgegangen sei. Sie hätten entgegen der Polizeiberichte keine Baseballschläger dabei gehabt, sondern lediglich die Fahnenstangen. „Die Beamten sind sofort rabiat geworden“, berichtet Klarsfeld weiter. Dass die Jüdinnen:Juden im Besitz von Tränengas waren, dementierte Beate Klarsfeld nicht. Im Gegenteil. Mit Bezug auf die Pogrome in Rostock-Lichtenhagen sagte sie: „Wir mußten ja damit rechnen, von Skinheads angegriffen zu werden, die die Polizei gewähren läßt“. In mehreren deutschen und französischen Städten folgten auf die Ausschreitungen und Festnahmen vom 19. Oktober 1992 Protestaktionen und Solidaritätsbekundungen mit den inhaftierten Aktivist:innen.

In Berlin versammelten sich mehrere Menschen, um gegen die fortführende Untersuchungshaft der drei französischen Jüdinnen:Juden zu demonstrieren. Aufgerufen dazu hatte die neugegründete „Initiative zur Freilassung“, die sich kurz nach der Inhaftierung der Aktivist:innen gegründet hatte. In ihrem Aufruf kritisierten sie die Unverhältnismäßigkeiten, mit denen gegen den jüdischen Protest vorgegangen wurde: „Während Neonazis ungestört jüdische Friedhöfe schänden und Mahnmale und Gedenkstätten zerstören können, geht der deutsche Staat nunmehr selbst immer schamloser gegen Jüdinnen und Juden vor“.

Neben Paris und Berlin regte sich auch in Frankfurt am Main Protest gegen die Ausschreitungen in Rostock und die damit verbundenen Inhaftierungen. Für Samstag, den 25.Oktober 1992, rief die „Antirassistische Gruppe“ zu einer Kundgebung am Römer auf. Unter dem Motto „Gegen Fremdenfeindlichkeit und die Abschiebung von Sinti und Roma“ wollten sie des nationalsozialistischen Völkermordes an Jüdinnen:Juden und an Sinti:zze und Rom:nja während des „Dritten Reichs“ gedenken. Um ihrem Protest Ausdruck zu verleihen, montierten sie eine exakte Kopie der Mahntafel, die die französischen Jüdinnen:Juden in Rostock angebracht hatten. Während der Protestaktion ergriff ein Teilnehmer und Überlebender des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau das Wort. Er forderte einen Stopp der rassistischen Angriffe auf Asylunterkünfte und eine konsequentere Strafverfolgung.

Für Serge Klarsfeld war ihre damalige Solidaritätsaktion ein Sinnbild für die enge Bindung zwischen Jüdinnen:Juden, Sinti:zze und Rom:nja. Obwohl laut seinen Aussagen viele der damaligen jüdischen Organisation nicht die Verbindung zwischen den Jüdinnen:Juden 1942 und den Sinti:zze und Rom:nja 1992 sehen wollten. Klarsfeld berichtet über eine ablehnende Haltung einzelner jüdischer Organisationen, aber er zog ein durchweg positives Fazit: „Unser Protest in Rostock war der Startschuss für eine heftige Kampagne gegen die Abschiebung von Sinti und Roma. Die Roma, die in Rostock an unserer Seite waren, waren froh, dass Juden für ihre Rechte eintraten.“

Heute, am Jahrestag der Demonstration in Rostock, sollten wir die Symbolik der damaligen Ereignisse uns wieder in das Gedächtnis rufen. Sie könnten helfen, ein gemeinsames Bewusstsein der antisemitischen und rassistischen Kontinuitäten zu schaffen. Viele öffentliche Debatten haben in den vergangenen Jahren Fronten verhärtet. Ohne unfähig zu werden, die Probleme in Bündnissen wahrzunehmen, sollten wir uns dafür öffnen, wie neue Allianzen entstehen können. Wir sollten beginnen darüber nachzudenken, wie wir uns gegenseitig unterstützen können. Nicht nur in Kämpfen, sondern auch im kollektiven Erinnern. Was die damaligen Demonstrationsteilnehmer:innen festgestellt haben, scheint nach wie vor zu gelten. Dieser Eindruck verstärkte sich vor allem in den letzten Monaten.

In etlichen europäischen Ländern verschlechterte sich die Situation der Sint:izze und Rom:nja während der Corona-Pandemie, der Mord am Rom Stanislav Tomáš im tschechischen Teplice fand kaum Beachtung und auch das jährliche Gedenken am internationalen Gedenktag „Dikh He Na Bister“ (zu Deutsch: Schau und vergiss nicht) am Mahnmal für die ermordeten Sint:izze und Rom:nja in Berlin konnte diese Wahrnehmung nicht zerstreuen. Denn auch in diesem Jahr fand hier wieder eine Veranstaltung statt, an dem Ort, der dem Bau einer Bahnstrecke weichen soll. Es kamen nur wenige Menschen, größtenteils Rom:nja und Sint:izze. Ein Anfang wäre gemacht, wenn der Porajmos und die Kontinuitäten von Gadjé-Rassismus, wie auch die Stimmen von Rom:nja und Sint:izze auch in den aktuellen sozialen Debatten unserer Zeit mehr Sichtbarkeit erhalten würden.


Dieser Text ist Teil eines Kapitels des 2022 erscheinenden Buches mit dem Arbeitstitel „Jung, Jüdisch, Politisch – Eine Protestgeschichte“ im Verlag Hentrich & Hentrich.

Ruben Gerczikow beschäftigt sich seit vielen Jahren intensiv mit rechtsextremen Strukturen, war 2019-2021 Vizepräsident der European Union of Jewish Students und ist Wertebotschafter bei der Bildungsinitiative GermanDream. (Twitter: @RubenGerczi)

Monty Ott ist Publizist und promoviert zu „Queerem Judentum in Deutschland, war von 2018 bis 2021 Gründungsvorsitzender der queer-jüdischen Initiative Keshet Deutschland e.V. (Instagram: @der_wandelnde_widerspruch)

Beide sind Teil des jüdischen Medienprojekts Laumer Lounge (Instagram: @laumer_lounge).

Das Artikelbild wurde unter der Creative-Commons-Lizenz CC BY 3.0 veröffentlicht.

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