Weiter zum Inhalt Skip to table of contents

SprachGewalt – oder – „Nein, unser Land bekommt Ihr nicht zurück“

Von|
Volker Beck (Quelle: Stefan Kaminski)

 

Volker Beck ist Lehrbeauftragter am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien (CERES) der Ruhruniversität Bochum. Er gehörte von 1994 bis 2017 dem Deutschen Bundestag an.

Diese Rede zum Thema „SprachGewalt“ hielt Volker Beck am 01.Dezember 2017 in der Paulskirche in Frankfurt am Main anlässlich einer Veranstaltung zum Welt-AIDS-Tag. Mit freundlicher Genehmigung. 

 

„Was geschehen ist, wird wieder geschehen, was getan wurde, wird man wieder tun: Es gibt nichts Neues unter der Sonne.“ heißt es bei Kohelet (1). Hass hat es immer gegeben, Gewalt folgte der Hassrede auch stets auf dem Fuß. Und doch ist heute alles anders. Warum es anders und doch vieles nicht neu ist, um das zu begreifen, dafür lohnt zunächst eine kurze Rückschau: Diesen Hass, diese Abwertung der Anderen, diese Lust am Untergang und all diese Niedergangsphantasien mit ihrer verklärende Rückwärtsgewandtheit – das ist alles schon mal dagewesen.

Gerade in unserer Geschichte hatte das „Gerücht über die Juden“ (2), (die Juden als Konstante und Repräsentanz des ewig Anderen in der christlich-abendländischen Kulturgeschichte), der Antisemitismus und schließlich seine rassebiologische Verpseudowissenschaftlichung das größte Menschheitsverbrechen hervorgebracht. Nach diesem Zivilisationsbruch war nicht mehr alles sagbar. Antisemiten waren nicht mehr stolz auf ihren Antisemitismus, Sie wollten nun auf einmal nur – und trotz ihrer betont angeblich großen Zahl jüdischer Freundinnen und Freunde und ihrer als Monstranz vorneweg getragenen demokratischen Aufgeklärtheit – „mal etwas sagen dürfen“.

Das Ressentiment kam dreimal demokratisch verpackt und verwickelt daher. Es suchte seine Verkleidung zunächst im sekundären und immer mehr im antiisraelischen Antisemitismus. Auf eine merkwürdige Weise war die Menschenfeindlichkeit in Deutschland in die Ecken, in den Hintergrund gedrängt. Sie war damit alles andere als weg. Aber sie war in der Defensive, gefährlich und giftig wie ein Skorpion unter dem Stein, aber kein reißendes Raubtier in freier Wildbahn. Und das war lange Zeit irgendwie auch besser so, wenn auch nicht gut. Mir war damit wohler. Aber unsere Kämpfe um gleiche Würde und gleiche Rechte waren dadurch nicht einfacher, womöglich zäher. Erst 29 Jahre nach Ende des Krieges ging mit der großkoalitionären Reform des Strafgesetzbuches das III. Reich auch für Homosexuelle zu Ende (3) .

Das Tabu war damit noch lange nicht überwunden. Lange Zeit war der wichtigste Gegner der homosexuellen Menschen beim Kampf um die Beseitigung der strafrechtlichen Kategorie der Homosexualität und für gleiche Rechte das Schweigen einer repressiven Ignoranz. Dies sollte mit einem Schlag mit dem „Spiegel“-Titel über die tödliche Seuche vorbei sein. Die Homosexuellen-Seuche „AIDS“, eine tödliche Abwehrschwäche, hat Europa erreicht,“ schrieb 1983 der „Spiegel“ (4). Die Firniss der Zivilisation erwies sich als dünn. Sie blätterte ab.

Zum Vorschein kamen das totalitäre Vokabular aus vergangen geglaubten Zeiten: Lager, Internierung, Tätowierung waren die Stichworte, die Forderung nach dem „Ausdünnen von Randgruppen“ wurde in München laut, ganz als seien Menschen Unkraut, das man ausjäten könnte. Als junger Mann irritierte mich diese Sprache mindestens genauso sehr wie mich das Aufkommen des HIV-Virus und die damit verbundene Infragestellung unserer sexuellen Freiheiten zunächst verunsicherte.

Das Ende der relativen Toleranz schien denkbar, es wurde von einflussreichen Politikern in die Debatte gebracht. Für mich war klar, unser Status als tolerierte Randgruppe hatte keine Zukunft. Entweder wir sichern unsere Freiheit in der Perspektive der Gleichheit der Verschiedenen ab oder auch unsere nur relativen Freiheiten am Rande der Gesellschaft sind in Gefahr. Mich brachte das vor 30 Jahren ganz unbeabsichtigt in die Bundespolitik.

Und für Schwule und Lesben ging die Kombination aus Selbstorganisation, Kampf um Rechtspositionen, Einfordern der verfassungsrechtlichen Verheißungen und Garantien von Würde, Freiheit und Gleichheit in den Arenen des Parlamentes, der Gerichtssäle, auf der Straße und in Talkshows auf. Der 30.6. dieses Jahres war gleichsam Höhepunkt eines Kampfes für Gleichheit, dessen Meilensteine die Streichung des § 175 StGB, das Lebenspartnerschaftsgesetz, das AGG (5) und die Rehabilitierung der 175-er (6) waren.

So erfolgreich es uns gelang unseren Kampf um Akzeptanz in die strukturelle Prävention (7) einer rationalen Gesundheitspolitik einzuflechten, so unzureichend ist dies bei Drogengebraucher*innen und Prostituierten gelungen. Etwas harmreduction, Methadon-Abgabe, Entkriminalisierung des Spritzenvertriebes, beschränktem mit unsinnig hohen Hürden versehende Originalstoffsubstitution mit Diamorphin. Aber ein nicht-stigmatisierender rationaler Diskurs über Rausch, Gesundheitsgefahren, Abhängigkeitspotentiale von legalen wie illegalen Drogen wurde nicht erreicht. Wer auch nur im Verdacht des Besitzes oder Konsums von Drogen steht, wird als „Junkie“ und „süchtig“ diffamiert. – Es sei denn, es sei denn, es war Komasaufen im Bierzelt. Eine vernünftige Suchtprävention lässt sich so nur schwer machen. Auch die Zugänglichkeit von Unterstützung und Stabilisierung für Menschen mit einem Abhängigkeitsproblem wird dadurch aus ideologischen Gründen tatsächlich erschwert.

So tabuisiert der selbstbestimmte Rausch mit illegalen Drogen ist, so verdrängt sind die auch bei legalen Drogen bestehenden Gesundheits- und Abhängigkeitsgefahren. (8) Bei der Prostitution wurde zwar die Sittenwidrigkeit (9) 2001 überwunden, aber statt die Menschen in der Prostitution sozial- und arbeitsrechtlich und wo nötig auch aufenthaltsrechtlich zu stärken, ihnen Alternativen durch Qualifikation und Arbeitsmöglichkeiten anzubieten, ihre Befähigung sich gegen Ausbeutung zu wehren, zu fördern, ist das alte Polizei- und Ordnungsrecht mit dem „Gesetz zur Regulierung des Prostitutionsgewerbes“ (10) wieder zurück. Wer Armutsprostitution und Ausbeutung zu recht beklagt, aber nicht über Wege aus der Armut und das Empowerment der Betroffenen redet, will das Elend nur nicht sehen, nicht vor der eigenen Haustür haben, beseitigen will er es in Wirklichkeit nicht. Nein, es war früher nicht alles gut. 1991 kam hier in Frankfurt das LKA zu mir, weil ein Schwulenverbandssprecher besser keine öffentlich bekannte Anschrift hat: Postfach statt Namens-Coming-out am Klingelschild war der Rat. Irgendwann zwischen 1994 und Regierungsumzug hatte ich meine erste scharfe Pistolenkugel in der Bürger-Hass-Post. Sie wissen diese auf Reiseschreibmaschine eng betippten Seiten, mit Farbstift vieles unterstrichen, weil alles wichtig war und herausgeschrieen werden musste – und das Ganze verziert, gern mal mit Hakenkreuz und ähnlichen Widerlichkeiten. Nein, es war auch früher nicht einfach. Aber: Zumindest wir Schwulen und Lesben waren in den letzten Jahren relativ erfolgreich. Und wenn wir ehrlich sind, nicht nur wir: AGG, Staatsbürgerschaftsgesetz, Zuwanderungsgesetz 2004 – unsere Rechtsordnung ist gleichheitsfreundlicher, der Mainstream unserer Gesellschaft ist liberaler, toleranter und akzeptierender geworden. 

Auch wenn wir unter der Merkel-Gabriel-Regierung die tiefsten Einschnitte im Asylrecht seit 1993 erlebt haben. – Wir hatten und haben die Hegemonie. Aber: Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit vor dem Gesetz müssen weiter offensiv durchbuchstabiert werden.

Erfolge wurden erkämpft: wie die Ehe für alle. Und wir haben sie erkämpft, weil die Mehrheit davon überzeugt werden konnte, was diese Werte angewandt auf die rechtliche Situation unserer Minderheit bedeuten. Dies muss uns für Trans* bei der Überwindung des Transsexuellengesetzes (11) erst noch gelingen.

Die Gleichheit der Verschiedenen vor dem Gesetz ist noch nicht die gesellschaftliche Akzeptanz der Verschiedenheit. Sie ist aber Bedingung damit Verschiedenheit und gesellschaftliche Freiheit angstfreier lebbar ist. Gegen diese, unsere Hegemonie, wendet sich eine Welle des Hasses, der Herabwürdigung der anderen, Verschwörungstheorien. Politisch stehen dafür Trump, Le Pen, AfD, Pegida; besorgte Eltern.

Die Sprachgewalt von Fake News, Social Bots, Hate Speech, toxischen Narrativen machen auch viele von uns rat- und sprachlos, weil Verheißungen nicht eintrafen. Hatte man uns nicht mit der Digitalisierung das Informationszeitalter und die Bildungsrepublik versprochen? Stattdessen schrumpfen seriöse Medien, Fakten und Analyse treten gegen Meinungsmache und Falschnachrichten in den Hintergrund. Ein Zeitalter der Desinformation scheint angebrochen. Roger Cohen stellte dazu richtig fest: Große Lügen produzieren große Ängste, die große Gewinne für starke Männer abwerfen.(12)

Globalisierung, Digitalisierung, der Zusammenbruch der alten Weltordnung vor einem Vierteljahrhundert und die Folgen des Klimawandels haben begonnen, die Verhältnisse umzustürzen, und wir haben noch nicht hinreichend verstanden, wo das alles hinführt und worin die Determinanten dieser Entwicklung bestehen. Soziale und kulturelle Fragen amalgamisieren sich. Die aktuelle Situation ist bestimmt von einem Aufbegehren gegen den liberalen Mainstream, den Kommunikationsbedingungen der Digitalisierung, die sich mit dem Web 2.0 dramatisch verändert haben, verbunden mit einer nicht hinreichend bearbeiteten sozialen Frage. Der Soziologe Reckwitz (13) hat eine neue Klassenanalyse vorgelegt, die kulturelle Teilhabe und Dominanz neben ökonomischen Terminanten stärker bewertet. 

Neben einer sehr kleinen Oberklasse der Superreichen on top spricht er von einer Drei-Drittel-Gesellschaft

Die neue Mittelklasse steigt über die Bildungsexpansion auf. Die neue akademische Mittelklasse mit ihrem speziellen Konsum und dem Wunsch nach Lebensqualität macht ein Drittel der Gesellschaft aus. Die Mitglieder der neuen Mittelschicht haben ähnliche Werte: Kosmopolitismus, Selbstentfaltung, Meritokratie, also Leistungsgerechtigkeit… Das ist die kulturell tonangebende Gruppe.Dann gibt es die unsicher gewordenen alten Mittelschichten. Sie sind etabliert, ökonomisch abgesichert, aber sie fühlen sich kulturell wie sozial verunsichert in einer rasant sich verändernden Welt. Darunter lässt sich auch die Ursprungsgeneration der AfD subsummieren.Und dann gibt es in der Tat die von Abstieg und auch von soziokultureller Missachtung bedrohten prekären Schichten. (14

 

Die Toxischen Narrative der Rechten (15) versuchen, an der Bewusstseinslage dieser letzteren zwei Drittel anzuknüpfen. Sie artikulieren irrationale Ängste und zuweilen auch reale Problemlagen. Diese Gefahr gilt es zu erkennen und ihr entgegenzutreten. Die Sprache der Rechten ist gewalttätig, sie schaffen ein Wir und Die, die Anderen, diese sperren sie in Bilder des Anderen ein und richten sie als „unscharfe Kollektive als Adressaten des Hasses“ (16) zurecht: die Fremden, vor allem die Muslime, Flüchtlinge und Migranten, aber auch gelegentlich Schwule, Juden und Feminstinnen. „Der Hass richtet sich das Objekt des Hasses zurecht. Es wird passgenau gemacht.“ (17) Sprachgewalt ist laut Duden “souveräne und wirkungsvolle Beherrschung der sprachlichen Ausdrucksmittel” (18) . „Im Anfang war das Wort.“ (19) Mit Sprache erschaffen wir die Welt, wir beschreiben sie, wir begreifen sie mit unseren Worten und nehmen uns und andere durch sie wahr und bestimmen unser Verhältnis zur Welt. Wir bestimmen mit Sprache unseren Platz in der Gesellschaft, wir bilden unsere Identität, auch und gerade da, wo wir uns von anderen unterscheiden.

Und Gott sprach: Es werde Licht! und es ward Licht. Und Gott sah, daß das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.“ (20) Heißt es im ersten Buch der Thora. Aber wie wir das Licht von der Finsternis unterscheiden, wie wir mit den Unterschieden umgehen und welche Bedeutung wir den Unterschieden zumessen, darum geht die Auseinandersetzung. „So wie Achtung das Erkennen des Anderen voraussetzen, so setzen Missachtung und Hass auf das Verkennen des Anderen voraus.“ (21)

„Gehasst wird aufwärts oder abwärts, in jedem Fall in einer vertikalen Blickachse, gegen »die da oben« oder »die da unten«, immer ist es das kategorial »Andere«, das das »Eigene« unterdrückt oder bedroht, das »Andere« wird als vermeintlich gefährliche Macht oder als vermeintlich minderwertiges Ding phantasiert – und so wird die spätere Misshandlung oder Vernichtung nicht bloß als entschuldbare , sondern als notwendige Maßnahme aufgewertet. Der Andere ist der, den man straflos denunzieren oder missachten, verletzen oder töten kann.“ (22)

Die vertikale Blickachse, das postulierte kategorial Andere, schafft aber auch Identität, ein Wir gegen Die. Eine virtuelle Behausung in der sich rasch verändernden Welt. Gleichberechtigung der Anderen verschiebt Blickachse, bedroht die durch den Hass erst geschaffene Behausung. Das erklärt vielleicht den Furor am rechten Rand, der sich gegen Frauen mit Kopftuch im Schuldienst und die gleichgeschlechtliche Ehe auf dem Standesamt wendet. Es nimmt ihnen ja nichts, außer eben die vertikale Achse. Wer oder was dieses Wir ist, weiß man nicht zu sagen. Das zeigen alle Debatten um die „deutsche Leitkultur“, von dem dann oft neben den selbstverständlichen Werten unserer Verfassung nicht viel mehr als Banalitäten wie das Händeschütteln übrig bleiben (23) . Das zeigt sich auch bei Pegida: „Sie verteidigen religiöse Werte, an die sie selbst nicht glauben, gegen Menschen, die es bei ihnen nicht gibt, von denen aber in Medien berichtet wird, die sie wiederum für Lügner halten. Irre.“ (24) Dies ist die Schwachstelle, der neuralgische Punkt aller rechter Ideologie: Auch wenn nicht deutlich ist, was genau die »deutsche Kultur« bzw. die »deutsche Identität«, das Eigene ausmacht, so sei genau das doch durch Volksaustausch, Umvolkung, durch Islamisierung und Verschwulung mit Gender-Gaga und Unisextoiletten, die es übrigens in jedem Zug der Deutschen Bahn gibt, bedroht. 

Konkret sind dies z.B. Erzählungen darüber, dass in Kindergärten kein Weihnachten mehr gefeiert werden dürfe oder der Weihnachtsmarkt in Wintermarkt umbenannt werden müsse oder Kinder im Kindergarten Bordell spielen lernen. Durch solche Erzählungen wird Toleranz negativ überspitzt und als nachteilig für die eigene Identität inszeniert.

Minderheiten terrorisieren die Mehrheit. Dass sie dieses unsinnigerweise angeblich können, zeigt, dass es nicht mit rechten Dingen zugeht. Dafür müssen also obskure Mächte dahinterstecken, wahlweise die „EUdSSR“, Soros oder die USA mit geheimen Plänen.

Der eigene Willen der politischen Minderheit der Rechten wird als „Volkswille“ gegen die gewählten Vertreter des Volkes phantasiert. Der Ruf nach Demokratie der DDR-Bürgerbewegung gegen gefälschte und unfreie Wahlen der DDR „Wir sind das Volk“ wird gekapert und in sein Gegenteil verkehrt. Die konstruierte Volkshomogenität wird zur Bedrohung aller Minderheiten, die dieser Homogenität nicht entsprechen. Diese phantasierte Homogenität ist das trotzige Nein gegen die Veränderungen in der Welt. Aber: „Wir können Helene Fischer hören, so viel wir wollen: Wir bekommen die alte Welt nicht wieder. Dauernd entdecken wir neue Dinge, vor denen wir Angst haben. Wir müssen lernen, dass Hass nicht hilft.“ (25)

Aber was ist unsere Antwort darauf? Haltung, Dekonstruktion dieser Mythen, Selbstbewußstein (87,4 % der Wähler haben diesen Perspektiven eine Absage erteilt), Kontextualisierung und Differenzierung, wo sie mit Pauschalisierung, Fake und Dekontextualisierung ihre Hassobjekte zurecht schleifen.

Die Rechten zielen auf eine diskursive Hegemonie. Sie setzen auf eine Polarisierung der Gesellschaft. Deshalb ist entscheidend, dass der demokratische Diskurs nicht in ihrem Drehbuch spielt. Wo wir nur reflexhaft auf ihre Provokationen reagieren, verführt durch die Belohnung der Likes und Shares der eigenen Resonanzräume, oder Demokraten sie versuchen durch Übernahme ihrer Perspektive zu kopieren, spielen wir in ihrem Theaterstück. Da dürfen wir nicht mitspielen. Das gelingt nicht immer. Wir müssen jeden Tag einfach wieder neu anfangen.

Wir müssen uns darauf konzentrieren, worum es uns und einer liberalen, grundrechtsorientieren Demokratie gehen muss. 

Es geht um Diversität, das Recht ohne Angst, Nachteile und Diskriminierung verschieden sein zu können. Das ist was unsere Verfassung mit der Menschenwürde aller, Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz als liberale Grundprinzipien unserer Verfassung beschreibt. Es ist schön, wenn in einer Gesellschaft ihre Mitglieder sich gegenseitig angesichts ihrer Unterschiede mit Wohlwollen betrachten. Verlangen kann man das aber nicht. Ob man gesellschaftliche Vielfalt als Bereicherung oder Zumutung wahrnimmt, das ist eigentlich nicht der Punkt. Es geht um Recht und Respekt vor der freien Entfaltung des Anderen.

Der große Rabbiner Leo Baeck sagte das treffend in seinem Buch „Das Wesen des Judentums“: „Nicht nur um uns handelt es sich, wo es sich um uns handelt. … Wir verlangen nicht, dass man uns ehre, sondern nur, dass man das Recht und die Wahrheit ehre.“ (26)

Dass Grundgesetz lässt grundsätzlich zu, dass die Formen guten Lebens nicht gesetzlich oder politisch vorgeschrieben sind. Darum geht es auch in der Diskussion über die sogenannte Leitkultur. Leitkultur, wenn es so etwas überhaupt gibt und wenn es Geltung für alle beanspruchen kann, steht als Regelwerk im Grundgesetz. Da steht aber nicht, welche Kleidungsstücke man tragen soll oder nicht oder dass Männer und Frauen sich die Hand geben müssen. Das können sie. Das dürfen sie. Das sind liebgewonnene Konventionen.

Die Neue Rechte versucht, gewachsene Traditionen zu Konventionen gleichsam mit dem Nimbus des unveränderlich, ewig Gültigen und auf jeden Fall zu Bewahrenden zu verbinden und umzudeuten. (27)

Demokrat*innen müssen ihre Politik auch zuweilen anders begründen und besser erklären (28) .Deutschland hat aus europäischer Verantwortung und im Geiste der Genfer Flüchtlingskonvention 2015 eine beachtliche Zahl von Flüchtlingen aufgenommen. Der Schutz des Grundrechts auf Asyl ist Ausfluss der Menschenwürde von Verfolgten. Die Genfer Flüchtlingskonvention konkretisiert die Menschenrechte der Flüchtlinge auf internationaler Ebene. Die Aufnahme der Flüchtlinge ist aus dieser humanitären Verpflichtung heraus zu begründen. Ob man die Herausforderungen und Aufgaben, die daraus für unsere Gesellschaft erwachsen, als bereichernd und gewinnbringend oder als belastend oder anstrengend wahrnimmt, darüber muss man gesellschaftlich keinen Konsens herbeiführen. Menschenrechtlich ist sie eine Verpflichtung, wollen wir unserem Selbstbild einer humanitären, demokratischen und freien Gesellschaft und unserer Verfassung gerecht werden. Dann soll man dieses auch so begründen und nicht Bereicherungsgewinnen locken.Politische Entscheidungen sind nicht alternativlos, sonst wären es ja auch keine Entscheidungen. Bestimmte Entscheidungen sind manchmal notwendig oder besser sie werden als notwendig von den Entscheidern erkannt oder behauptet. Es wäre besser die €-Rettung wäre von ihren Befürwortern, der Kanzlerin vorneweg, mit dem drohenden finanzpolitischen Kladderadatsch und den Wirkungen eines Auseinanderbrechens des €-Raumes, den schlechten Alternativen zur eigenen Entscheidung, begründet worden.Probleme, die es gibt, darf man nicht deshalb beschweigen, weil sie von den Rechten für ihre Pauschalisierungen und Diffamierungen genutzt werden. Dies gilt ganz besonders für die Religionspolitik. (29)* Die freie Religionsausübung der Muslime, einschließlich der Befolgung ihrer Kleidungs- und Speisevorschriften, ist ohne Abstriche zu verteidigen. Die Grundrechtswahrnehmung findet nur da eine Grenze, wo sie mit den Grundrechten anderer kollidiert.* Von der politisierten Verfasstheit islamischer Verbände in Deutschland muss und darf man deshalb aber nicht absehen. Hier muss die Politik die Einhaltung der Regeln unseres Religionsverfassungsrechtes zur Grundlage jeder Kooperation machen. (30)* Die gesellschaftliche Debatte über Geschlechter- Sexualitäts- und Freiheitsbegriffe und –Bilder muss auch mit den unterschiedlichen islamischen Gemeinschaften geführt und gesucht werden, genauso wie viele uns hier dies mit den Kirchen gemacht haben. 

Und Politik muss wieder soziale Sicherheit und die Bekämpfung der Armut in den Blick nehmen. Wenn die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht, die Auflösung herkömmlicher Sicherungsmechanismen Abstieg und Abstiegsängste zur Folge hat, muss Politik das als Gestaltungsaufgabe begreifen. „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“ Das ist Verfassungsauftrag der Politik und nicht ein netter Programmsatz für Sonntagreden.

Der Kompass für all dies ist unsere Verfassung.

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechte geboren, so postuliert es die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Und do werden wir es nicht müde werden einzufordern, das gilt für

Menschen mit und ohne HIV,für Bankvorstände und Arbeitslose,das gilt für CIS und Trans,für Lesben, Schwule, Bi- und Heterosexuelle,für alle Geschlechter,für Menschen aus Deutschland und aus dem Ausland,für Gläubige und Atheisten. 

Dafür werden wir mit Selbstbewusstsein, Leidenschaft und Standhaftigkeit fröhlich und voller Optimismus kämpfen und eintreten. Nein, unser Land bekommt Ihr nicht zurück. (31)

Unsere Würde, unsere Freiheit, unseren Anspruch auf Gleichheit vor dem Gesetz und die aller Anderen werden wir verteidigen. Wir wissen, was wir zu verlieren und was wir noch zu erkämpfen haben.

 

 

1 Prediger 1,9. In der Lutherbibel wird Kohelet (Hebräisch für (Ver)sammler))/Ekklesiastes mit Prediger Salomo übersetzt.2 Adorno definiert Antisemitismus als das „Gerücht über die Juden“. Theodor W. Adorno: Minima Moralia, Frankfurt a.M. 2001 (1951) S.200. Zit.n. Tobias Jaecker: Antisemitische Verschwörungstheorien nach dem 11. September. Neue Varianten eines alten Deutungsmusters. 2. Auflage. Münster, 2005. S.10. 3 So formulierte Schoeps die Situation der Homosexuellen bis 1969: Hans-Joachim Schoeps: Soll Homosexualität strafbar bleiben? In: Der Monat 15 1962, H 171, S.22. Zit.n. Günter Grau: Die Verfolgung der Homosexualität im Nationalsozialismus. In: Michael Schwartz (Hrsg.): Homosexuelle im Nationalsozialismus. Oldenburg, 2014, S. 484 Der Spiegel: AIDS: „Eine Epidemie, die erst beginnt“. 23/1983. S.1445 AGG = Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz.6 Diese geschah zögerlich und in 2 Etappen: 1999 für die Zeit des Nationalsozialismus und 2017 für die Nachkriegszeit: 1. Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege vom 25. August 1998, das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 24. September 2009 geändert worden ist. 2. Gesetz zur strafrechtlichen Rehabilitierung der nach dem 8. Mai 1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilten Personen(StrRehaHomG).7 Geprägt von Hans-Peter Hausschild; Vgl. Jochen Drewes, Holger Sweers (Hg.): „Strukturelle Prävention und Gesundheitsförderung im Kontext von HIV“. AIDSForum DAH Bd. 57. Berlin, 2010.8 Eher lässt diese Gesellschaft die Abgabe von Gift zur Tötung von Menschen zu, die zu sterben wünschen, als dass sie selbstbestimmt Menschen den Rausch einschließlich einer möglichen Selbstschädigung gestattet. Vgl. Bundesverwaltungsgericht: Zugang zu einem Betäubungsmittel, das einen schmerzlose Selbsttötung ermöglicht, darf in extremen Ausnahmesituationen nicht verwehrt werden. Urteil vom 02.03.2017, BVerwG 3 C 19.15. 9 Mit dem „Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten – ProstG“ wurden Verträge über sexuelle Dienstleistungen ab 2002 nicht mehr als sittenwidrig bewertet, der Ausschluss von Prostituierten aus der Krankenversicherung beendet und das Schaffen eines angemessenen Arbeitsumfeldes entkriminalisiert. Ziel war, dass sich Prostituierte regulär in den gesetzlichen Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherungen versichern können und Arbeitsverträge möglich sind. Letzteres entfaltete keine relevante tatsächliche Rechtswirkung.10 Das „Gesetz zur Regulierung des Prostitutionsgewerbes sowie zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen“ von 2017 packt die Regulierung der Prostitution mit Anmeldepflicht, Zwangsberatung und Auflagen für Kleinstbetriebe wieder vor allem auf die Schultern der Prostituierten.11 Vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 18/12179. Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN: Entwurf eines Gesetzes zur Anerkennung der selbst bestimmten Geschlechtsidentität und zur Änderung anderer Gesetze.(Selbstbestimmungsgesetz ? SelbstBestG) 12 Roger Cohen: America’s Bountiful Churn. New York Times. 31.12.2015. 13 Reckwitz, Andreas: Die alte und neue Mittelschicht. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 22.10. 2017; Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin, 2017.14 Hier folge ich einer Zusammenfassung von Micha Brumlik. In: Zentrum Liberale Moderne: Altbackene Deutschtümelei und antiliberale Revolte: Die Wiederkehr der Neuen Rechten. Berlin, 14.11.2017 15 Vgl. Amadeu Antonio Stiftung: Toxische Narrative. Monitoring rechts-alternativer Akteure. Berlin, 2017.16 + 17 Carolin Emcke: Gegen den Hass. Frankfurt am Main, 2016, S. 12.18 Online-Ausgabe des Duden. Unter „Sprachgewalt19 Evangelium nach Johannes 1:120 1. Mose 1:3-5. 21 + 22 Emcke. ib, S. 60f.; S. 12.23 „Wir sagen unseren Namen. Wir geben uns zur Begrüßung die Hand.“ so bei: Thomas de Mazière: Leitkultur für Deutschland – Was ist das eigentlich? Berlin, 1.5.2017.24 NDR: extra3: Christian Ehring zu Pegida und zur AfD. Hamburg, 22.01.2015 25 Sibylle Berg: Fragen Sie Frau Sibyllle. Hass ist das Letzte, was jetzt hilft. Spiegel online, 23.4.201626 Leo Baeck: Das Wesen des Judentums. Berlin, 1905. Zitiert nach Sonderausgabe, 3. Auflage. Wiesbaden, 1985, S. 311. 27 Vgl. Brumlik, ib.28 Vgl. a. Volker Beck: »Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?« In: Kirche im »christlichen Abendland …« Positionierung im Spannungsfeld von neo-konservativen Tendenzen und gesellschaftspolitischem Engagement, epd Dokumentation 41/2016, Frankfurt am Main, 2016, S. 6-12.29 Volker Beck: Islampolitik braucht das Grundgesetz. Krise als Chance – Die deutsche Islampolitik braucht einen Neustart. In: Causa Tagesspiegel, 14.6.2017.30 hierzu: Beck Volker/ Özdemir, Cem: Den Islam und andere Religionen der Einwanderer ins deutsche Religionsverfassungsrecht integrieren: gleiche Rechte für Muslime, Aleviten und Jeziden! In: Kirche & Recht. Zeitschrift für die kirchliche und staatliche Praxis. – 21 (2015), S. 129 – 14131 Am Wahlabend sagte der AfD-Politiker Gauland: „Wir werden uns unser Land und unser Volk zurückholen“ zitn.: Berliner Zeitung: Drittstärkste Kraft. AfD jubelt – Gauland: „Werden unser Land zurückholen“ 24.9.2017.

Weiterlesen

2017-11-23-zfps

Bornhagen Ein Denkmal zur Debatte gestellt

Das „Zentrum für politische Schönheit“ baut Stelen, die aussehen wie die Stelen des Holocaust-Mahnmals in Berlin, auf einem Grundstück neben…

Von|
45014614315_e7188f5c03_o

Kommentar zu Extinction Rebellion Ein bisschen rassistisch und sexistisch ist schon ok?

Die soziale und ökologische Grasswurzelbewegung Extinction Rebellion ist der breiten Öffentlichkeit noch weitgehend unbekannt. Nach einem ZEIT Interview soll sich das nun ändern. Schade nur, dass der Mitbegründer die Bewegung nun auch für Menschen die ein „bisschen sexistisch oder rassistisch denken“ öffnet. Ein Kommentar.

Von|
Eine Plattform der