Weiter zum Inhalt Skip to table of contents

Stadt der Vielfalt? Neue Broschüre über Rassismus, soziale Ausgrenzung und Nazigewalt in Erfurt

Von|
Cover der Broschüre "Stadt der Vielfalt?" (Quelle: edition assemblage)

Es gibt Menschen, die in einer Gesellschaft wenig Aufmerksamkeit erfahren. Es gibt Menschen, die Diskriminierung erleben, weil sie anders leben möchten als die breite Mehrheit. Es gibt Menschen, die auf der Flucht vor Leid und Krieg, auf der Suche nach einem besseren und sicheren Leben für sich und ihre Familien sind und in einer Überflussgesellschaft wie in Deutschland erneut Ausgrenzung erfahren müssen. Das „Bildungskollektiv Biko“ hat diesen Menschen in der Broschüre „Stadt der Vielfalt“ eine Stimme gegeben und zeigt anhand persönlicher Erfahrungsberichte, wie es um die „Vielfalt“ in Erfurt bestellt ist. Sie zeigt aber auch, dass Diskriminierung, Gewalt und Ausgrenzung nicht nur in Erfurt vorhanden sind, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem darstellen.     

„Ihr gehört abgeschafft“

Beate und Alex leben in Erfurt. Sie sind zwischen 25 und 35 Jahre alt. Weil sie Punks sind, werden sie immer wieder Zielscheibe von Beleidigungen und Gewalt. „Mittlerweile ist so was halt Alltag für mich. Ich bin da gar nicht mehr überrascht“, sagt Alex. „Dreckige Zeckenschweine“ werden Beate und Alex von den Neonazis genannt. Der öffentliche Personennahverkehr ist ein besonders beliebtes Ziel für gewalttätige Übergriffe. Dort wurden Beate und Alex mehr als einmal angepöbelt und anschließend verprügelt. „Ich leide seit der Sache neulich nachts ein bisschen an Verfolgungswahn“, erzählt Beate. „Bahn fahre ich gar nicht mehr. Ich fühle mich unwohl, wenn ich so Leuten begegne und würde am liebsten die Straßenseite wechseln, aber dafür bin ich zu stolz.“ Selbst vor Übergriffen seitens der Polizei sind die beiden Punks nicht sicher. Nach einem Konzertbesuch wurden die beiden, in Begleitung mehrerer Freunde, von Polizeibeamten festgehalten. Weil einer der Freunde  Tscheche ist, fallen abwertende Kommentare wie „Kanakenpack“ und „Scheißzecken“. Ein Beamter äußerte laut Alex die Bemerkung: „Ihr gehört abgeschafft.“

„Ich bin nicht willkommen in Erfurt“    

Auch Bella hat Erfahrungen mit rassistischen Äußerungen durch Polizeibeamtinnen und beamte gemacht. Bella ist Asylsuchende aus Afrika. Sie wohnt in Waltershausen, einem kleinen Ort bei Erfurt. Mehr als einmal wurde sie von Polizeibeamten ohne ersichtlichen Grund nach ihren Daten gefragt. Reine Schikane, wie Bella meint. „Wenn Polizeibeamtinnen oder Beamte offen rassistisch agieren, sehen Nazis sich bestätigt. Sie denken, sie haben das Recht uns zu diskriminieren, weil selbst ein Polizist es so sieht“, beurteilt Bella die Situation. Wenn man schwarz ist, nicht in Deutschland oder Europa geboren ist, wird man hier ohne Respekt behandelt, schließt sie daraus. Bella fühlt sich „nicht willkommen in Erfurt“.

Vielfältig sind in Erfurt nur die Nazis“

Das Resümee von Peter Gisbert fällt bezüglich Erfurts propagierter „Weltoffenheit“ und „Toleranz“ dann auch klar negativ aus. Gisbert lebt und arbeitet in Erfurt und ist dort seit über zehn Jahren in verschiedenen außerparlamentarischen linken und alternativen Gruppen aktiv. Gisbert weist darauf hin, dass seit Dezember 2011 „mindestens 69 rechte Aktivitäten“ bekannt geworden sind. Davon handelte es sich um 27 Übergriffe und 27 öffentliche Aktionen. Rechte Aktivitäten sind in Erfurt keine Einzelfälle, stellt die antifaschistische Aktion Erfurt fest. Gisbert stellt auch heraus, dass die Polizei nicht immer gegen rechte Aktivitäten ermittelt, sondern im Gegenteil ihre Energie gegen Mitglieder engagierter Vereine gegen Rechtsextremismus einsetzt, um deren Arbeit zu erschweren. Laut Gisbert wurden Student_innen dazu angehalten, rechte Parolen grölende und Hitlergruß zeigende Nazis nicht als solche zu bezeichnen, da sie dadurch provoziert werden könnten. Dass die Betroffenen von rassistischer und rechtsextremer Gewalt durch solche Aktionen zu Täter_innen gemacht werden, ist ein Vorwurf, den sich die Landespolizeiinspektion nicht zu eigen machen möchte. „Alkohol, Emotionen und weitere subjektive Faktoren sowie ein politisch aufgeladenes Klima gegenüber der Polizei könnten durchaus dazu führen, dass die rechte Karte öfter gezogen wird als es die Realität erlaubt“, so Jürgen Loyen, Leiter der Landespolizeiinspektion. „Frust“ wird statt „Ausländerfeindlichkeit und Rassismus“ oft als Motiv polizeilicher Handlungen vorgeschoben, so Gisbert. Es bleibt der Vorwurf, dass die Polizei die rechten Aktivitäten „verharmlost, leugnet und relativiert.“ Doch auch die Stadtoberen kommen nicht gut weg. Während sie jede Gelegenheit nutzen, ihre Namen und Gesichter unter dem Motto „gegen rechts ist logo“ in den Medien zu präsentieren, lassen Taten zumeist auf sich warten. Öffentlichkeitswirksame Großprojekte werden gegenüber kleineren und alternativen Projekten bevorzugt.

„Verharmlosung und Bagatellisierung entgegentreten“

Die Broschüre „Stadt der Vielfalt? Rassismus, soziale Ausgrenzung und Nazigewalt in Erfurt“ macht auf Probleme aufmerksam, die ihren Weg selten über die Medienöffentlichkeit finden, und zeigt überdies ein erschreckendes Maß an Verharmlosung und Bagatellisierung seitens der Behörden und der Polizei. Die Amadeu Antonio Stiftung greift in diesem Zusammenhang die Situation in Thüringen und Nordrhein-Westfalen auf:  „Über Jahre wurde in den beiden Ländern der Rechtsextremismus von den zuständigen Behörden kleingeredet. Die Gefährlichkeit der Täter wird negiert, Rassismus als Tatmotiv bei rechtsextremen Straftaten ausgeblendet, die prekäre Lage der Opfer zusätzlich erschwert. Trotz des Bekanntwerdens der NSU-Mordserie hat sich daran nichts geändert“, heißt es in der Broschüre:“Das Kartell der Verharmloser„. Aufmerksamkeit gegenüber staatliche Versagen und Projektförderung für linke und gesamtgesellschaftliche Projekte gegen Rechtsextremismus und Rassismus sind die Hauptforderungen, für die in dieser Broschüre Flagge gezeigt wird. Nach deren Lektüre werden hoffentlich der Begriff und das Engagement des Antifaschismus von einer breiteren Gesellschaftsschicht nicht kriminalisierend wahrgenommen, sondern als notwendiges Korrektiv für eine vielfältige und weltoffene Gesellschaft verstanden werden.          

Mehr Infos

Arbeitsgruppe Vielfalt beim Bildungskollektiv Biko
Stadt der Vielfalt? Rassismus, soziale Ausgrenzung und Nazigewalt in Erfurt
Biko-Broschur #6
Reihe Antifaschistischer Politik [RAP]
Broschur, 210×297 mm / DIN A4, Softcover, einfarbig
48 Seiten
ISBN 978-3-942885-45-4
kostenlos bei den Erfurter Initiativen
Bei Bestellungen über den Buchhandel und den Verlag: 3 Euro (Versandpauschale, Schutzgebühr)

edition assemblage

Weiterlesen

2018-01-22_170345

Zukunft Heimat befeuerte am Samstag den Hass in Cottbus

Es scheint, als wäre Cottbus momentan ein Pulverfass: Die rechten Kräfte in Cottbus können es als ihren Erfolg werten, dass der Zuzug von Flüchtlingen nun ausgesetzt wird. Doch das ist dem rechten Bündnis „Zukunft Heimat“ noch nicht genug. Sie riefen am Samstag zu einer rassistischen Demonstration – es kamen rund 1.500 Teilnehmer_innen.

Von|
Eine Plattform der