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Vertreibung der Deutschen

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Von Wolfgang Benz

Als Folge des verlorenen Zweiten Weltkrieges kam es zu einer riesigen Bevölkerungsbewegung in ost-westlicher Richtung, die mit der Flucht der Deutschen vor der Roten Armee begann und ihren Höhepunkt in der systematischen Austreibung der Deutschen aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße-Grenze und aus Ost- und Südosteuropa hatte. Im amtlichen Sprachgebrauch sind ?Vertriebene? diejenigen ?Deutschen, die ihren Wohnsitz in den z.Zt. unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten (Gebietsstand 31.12. 1937) oder im Ausland hatten und ihn durch den Zweiten Weltkrieg infolge Vertreibung verloren haben?. Und: ?Flüchtlinge aus der SBZ sind die Deutschen, die nach Kriegsende aus der sowjetischen Besatzungszone oder dem Sowjetsektor von Berlin in das Bundesgebiet einschließlich Berlin (West) gekommen sind, und ihre Kinder.? Neuerdings spricht man von ?Aussiedlern?, die aufgrund deutscher Abstammung und Zugehörigkeit zur deutschen Kultur aus der Sowjetunion, aus Polen, Rumänien usw. in die Bundesrepublik kommen.

Die Ursprünge und Ursachen dieser Bevölkerungsbewegungen liegen in der nationalsozialistischen Zeit. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges begann im Herbst 1939 in Europa eine der größten Umsiedlungs-, Emigrations- und Vertreibungswellen, die die Geschichte kennt. Ausgelöst wurde die Völkerwanderung durch die Hybris nationalsozialistischer Ideologie und Politik; es waren die Folgen jener Schlagworte, an die zu viele in Deutschland zu lange glaubten, die Phrasen vom ?Volk ohne Raum?, von der Überlegenheit der germanisch-deutschen Rasse, vom Recht des Stärkeren, das die Unterwerfung, Beherrschung, ja Vernichtung ?minderwertiger? Völker naturgesetzlich erlaube. Die erste Phase der riesigen Bevölkerungsbewegung erfasste über neun Millionen Menschen, die in einem Raum, der von Finnland im Norden, der Ukraine im Osten, Griechenland im Süden und Frankreich im Westen begrenzt war, rückgesiedelt, umgesiedelt, vertrieben, ?eingedeutscht?, ?umgevolkt? oder verschleppt wurden.

Vom Standpunkt der NS-Volkstumspolitik war diese erste Phase größtenteils positiv aufzufassen, holte sie doch Hunderttausende von Volksdeutschen ?heim ins Reich?, wo sie verfügbar wurden für die Germanisierung der polnischen Gebiete, die vom Deutschen Reich annektiert worden waren. Rund 1,2 Millionen Polen mussten ihre Heimat in den neuen ?Reichsgauen? Wartheland und Danzig-Westpreußen verlassen und in das ?Generalgouvernement? übersiedeln. Die Ziele, die sich hinter den bevölkerungspolitischen Maßnahmen verbargen, umreißt eine Denkschrift des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP vom 25. November 1939, also kurz nach der Niederlage Polens, in der die ?Schaffung einer rassisch und damit geistig-seelisch wie völkisch-politisch einheitlichen deutschen Bevölkerung? propagiert war. Der Verfasser der Denkschrift fuhr konsequent fort: ?Hieraus ergibt sich, dass alle nicht eindeutschbaren Elemente rücksichtslos beseitigt werden müssen.?

Dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches im Frühjahr 1945 folgte auf die Ostbewegung in Mittel-, Südost- und Osteuropa eine ebenso gewaltsame Westbewegung, die in ihrer Totalität gegenüber dem deutschen Bevölkerungsanteil der betroffenen Gebiete der totalen Niederlage Deutschlands entsprach. Lange vor der Potsdamer Konferenz vom Sommer 1945 stand fest, dass das Sudetenland wieder Bestandteil der Tschechoslowakei sein würde. Vom Altreichsgebiet sollten Ostpreußen, dessen nördliche Hälfte die Sowjets beanspruchten, und die östlich der Oder-Neiße-Linie liegenden Teile von Pommern, der Mark Brandenburg und Schlesien abgetrennt werden und unter polnischer Verwaltung bleiben, unter die sie die Sowjets bereits am 21. April 1945 gestellt hatten. Die Ausweisung der Deutschen aus ihrem Staatsgebiet betrieben dann aber nicht nur die Polen, sondern auch die Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien und Rumänien.

Die Vertreibung der Deutschen sollte, so hatten es die Alliierten auf ihren Kriegskonferenzen in Teheran (1943) und Jalta (1945) erörtert und in Potsdam besiegelt, innerhalb der neuen Grenzen Frieden stiften und die Minderheitenprobleme ein für allemal bereinigen, wie Churchill im britischen Unterhaus im Dezember 1944 erklärte. Für die Tschechoslowakei hatte Staatspräsident Benesch dasselbe, die restlose Austreibung der deutschen Minderheit, der 3,5 Millionen Sudetendeutschen, bereits 1941 vom Londoner Exil aus gefordert. Zu Mitleid mit den Millionen betroffenen Deutschen neigte kaum jemand, zu groß waren bei den östlichen Nachbarn Deutschlands die Leiden, die ihnen nationalsozialistischer Germanisierungswahn und deutsche Besatzungspolitik in den Jahren des Zweiten Weltkriegs zugefügt hatten. Andererseits ? das galt vor allem für die Westmächte ? hielt man es aber auch für möglich, den gigantischen Bevölkerungstransfer in einigermaßen humaner Form durchzuführen. Das war, wie die Leiden und Verluste der Flüchtlinge und Vertriebenen bewiesen, aus vielen Gründen eine irrige Annahme.

Der Alliierte Kontrollrat als Inhaber der vollziehenden Gewalt im besetzten Deutschland beschloss am 20. November 1945 die quotenmäßige Aufnahme von 3,5 Millionen Deutschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten in der sowjetischen (2 Millionen) und britischen (1,5 Millionen) Besatzungszone und von 2,5 Millionen Deutschen aus der Tschechoslowakei, 500000 aus Ungarn und 150000 aus Österreich in der sowjetischen (750000), der amerikanischen (2,25 Millionen) und der französischen (150000) Besatzungszone. Nach den Ergebnissen der Volkszählung vom 29. Oktober 1946 befanden sich in den vier Besatzungszonen über 9,5 Millionen aus ihrer Heimat vertriebene Deutsche, davon in der sowjetischen Zone 3,6 Millionen, in der britischen 3,1 Millionen, in der amerikanischen 2,7 Millionen, in Berlin 100000 und in der französischen Besatzungszone 60000. Bis zur nächsten Volkszählung vom 1. September 1950 hatte sich diese Zahl allein für das Bundesgebiet (und ohne die innerdeutschen Flüchtlinge aus der DDR) noch einmal um über zwei Millionen auf einen Anteil von 16,5 Prozent (1946: 13,1 Prozent) der Gesamtbevölkerung erhöht.

Die Probleme, die dieser Zustrom im zerstörten und von den Alliierten besetzten Rest-Deutschland schuf, schienen kaum lösbar. Die Vertriebenen erwarteten Wohnung und Arbeit, Entschädigung für erlittene Verluste und Betreuung in höchster existenzieller Not. Bis zur Gründung der Bundesrepublik oblag die Fürsorge für die Flüchtlinge in den Westzonen den Ländern. Mit der Gründung der Bundesrepublik wurde ein ?Bundesministerium für Vertriebene? eingerichtet, das zwanzig Jahre lang die sozialpolitischen Maßnahmen zur Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen koordinierte und im Rahmen des Lastenausgleichs um Entschädigung und Starthilfen bemüht war. Ende der 60er Jahre war die Integration der Opfer von Flucht und Vertreibung in die Nachkriegsgesellschaft der Bundesrepublik wie der DDR vollzogen. Dass die Eingliederung von Millionen Menschen ohne größere wirtschaftliche und politische Probleme geglückt war, darf als eines der größten Nachkriegswunder betrachtet werden.

Aus dem Buch Legenden, Lügen, Vorurteile von Wolfgang Benz (dtv 2002)

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