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Broschüre 2018 – NSU-Komplex Frauen im Umfeld des NSU

Ausschnitt aus dem Titelbild der Broschüre „Le_rstellen im NSU-Komplex: Geschlecht, Rassismus, Antisemitismus“ der Fachstelle Gender, GMF und Rechtsextremismus. (Quelle: Amadeu Antonio Stiftung)

 

Jena 1992. Zu den regelmäßigen Besuchern eines Jugendtreffs im Stadtteil Winzerla, gehören auch Jugendliche, die rechte Parolen verbreiten. Als sich einige von ihnen mit einem Sozialarbeiter über Zukunftspläne und Berufswünsche unterhalten, sagt eine 17-jährige junge Frau: »Zuerst einmal müssen die Ausländer weg.« Keiner der anwesenden Sozialarbeiter*innen reagiert darauf. Die junge Frau ist Beate Zschäpe.

Zwickau 2007. In einer Wohnung gibt es einen Wasserrohrbruch und die zur Hilfe gerufene Polizei klingelt auch in der darunterliegenden Wohnung. Susann E. öffnet die Tür. Die Beamten bitten sie einen Tag später aufs Polizeirevier. Dort macht sie widersprüchliche Angaben zu ihrer Person. Die Beamten lassen sie dennoch gehen und überprüfen ihre Angaben nicht. Susanne E. ist in Wirklichkeit Beate Zschäpe. Sie weist sich mit dem Personalausweis einer Freundin aus und wird zu der Zeit bereits seit einigen Jahren von der Polizei gesucht.

Nürnberg 2007. Die Polizei geht kurzzeitig der Tese nach, dass für die NSU-Mordserie eine rassistische Motivation in Betracht kommt und will daher eine Rasterfahndung in der rechten Szene durchführen. Die polizeilichen Ermittler*innen schließen jedoch einfach alle Frauen von der Überprüfung aus. Mit Mandy S. wird damit genau die Person nicht überprüft, die als Helferin der ersten Stunde nach dem Abtauchen von Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos gilt. Die Fahndung bleibt ergebnislos.

Drei Vorfälle die exemplarisch zeigen, dass die Rolle von Frauen im Rechtsextremismus verkannt wurde. Eine geschlechterreflektierte Perspektive hätte eine frühzeitige Intervention oder die Chance auf Aufklärung zumindest wesentlich begünstigt.

Die Fachstelle Gender, GMF und Rechtsextremismus der Amadeu Antonio Stiftung hat sich nach dem Bekanntwerden des NSU auf den Weg gemacht, das Verhältnis von Geschlecht, Rechtsextremismus und öffentlicher (Fehl-)Wahrnehmung im NSU-Komplex genauer zu untersuchen und darüber aufzuklären. Dazu verfolgen wir von Anbeginn an das NSU-Verfahren am Oberlandesgericht in München und analysieren geschlechtersensibel die dazugehörige Medienberichterstattung. Wir ordnen kritisch die erfolgreiche (Selbst-)Inszenierungen der Hauptangeklagten Beate Zschäpe und anderer Frauen im Unterstützer*innenumfeld des NSU ein und sensibilisieren für die Fehlwahrnehmung von Sicherheitsbehörden und Sozialarbeitim Umgang mit rechten Frauen. Dabei zeigten sich weitere Le_rstellen, wie z.B. die unaufgearbeitete Rolle von Antisemitismus bei der Radikalisierung der NSU-Mitglieder oder dass sich ein Gender-Bias und struktureller Rassismus in Sicherheitsbehörden, Medienberichterstattung und Gesellschaft wechselseitig bedingen können.

Neben der Hauptangeklagten Beate Zschäpe spielten weitere Frauen im Umfeld des NSU wichtige Rollen. Im Folgenden werden vier dieser Frauen kurz vorgestellt:

 

Corryna G.

Corryna G. war Mitglied der rechtsextremen Freiheitlich Deutschen Arbeiterpartei (FAP), die 1995 verboten wurde. Sie soll u.a. Kontakte zu unterschiedlichen »Blood and Honour«-Sektionen in Deutschland und Österreich gehabt haben, was sie bestreitet. 1997 taucht sie auf einer Liste zu »Rechtsextremistischen Gewalttätern« des Landeskriminalamts Türingen auf. Auf der Liste sind zahlreiche Männer aus dem NSU und dessen Umfeld dokumentiert. Neben Beate Zschäpe ist Corryna G. als einzige weitere Frau gelistet. Im Herbst 2017 wurde sie vor dem NSU-Untersuchungsausschuss in Hessen vernommen, um über die Kontakte zwischen der nordhessischen Neonazi-Szene und dem Türinger Heimatschutz zu berichten. Während ihrer Aussage gab sie zu, kurz vor dem Mord an Halit Yozgat am 6. April 2006 in Kassel mehrfach in seinem Internetcafé gewesen zu sein. Unterschiedliche Zeugen berichteten, sie habe Kontakt gehabt zu Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt – sie bestreitet das. Während ihrerAussage beteuerte die mehrfach Verurteilte, nur als »Freundin« ihres Ex-Lebensgefährten, dem Neonazi Dirk W., aktiv gewesen zu sein. Der hessische Verfassungsschutz führte eine Akte über sie, die er 2009 löschte. Aus einem erhalten gebliebenen Vermerk von 2005 geht hervor: Der Verfassungsschutz schrieb ihr keine große Rolle zu, politische Aktivitäten seien hauptsächlich von ihren Partnern ausgegangen. (vgl. Hessenschau, Frankfurter Rundschau).

Susann E.

Susann E. ist die Ehefrau des Angeklagten André E. und enge Vertraute Zschäpes. Gemeinsam mit ihren Kindern besuchten sie Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt regelmäßig in der Zwickauer Frühlingsstraße, wo die drei bis zum Auffliegen des NSU 2011 wohnten. Dem Wohnumfeld wurde sie als Beates Schwester vorgestellt. Fotos und Einladungskarten, die auf einer Festplatte in den Überresten der Zwickauer Wohnung gefunden wurden, weisen auf das enge Verhältnis zwischen dem Ehepaar E. und den dreien hin. Susann E. lieh Zschäpe ihre Identität, bspw. für eine Bahncard oder die Reservierung von Urlauben. Auch als Zschäpe 2006 auf der Zwickauer Polizeiwache zum Einbruch und Wasserschaden in der Nachbarwohnung befragt wurde, gab sie sich als Susann E. aus. Als sich Zschäpe 2011 der Polizei stellte, trug sie Kleidung von Susann E. Dem sächsischen Verfassungsschutz war sie bis zum Ermittlungsverfahren nicht bekannt. Hinweise auf ihre weitere Vernetzung in der NeonaziSzenegibt ein Vorfall vom 21. April 2001: Sie soll gemeinsam mit dem Neonazi und V-Mann Ralf Marschner an einer Kneipenschlägerei in Zwickau beteiligt gewesen sein. Ihr Verfahren wurde gegen Auflage von 20 Sozialstunden eingestellt. Im NSU-Prozess selbst machte sie keine Angaben. Gegen sie und weitere Personen läuft aktuell ein Ermittlungsverfahren der Generalbundesanwaltschaft (vgl. Welt, taz)

Antje P. (heute Antje B.)

Antje P. war Gründungsmitglied von »Blood and Honour« in Sachsen und in der Szene bundesweit vernetzt. Sie organisierte Treffen, veranstaltete Konzerte und war Mitglied in der Szeneband »Auf eigene Gefahr« (AEG). Beruflich verkaufte sie im entsprechenden Versandhandel ihres damaligen Ehemanns Michael P. und im Chemnitzer »Sonnentanzladen« Musik und Szenekleidung. Sie befürwortete den bewaffneten Kampf, nahm an Schießturnieren teil und soll 1998 bei einem »Blood and Honour«-Treffen Anschläge aus dem Untergrund gefordert haben. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie die Ermittlungsbehörden bereits auf dem Schirm. Gegen sie wurden Überwachungsmaßnahmen vorgenommen, später aber nicht weiter ermittelt. Auch dem Verfassungsschutz Türingen, Sachsen und Brandenburg war Antje P. bekannt. Sie soll Kontakt zu den untergetauchten Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt gehabt und Zschäpe ihren Reisepass zur Flucht ins Ausland zur Verfügung gestellt haben. Ebenfalls wird vermutet, dass sie von der finanziellen Unterstützung der drei durch Konzerteinnahmen wusste, was sie bestreitet. Im NSU-Prozess wurde sie zwei Mal als Zeugin geladen. Sie leugnete, die drei getroffen und unterstützt zu haben, obwohl ihr ein Bild vorgelegt wurde, auf dem sie neben Mundlos und Zschäpe zu sehen war. Zusätzlich betonte sie ihre Rolle als Mutter: Sie habe sich um ihre beiden Kinder gekümmert und lediglich Angst gehabt, dass ihre Kinder mit »nichtweißen« Kindern spielen müssten, ihre Aktivität bei »Blood and Honour« sei unpolitisch gewesen. Eigenen Angaben zufolge sei sie heute aus der Szene ausgestiegen.

Mandy S.

Mandy S. zählt zu den wichtigsten und frühesten unterstützenden Personen um den NSU. Sie war bundesweit mit hochrangigen Neonazis vernetzt, machte Schießübungen in einem fränkischen Schützenverein und war u.a. in der »Blood and Honour«-nahen »Chemnitzer 88er«-Gruppe und der mittlerweile verbotenen »Fränkischen Aktionsfront« (FAF) aktiv. Nach dessen Vorbild gründete sie eine »Sächsische Aktionsfront«. Im Rahmen der 2011 verbotenen »Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige« (HNG) betreute sie inhaftierte Neonazis. Zeitweise wurde sie vom sächsischen Verfassungsschutz beobachtet. 2007 entfernten polizeiliche Ermittlungsbehörden bei einer Rasterfahndung im Raum Nürnberg alle Frauen von einer Liste des Verfassungsschutzes mit Namen von Neonazis – auch Mandy S. war darunter. Im NSU-Prozess sagte sie an mehreren Verhandlungstagen aus. Kurz nach dem Untertauchen von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe organisierte sie eineWohnung für die drei. Zudem gab sie Zschäpe ihre Krankenkassenkarte, um ihr Besuche bei Ärzt*innen zu ermöglichen. Auch für einen Tischtennisklubausweis lieh sie Zschäpe ihre Identität. Gegen sie läuft aktuell ein Ermittlungsverfahren. Nach eigenen Angaben sei sie ausgestiegen und lediglich Mitläuferin gewesen (vgl. BR)

 

 

DIE BROSCHÜRE:

 

Fachstelle Gender, GMF und Rechtsextremismus

„Le_rstellen im NSU-Komplex: Geschlecht, Rassismus, Antisemitismus“.

Hrsg.: Amadeu Antonio Stiftung

Autor*innen: Enrico Glaser, Alina Jungenheimer, Charlie Kaufhold, Anetta Kahane, Ana Lucia Pareja Barroso, Hannah Peaceman, Heike Radvon, Judith Rahner, Rachel Spicker.

Berlin 2018

 

Als PDF zum Download hier:

http://www.gender-und-rechtsextremismus.de/w/files/pdfs/fachstelle/leerstellen_internet.pdf

 

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