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Die Massenschlägerei von Montgomery Wutausbrüche und Widerstände

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Screenshot von YouTube

Der Versuch, rassistische Vorfälle in den USA zu kommentieren, gleicht in letzter Zeit der sisyphosartigen Bemühung, einen Regenschauer Tropfen für Tropfen zu protokollieren. Selbst auf die Angelegenheiten beschränkt, die visuell dokumentiert sind, ertrinkt man dabei in einer klaftertiefen Traufe voller Balgereien und Belästigungen  aus dem amerikanischen Alltag. Clips, Reels und Storys, wie die auf die sozialen Medien getrimmten Videoaufnahmen heutzutage so alle heißen, protokollieren Mikroagressionen, Mobbing und Mord auf Grund der Hautfarbe. In der Endlosschleife solch düsterer Episoden kann es schwierig sein, den Überblick zu behalten und die Bedeutung zu erkennen.

Am 5. August 2023 entbrannte in einem Staat der ehemaligen Konföderation eine heftige Auseinandersetzung, die von deutschen Medien zwar kurz beachtet, aber kaum beleuchtet wurde. In den USA dahingegen wird der Vorfall angesichts seiner möglichen historischen Bedeutung mit der Boston Tea Party verglichen. Beide Ereignisse geschahen am Hafen, wenngleich 250 Jahre und 2.000 Kilometer auseinander.

Hochwasser und historische Auseinandersetzungen

Montgomery, Alabama. Mehrere Weiße greifen den Schwarzen Damien Pickett tätlich an. Pickett ist im Dienst als Co-Kapitän des Flusskreuzers Harriott II. Das Schiff wird durch ein kleines, Pontoonboot der Weißen rechtswidrig blockiert. So ist der im Beiboot von Bord gegangene Co-Kapitän darum bemüht, den Blockierenden höflich, aber betont ins Gewissen zu reden. White Privilege kann allerdings schwerhörig sein. Ebenda am Ufer mündet der Streit in eine filmreife, furiose Massenschlägerei zwischen Weißen und Schwarzen, die zu Fuß und teils auch schwimmend herbei eilten. Konservative bzw. rechte Medien in den USA reden diesbezüglich schon von Race Riots. Gleichzeitig fasst die deutsche Presse den Zwischenfall weitgehend als „Massenschlägerei“ auf. Die weniger bedenkliche Ausdrucksweise wird wiederum eher mit unbändigen Nichtweißen assoziiert.

Fakt ist, der Tatort, der den Alabama-River direkt anraint, ist genau jene Stelle, an der im 18. und 19. Jahrhundert blühender Handel mit afrikanischen Versklavten betrieben wurde. Die Eruption der Emotionen in Montgomery 2023 zeigt, wie viel Unmut in den Beteiligten noch steckt, und zwar beiderseits.

Zum einen verkörpern die Weißen mit ihrem festgemachten, gleichsam falsch geparkten Wasserfahrzeug den besorgten Bürger, dem angeblich alles genommen wird. Ihre sture Verweigerung, den Platz zu räumen, und ihre rohe Aggressivität beinhalten eine Volkserhebung im Westentaschenformat. Dieser Akt lässt sich als eine abgewandelte Form jenes Widerstandes verstehen, der beim Sturm radikalisierter Konservativer auf das Kapitol sichtbar geworden war. Der Dreikönigstag 2021 in Washington, von dem damals frisch abgewählten Präsidenten und Populistenführer Donald Trump organisiert, setzte sich nämlich aus solchen selbsterklärten Patriot*innen zusammen, die sich verzweifelt gegen den vielbeschworenen demografischen Wandel richten.

Volles Boot, leere Versprechungen

Bei den Afroamerikaner*innen ist das Boot ebenfalls voll. Voller leerer Versprechungen. In ihren Reaktionen, ob vor Ort in Montgomery oder dank sozialer Medien und der Fernsehberichterstattung, erkennen wir den aufgestauten Frust. Denn ihnen wird auch einiges zugemutet. Aus den Diskursen über Diversity spüren sie herzlich wenig. Vielmehr, wenig Herzlichkeit. In dichter Abfolge müssen sie sich mit der systematischen Demontage der „Affirmative Action“ und der revisionistischen Umschreibung der Sklaverei in Schulbüchern herumschlagen, und währenddessen geht auch nach George Floyd die nicht verebben wollende Serie voller Tötungen von Schwarzen seitens der Polizei munter weiter.

Die Videoaufnahmen der gewaltsamen Auseinandersetzung in Montgomery sind längst viral. Dabei ist ein Faltstuhl, den ein Schwarzer auf der Landungsbrücke als Waffe einsetzte, binnen Stunden zum Symbol des Aufstands gegen den Rassismus geworden. Denn der Afroamerikaner Nathaniel Alexander hatte 1911 den Faltstuhl erfunden und diesen erfolgreich patentieren lassen. Mitglieder der Black Community weltweit feiern den Fall aufgeweckt und geradezu ausgelassen. Die Empörung mobilisiert zum Empowerment, und die Angelegenheit gewinnt tagtäglich an Momentum.

Mögliche Konsequenzen für Deutschland

Auch und gerade hierzulande in der Bundesrepublik nimmt die Schwarze Gemeinschaft, die sich nolens volens als „Diaspora“ versteht, die Ereignisse in Montgomery inspiriert zur Kenntnis. Denn die Lage ist ansonsten so düster, und zwar bereits drei Jahre nachdem man dem verführerischen Gefühl unterlag, die Gesellschaft und die Politik würden das Mantra „I can’t breathe“ gebührend zur Kenntnis nehmen. Aber wie konnte man nur so naiv sein, dem Wunschdenken Glauben zu schenken, die Bundesrepublik würde sich durch Black Lives Matter nachhaltig ändern? Es gibt hier noch keine vernünftige Aufarbeitung der NS-Verbrechen, geschweige denn, dass der betont afrofeindliche deutsche Kolonialismus und dessen Folgen gebührend thematisiert werden.

Mittlerweile eilt die AfD von einem Umfragehoch zum nächsten. Aktuell gedenkt man dem ersten Jahrestag seit der Erschießung von Mouhamed Dramé In Dortmund durch die Polizei, und derweil sammelt das Ordnungsamt mit fehlender Empathie die zu Ehren des 16-jährigen Opfers verteilten Flugblätter ein. Rassistische Übergriffe gegen Schwarzen werden wöchentlich zwischen Berlin und dem Bodensee gemeldet. In der Straßenbahn und im Supermarkt, auf der Behörde und in der Bankfiliale.

Ohne Zweifel ist das Potenzial da. Das Handgemenge von Montgomery schlägt Wellen, die überschwappen und quer durch Deutschland aufbranden können. Wäre die Leitkultur diesmal imstande, die Wut der Rassismusopfer zu verstehen? Oder nur zu verurteilen?

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