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European State of Hate Wie sich die extreme Rechte in Zeiten der Krise transnational organisiert

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Das Jahr 2020 wird uns für immer in Erinnerung bleiben als Jahr der globalen Pandemie, die uns auf der ganzen Welt in unseren Häusern einschloss, die uns zwang, unsere Gesichter hinter Masken zu verbergen – und die tragischerweise Hunderttausende von Menschen das Leben kostete. Zu Beginn des Jahres 2021 steigt die Zahl der Todesopfer weiter an, obwohl die Einführung zahlreicher Impfstoffe einen dringend benötigten Hoffnungsschimmer gibt. Doch auch wenn sich nun die  scheinbar unendliche Dunkelheit des letzten Jahres langsam zu lichten scheint, werden wir die die Auswirkungen der der Pandemie noch über Jahre hinweg spüren. Nicht zuletzt droht eine Wirtschaftskrise, die sich anschickt, die Weltwirtschaft zu erfassen. Doch es gab nicht nur schlechte Nachrichten. Im Angesicht der Tragödie sind auch Gemeinschaften näher zusammengerückt. Nachbarn und Fremde halfen sich gegenseitig helfen, und es gab überall Beispiele von Rücksichtnahme und Liebe, die Hoffnung geben.

2020 war aber auch ein Jahr der Wut. Millionen von Menschen gingen in der ganzen Welt auf die Straße, um in Sprechchören “ I can’t  breathe (Ich kann nicht atmen)“ zu skandieren, um gegen den rassistischen Mord an George Floyd zu protestieren. Die „Black Lives Matter (BLM)“-Proteste erfassten über 60 Ländern auf allen sieben Kontinenten, einschließlich der Antarktis, und brachten die Themen Rassismus und strukturelle, systematisch Diskriminierung überall auf die politische Agenda. Statuen fielen, Straßennamen wurden geändert und Debatten über Rassismus und den Umgang mit dem Erbe des Kolonialismus füllten Kommentarspalten und Fernsehbildschirme. In Europa haben die BLM-Proteste oft eine innenpolitische Wendung genommen und es ging um lokalen Rassismus wie den Tod von Adama Traoré, der ein zentrales Element der Proteste in Paris wurde. Was auf den Straßen von Minneapolis im Mai begann, entwickelte sich zu einem globalen Momentum des Protests gegen Rassismus und Ungleichwertigkeit.

Es überrascht nicht, dass die europäische extreme Rechte sowohl die globale Pandemie als auch die Black-Lives-Matter-Proteste als Chance wahrgenommen hat. Obwohl ein Großteil der europäischen Rechtsextremen die Pandemie nicht so sehr ausnutzen konnte, wie sie es gehofft hatten, wurde mit der neuen Unsicherheit des Lebens in Zeiten des Coronavirus ein neues Zeitalter der Verschwörungsideologien eingeläutet, da viele Menschen Trost in einfachen und monokausalen Erklärungen für den Zustand der Welt suchten, der für sie außer Kontrolle geraten war. Es gab riesige Anti-Lockdown-Demonstrationen mit vielen verschwörungsideologischen Momenten in ganz Europa – mit zwei zahlenmäßig erschreckenden Höhepunkten in London und Berlin.  Die langfristigen Auswirkungen sind noch schwer vorherzusagen, aber es besteht die Gefahr, dass sich mit den neuen Netzwerken von Verschwörungsgläubigen vor allem im Internet auch neue Wege der Radikalisierung für mehr Menschen auftun – und es zu einer Renaissance antisemitischem Hasses kommt, der den Verschwörungserzählunge der Szene inhärent ist.

Die Black-Lives-Matter-Demonstrationen gaben der europäischen extremen Rechten eine Gelegenheit, jede Diskussion über Rassismus in der Gesellschaft abzulehnen und damit Menschen anzusprechen, die sich ebenfalls weigern, über eigene rassistische Praxis nachzudenken. In einigen Fällen wandte sich die extreme Rechte wieder offenen, biologistischen Rassismus zu – eine Taktik, die auf lange Sicht kaum gewinnbringend sein dürfte.

Inmitten des Chaos und der Tragödie gab es aber auch wirklich gute Nachrichten. Im Oktober, nach einem mehr als fünf Jahre dauernden Prozess, wurde die Führung der griechischen Neonazi-Partei „Goldene Morgenröte“ für schuldig befunden, eine kriminelle Organisation geleitet zu haben. Im Jahr 2012 waren die Schockwellen auf dem ganzen Kontinent zu spüren gewesen, als die Partei inmitten der Turbulenzen der Finanzkrise mit 18 Abgeordneten ins griechische Parlament einzog. Doch nach dem Mord an einem Antifaschisten im Jahr 2013 begann eine strafrechtliche Untersuchung. Und obwohl viele wenig Hoffnung hatten, dass sie Effekte haben würde, hatte sie diese doch. Der Anführer der „Goldenen Morgenröte“, Nikos Michaloliakos, und sechs hochrangige Mitstreiter wurden für die Leitung einer kriminellen Organisation verurteilt. Giorgos Roupakias wurde des Mordes für schuldig befunden und fünfzehn weitere Mitglieder für die Verschwörung gegen den Staat verurteilt. Damit hat der Prozess eine der gefährlichsten Neonazi-Organisationen auf dem Kontinent einschneidend dezimiert, obwohl die Bedrohung durch rechtsextremer Gewalt in Griechenland trotzdem bleibt.

Im November gab es weitere gute Nachrichten, als Donald Trump die Präsidentschaftswahlen verlor und Joe Biden und Kamala Harris gewählt wurden – sie ist die ranghöchste weibliche gewählte Amtsträgerin in der amerikanischen Geschichte. Der Wahlausgang war auch ein großer Rückschlag für die europäischen Rechtsextremen, von denen sich einige eng mit Trump verbündet hatten, insbesondere die rechtsradikalen Regierungen in Polen und Ungarn. Doch es gibt keinen Grund, sich zurückzulehnen. Über 74 Millionen Amerikaner haben 2020 immer noch für Trump gestimmt. Sie haben für ihn gestimmt, nachdem er die Neonazis und Faschisten in Charlottesville „sehr feine Leute“ nannte; nachdem er ein Einreiseverbot für Muslim*innen verhängte; nachdem er aus dem Pariser Abkommen zum Klimawandel ausgetreten war; nachdem er islamfeindliche Videos des stellvertretenden Anführers von „Britain First“ retweetete und nachdem er die Kinder von Einwanderern aus Mexiko von ihren Eltern getrennt inhaftierte. Trump hat die Wahl verloren, aber es gibt Millionen von Menschen in Amerika und auf der ganzen der Welt, die immer noch mit ihm und seiner Politik übereinstimmen. Trumps Niederlage ist ein weiterer Beweis dafür, dass der Aufstieg der radikalen Rechten nicht unausweichlich oder unbesiegbar ist, aber in großen Teilen der Welt bewegen sich die Gesellschaften immer noch weg von liberalen, progressiven und demokratischen Werten hin in Richtung fragmentierter, gespaltener und anti-egalitärer Gesellschaften. Die Säulen der liberalen Demokratie wanken weiter.

Das Jahr ging damit zu Ende, dass Großbritannien das Versprechen des Brexit einlöste und die Europäische Union am 31. Dezember 2020 verlies. Die Ursachen für den Brexit waren komplex und keineswegs alle rechtsextrem, aber rassistische, einwanderungsfeindliche Stimmungsmache spielte eine Schlüsselrolle und hat zweifellos großen Teilen der europäischen Rechtsextremen Auftrieb gegeben.

In Großbritannien hat sich die extreme Rechte derweil mit einwanderungsfeindlicher Hetze und anti-asiatischen Rassismus neue Themen gesucht, aber in weiten Teilen Europas werden die Rechtsextremen weiterhin versuchen, mit Europa- und vor allem EU-feindlichen Argumentationen Politik zu machen.

Die internationale extreme Rechte

Es ist wichtig, von vornherein festzuhalten, dass jeder Überblick über die europäische extreme Rechte notwendigerweise nur einen groben Überblick geben kann. Dies gilt besonders im Hinblick auf Online-Rechtsextremismus. Es bleibt zwar wichtig, die Entwicklungen in traditionellen rechtsextremen Organisationen wie politische Parteien zu untersuchen, aber es gibt derzeit einen breiteren und und grundlegenderen Wandel in der extremen Rechten – sie entwickelt sich zu einer transnationalen und post-organisatorischen Bedrohung für die Demokratie in Europa. Die europäische Szene ist heute eine Mischung aus rechtsradikalen politischen Parteien, wie den Schwedendemokraten, Vox in Spanien, Lega in Italien oder der AfD in Deutschland, und einer Reihe von locker vernetzten, transnationalen rechtsextremen Bewegungen, die aus einer aus einer Vielzahl von Individuen bestehen, die kollektiv, aber nicht formell zusammenarbeiten.

Im Zeitalter des Internets haben wir die verschiedensten Bewegungen entstehen sehen, wie die muslimfeindliche „Anti-Dschihad“-Bewegung oder die interantional vernetzte „Alt-Right“-Bewegung. In diesem Bewegungen sin Organisationen involviert, aber insgesamt handeln sie post-organisatorisch, ohne also formell organisiert zu sein. Tausende von Einzelpersonen überall der ganzen Welt bieten Mikrospenden von Zeit und manchmal auch Geld, um auf gemeinsame politische Zielen hinzuarbeiten, völlig außerhalb traditioneller Organisationsstrukturen. Diese Bewegungen haben keine formelle Anführer, sondern sie haben Galionsfiguren, die oft aus dem wachsenden Kreis rechtsextremer medialer „Influencer“ erwachsen. Wer in der Nachkriegszeit in rechtsextremen Zusammenhängen aktiv werden wollte, der musste eine Partei oder eine Organisation finden, ihr beitreten und sich öffentlich bekennen. Verlangt wurden Aktivitäten wie das Verteilen von Flugblättern, das öffentliche Werben und Eintreten für die Ideologie und die Teilnahme an Demonstrationen oder Veranstaltungen. Jetzt können sich rechtsextreme Aktivist*innen bequem und aus der Sicherheit ihres eigenen Zuhauses heraus an der Politik beteiligen, indem sie YouTube-Videos ansehen, rechtsextreme Webseiten besuchen, sich in Foren vernetzen, auf Voice-Chat-Diensten wie Discord miteinander sprechen und versuchen, „Normies“ auf Mainstream-Social-Media-Plattformen wie Twitter und Facebook zu bekehren. Und weil dies sogar weitgehend anonym geschehen kann, brauchen die Aktivist*innen nicht einmal soziale Konsequenzen ihrer demokratiefeindlichen Hassattacken zu befürchten.

Diese neuen Bewegungen lassen sich am besten als eine vielköpfige Hydra begreifen. Wenn ein*e prominente*r Aktivist*in oder Anführer*in in Ungnade fällt, ist das kein tödlicher Hammerschlag mehr. Andere werden einfach nachfolgen, und die in Ungnade Gefallenen werden entsorgt. Von grundlegender Bedeutung ist, dass diese Bewegungen wirklich transnational sind. Aktivist*innen sind weiterhin mit lokalen oder nationalen Themen beschäftigt, aber sie verstehen ihren Aktivismus im breiteren Kontext als Teil eines kontinentalen oder sogar globalen Kampfes. So können Aktivist*innen aus der ganzen Welt punktuell an Themen zusammenarbeiten, die sie teilen – wodurch Netzwerke entstehen, mit denen sich antidemokratische Informationen und Strategien schnell rund um den Globus verbreiten lassen. Wenn sich also ein Islamfeind darüber aufregt, dass ein Fast-Food-Restaurant in seiner Nachbarschaft nun Halal-Hühnchen serviert, postet er dies in soziale Netzwerke. Sollte nun ein islamfeindlicher Influencer die Geschichte aufnehmen, verbreitet sie sich über islamfeindliche Netzwerke in ganz Europa und dient fortan als weiterer Beleg der Bedrohung durch eine angeblich fortschreitende „Islamisierung“ Europas.

So sind mit den Möglichkeiten einer größeren virtuelle Vernetzung auch die Herausforderungen gewachsen. Die Werkzeuge, mit denen wir gemeinsam für eine bessere, gerechtere, solidarischere und kollaborativere Welt eintreten können, werden auch von denen genutzt, die Spaltung und Hass auf der ganzen Welt säen. Wenn wir also die Gefahren verstehen wollen, die Hass und Spaltung in unserer Politik bringen, können wir nicht mehr nur auf unsere Straße, in unserer Gemeinde oder auf unser Land blicken. Wir müssen hinausdenken über politische Parteien, formale Organisationen und über nationale Grenzen. Und deshalb berichten wir in diesem Report über alle Trends und Tendenzen, die – natürlich mit unterschiedliche Gewichtung – in allen Teilen der europäischen extremen Rechten relevant sind und somit die Grundlage unserer gemeinsamen Gegenanstrengungen bildet.

 


Dieser Text ist die übersetzte Einleitung des englischsprachigen Reports „State of Hate: Far right extremism in Europe“, der aus einer Kollaboration von NGOs und Forscher*innen aus ganz Europa entstanden ist, koordiniert von Hope not Hate (UK), Expo (Schweden) und der Amadeu Antonio Stiftung, der Trägerorganisation von Belltower.News.

Eine Zusammenfassung der Ergebnisse finden Sie hier:

Hier gibt es den Report zum Download:

  • State of Hate: Far-Right Extremism in Europe (2021) (pdf)
    • Darin: Polling of Opinion in Europe
    • Covid-19 and the European Far Right
    • Conspiracy Ideologies During the Pandemic: The rise of QAnon in Europe
    • The Far-Right Backlash Against the Black Lives Matter Movement
    • Spotlight on the Western Balkans: Far-Right Trends in the Region
    • The Growing Threat of Far-Right Terrorism in Europe
    • Spotlight on Poland: The Rise of Konfederacja
    • Country by Country Section

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