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Halle-Anschlag „Mein Bruder lebt, ich lebe, wir werden nicht weggehen“

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Ismet Tekin, Betreiber des Kiez Döners, legt vor seinem Imbiss Blumen an einer Gedenkplatte für die Opfer des Anschlages von Halle nieder
Ismet Tekin, Betreiber des Kiez Döners, legt vor seinem Imbiss Blumen an einer Gedenkplatte für die Opfer des Anschlages von Halle nieder (Quelle: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild/Hendrik Schmidt)

İsmet Tekin erledigte am 9. Oktober 2019 Einkäufe, als er von seinem Bruder Rıfat angerufen wurde, dass im Kiez-Döner Schüsse fallen würden. Er eilte zurück und überlebte einen Schusswechsel zwischen der Polizei und dem rechtsextremen Attentäter. Der Attentäter hatte vorher versucht, Jüdinnen und Juden in der Synagoge von Halle zu ermorden und erschoss die Passantin Jana Lange. Rıfat Tekin arbeitete hinter der Ladentheke des Kiez-Döners und musste miterleben, wie der Attentäter den Imbiss-Gast Kevin Schwarze erschoss. Er versteckte sich hinter der Theke und überlebte. Trotz der traumatischen Erlebnisse trafen die beiden Brüder nur einen Monat nach dem Anschlag die Entscheidung, den Imbiss vom vorherigen Betreiber zu übernehmen.

„Sie haben nicht gewonnen“, sagte İsmet Tekin beim Prozess 2020 dem Attentäter ins Gesicht. „Sie haben auf ganzer Linie versagt. Mein Bruder lebt, ich lebe, wir werden nicht weggehen, wir werden unseren Laden nicht aufgeben. Und wir werden Kevin und Jana nicht vergessen.“ Zunächst betrieben die Brüder den Imbiss weiter. Wirtschaftlich war das nicht leicht, die Kundschaft blieb aus. İsmet und Rıfat vermuten, dass viele sich scheuten, an den Anschlagsort zurückzukehren. In gemeinsamen Diskussionen mit Unterstützer*innen aus der Zivilgesellschaft wurde ihnen klar, dass an diesem Ort an den Anschlag erinnert werden sollte, dass Menschen dorthin eingeladen werden sollten, sich auszutauschen und sich stark zu machen gegen Rassismus und Antisemitismus. Als „Soli-Gruppe“ setzten die Brüder Tekin und ihre Unterstützer*innen diesen Wunsch in die Tat um: Im November 2021 eröffneten sie den „TEKIEZ“ – ein türkisches Frühstückscafé, das gleichzeitig ein Gedenk- und Austauschort sein sollte.

„Ich will nicht, dass das auch anderen Leuten passiert“   

Das Leben von İsmet und Rıfat Tekin hat sich seit dem Anschlag stark verändert. Als der Prozess gegen den Attentäter lief, war İsmet Tekin an jedem Prozesstag vor Ort. Sein Bruder Rıfat schmiss derweil den Imbissbetrieb. Mit viel Einsatz sammelten die Brüder und ihre Unterstützer*innen Spenden und betätigten sich handwerklich beim Umbau des Kiez-Döners zum gemütlichen Café. Zusätzlich zum Cafébetrieb organisierten sie Gedenkaktionen und Bildungsveranstaltungen in Erinnerung an die Opfer der Anschläge von Halle, Hanau und des NSU.

Der Umbau, die Arbeit im Café, die Prozessbegleitung und die Gedenkaktivitäten nahmen sehr viel Raum ein. Dabei hätte İsmet Tekin genug anderes zu tun. Geld verdienen zum Beispiel. Seit kurzem arbeitet er zeitweise als Fahrer für den Transport von Baumaterialien. Seine finanzielle Situation sieht nicht gut aus. Und auch seine Familie sieht er viel zu wenig, sagt er im Gespräch. Aber er kann nicht aufhören, sich zu engagieren. „Ich habe die Schmerzen und die Enttäuschung und die Narben. Ich will nicht, dass das auch anderen Leuten passiert“, sagt er ruhig.

Durch das Engagement der Tekins und der Unterstützer*innen wurde der TEKIEZ schnell zu einem einzigartigen Gedenk- und Erinnerungsort an die Opfer des Anschlags, für Überlebende und alle Betroffenen rechter Gewalt. Der TEKIEZ sollte sich als Café selbst tragen und Einkommen für die Brüder generieren. Doch schon nach einem halben Jahr musste das Café wieder schließen. Die Einnahmen durch den Cafébetrieb reichten nicht aus – auch wegen der Corona-Pandemie. İsmet Tekin hat bereits viele schwierige Situationen in seinem Leben erlebt: Aufgewachsen in der Türkei, hat er schon früh auf dem Feld gearbeitet, hatte einen Unfall, nach dem sein Bein nur langsam verheilte. 2008 kam er nach Deutschland, wo er in der Gastronomie arbeitete und verschiedene kleine Läden betrieb. „Ich bin viel auf den Boden gefallen in meinem Leben“, sagt er nachdenklich. Die Schließung des Frühstückscafés ist ein weiterer herber Schlag.

„Die Politik hatte gesagt: Wir sind bei euch, egal was kommt. Ich bin enttäuscht von A bis Z

Gedenken und Bildungsveranstaltungen gehen auch nach Abmeldung des Gewerbes und Schließung des Cafés weiter – alles auf ehrenamtlicher Basis.  Von diesen aktiven, selbstgestalteten Gedenkorten gibt es nicht viele in der Bundesrepublik. Finanzielle Unterstützung vonseiten der Politik ist dennoch rar. Die Soli-Gruppe hat sich mehrfach an Bund, Land und Stadt gewandt und um Unterstützung gebeten. Mittlerweile ist İsmet Tekin von der Politik enttäuscht: „Die Politik hatte gesagt: Wir sind bei euch, egal was kommt. Ich bin enttäuscht von A bis Z. Wenn man ein Wort gibt, muss man es halten.“

Auch Max, ein Unterstützer des TEKIEZ, erzählt, dass von der Politik vor allem blumige Worte kamen und wenig konkrete Unterstützung. Nach viel Hin und Her machte der damalige Bürgermeister von Halle die Finanzierung eines Teils der Malerarbeiten für den Umbau zum TEKIEZ möglich. Vom Land Sachsen-Anhalt gab es keinerlei finanzielle Unterstützung für den Umbau. Aus Mitteln des Bundesprogramms Demokratie Leben konnte das TEKIEZ über die „Betroffeneninitiative 9.10. Halle“ bei der Mobilen Opferberatung zwar punktuell unterstützt werden, aber es braucht dringend eine langfristige Perspektive. Und die Kommunikation mit der Politik lief oft schleppend.

Max aus der Soli-Gruppe erzählt dazu: „Man hätte als Stadt auch sagen können, wir stellen jemanden bereit, der ein offenes Ohr für euch hat. Stattdessen wurden wir oft als Störfaktor wahrgenommen.“ Ein Störfaktor sein wollten sie nie. Aber weiter mahnen, dass der Anschlag nicht vergessen wird, dass das TEKIEZ als Ort erhalten bleibt und dass rechte Gewalt überall in Deutschland ernst genommen wird, das ist den Engagierten wichtig. Für İsmet Tekin wiegt die Enttäuschung besonders schwer, weil er seit dem Anschlag immer wieder die Erfahrung machen musste, nicht als Überlebender des Anschlags anerkannt und nicht ernst genommen zu werden. So wurde er beim Prozess gegen den Attentäter nicht als Überlebender des Attentats anerkannt, obwohl er sich in unmittelbarer Lebensgefahr im Schusswechsel und in Sichtweite zum Attentäter befunden hatte.

Solidarität herstellen

Doch die Brüder Tekin und ihre Unterstützer*innen des TEKIEZ wollen nicht aufgeben. Geholfen hat ihnen bisher insbesondere die Unterstützung aus der Zivilgesellschaft und die Solidarität von und mit anderen Initiativen. So hat die Jüdische Studierendenunion aus Halle im Jahr 2020 eine große Spendenaktion für den Umbau organisiert. Die Mobile Opferberatung und der Verein Friedenskreis Halle stehen eng an der Seite der Brüder Tekin und der Unterstützer*innen. Und auch die bundesweite Vernetzung mit anderen Initiativen von Überlebenden rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt ist wichtig für die Engagierten.

İsmet Tekin ist viel unterwegs, er fährt nach Frankfurt, nach Bremen, nach Hamburg und redet auf Gedenkveranstaltungen und Podiumsdiskussionen. So trägt er aktiv zum Gedenken an Vorfälle rechter Gewalt auch außerhalb von Halle bei. Das TEKIEZ soll zudem auch ein Ort sein, wo sich Initiativen von Überlebenden aus ganz Deutschland treffen können, um sich zu vernetzen. Umso mehr wünscht sich İsmet Tekin, dass es mit dem TEKIEZ doch noch irgendwie weitergehen kann. Er selbst, sein Bruder und alle Unterstützer*innen arbeiten daran.

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