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1. Verhandlungstag Halle-Prozess – Auftakt ohne Antworten

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(Quelle: AAS)

Die Erwartungen sind hoch, die Stimmung gedrückt: Kann der Prozess gegen den rechtsextremen und antisemitischen Attentäter von Halle die vielen offenen Fragen neun Monate nach dem Anschlag klären? Den etlichen Nebenkläger*innen nur einen Schimmer Trost bieten? Ihnen Gerechtigkeit liefern, geschweige denn Sicherheit geben? Das wird sich zeigen – über 18 Verhandlungstage bis zum 14. Oktober mit insgesamt 147 Zeug*innen vor dem Oberlandesgericht Naumburg, die auf Englisch, Russisch, Polnisch und Türkisch übersetzt werden. Dem Angeklagten wird unter anderem Mord in zwei Fällen und versuchter Mord in 68 Fällen vorgeworfen.

Eingeleitet wurde das Verfahren vom Oberlandesgericht Naumburg, die Verhandlungen wurden aber nach Magdeburg verlegt. Im dortigen Landgericht liegt der größte Sitzungssaal Sachsen-Anhalts, der für den Prozess sicherheitstechnisch und coronakonform umgebaut worden sei – samt verstärktem Schutzglasscheiben. 300.000 Euro habe der Prozess inklusive Sicherheitskonzept gekostet, teilte der Pressesprecher, Wolfgang Ehm, auf einer Pressekonferenz am Vortag mit.

Zum Prozessauftakt an diesem sonnigen Dienstagmorgen sind viele erschienen: Kurz vor acht bildet sich eine erhebliche Schlange an Medienvertreter*innen, Nebenkläger*innen und andere Beobachter*innen vor dem Landgericht. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite bauen Aktivist*innen vom Bündnis „Halle gegen rechts“ einige Zelte und eine kleine Bühne für die ganztägige Kundgebung auf, auf der unter anderem die Interventionistische Linke Halle und die Jüdische Studierendenunion Deutschland anwesend sind. Auf Transparenten ist zu lesen: „Nazis morden, damals wie heute – kein Schlussstrich“ oder „Solidarity with the victims – no platform for the perpetrator“. Im Laufe des Tages werden über 200 Menschen die Kundgebung besuchen, auf der Reden von Nebenkläger*innen, Anwält*innen und dem angereisten Essay-Star und Lyriker Max Czollek zu hören sind.

Das mediale Interesse am Prozess ist groß – hierzulande. Einzelne Journalist*innen aus Frankreich sind vor Ort und ein Blick auf die Sitzplatzliste verrät, dass auch die New York Times und Israel HaYom dabei sind. Doch der große Ansturm der internationalen Presse bleibt aus. Zugegeben, die herrschende Pandemie erschwert sicherlich die eine oder andere Anreise. Aber auch aus der Ferne klingt das internationale Medienecho gedämmt.

Das ist fatal. Denn der Halle-Anschlag ist kein rein deutsches Phänomen. Die scharfen Kontinuitäten in der Bundesrepublik dürfen zwar keineswegs übersehen werden, der Täter schließt sich aber einer langen Reihe an internationalen rechtsextremen Tätern von Christchurch bis Pittsburgh an, die sich im Internet radikalisierten. Welche Rolle Online-Communitys für die rechtsextreme Radikalisierung und antisemitische Ideologie des Halle-Täters spielten, muss der Prozess untersuchen.

Dem Täter keine Bühne

In diesem Text kommt der Name des Attentäters nicht vor. Auch seine Worte nicht. Nur seine Gesinnung, seine Haltung, seine Taten. Denn der Angreifer ist kein Einzeltäter. Er ist zwar kein Mitglied einer Partei, kein Kader einer Organisation, kein Teil eines Netzwerks im klassischen Sinne. Doch er teilt eine menschenverachtende Weltanschauung mit etlichen anderen, die sich online anfeuern und hetzen. In einer offenen Erklärung appellieren einige Nebenkläger*innen an die Medien, seinen Namen nicht zu nennen, ihm keine Bühne zu geben, seinen Durst nach Ruhm nicht zu stillen.

Eine vernünftige Strategie. Theoretisch. Und doch scheitert man in der Praxis immer wieder an den eigenen Ansprüchen: Wie kann der Möchtegern-Massenmörder nicht im Mittelpunkt seines eigenen Prozesses stehen? Wie soll er keine Plattform bekommen, wenn er eine dominierende räumliche Präsenz einnimmt und ein Mikro im Zentrum des Sitzungssaals bekommt? Wenn er von drei mit Sturmhauben und Schutzwesten ausgestatteten Beamten flankiert wird?

Eine Antwort darauf bietet sicherlich der selbstbewusste und mutige Auftritt der bislang 43 Nebenkläger*innen im Prozess, die mit ihren 21 Anwält*innen einen geschlossenen Block im Saal formieren – frontal gegenüber vom Angeklagten. Ihre Geschichten werden einen zentralen Stellenwert im Prozess haben. Als Nebenkläger*innen bekommen sie auch Akteneinsicht und dürfen Zeugen befragen. Sprich: Sie haben die Möglichkeit, den Prozess mit zu steuern. Das ist enorm wichtig. Im NSU-Prozess kamen beispielsweise die bereicherndsten Erkenntnissen nicht von der Staatsanwaltschaft oder den Behörden, sondern von der unermüdlichen Arbeit zahlloser Betroffener, Nebenkläger*innen, Anwält*innen und Aktivist*innen.

Die Uhr schlägt zwölf: Der erste Verhandlungstag beginnt mit circa zwei Stunden Verspätung. Grund dafür seien die Sicherheitskontrollen, sagt Pressesprecher Ehm etwas unschlüssig. Dabei wirkt das Landgericht fast überrascht mit der sehr vorhersehbaren Zahl an akkreditierten Journalist*innen und zugelassenen Nebenkläger*innen, die sie hereinlassen müssen. Am Ende des Tages wird das erneut thematisiert – sowohl vom Pressesprecher Elm, als auch von der Vorsitzenden Richterin Ursula Mertens. Schuld seien die Journalist*innen, die angeblich zu langsam seien– auf gar keinen Fall die Planungskompetenzen des Gerichts. Ein bizarres Spielchen von „Verantwortung verschieben“, wenn man bedenkt, dass es hier um eines der größten und wichtigsten Gerichtsverfahren der deutschen Nachkriegsgeschichte im Bereich Rechtsterrorismus geht. Es ist eine von mehreren kleinen Pannen, die den ersten Prozesstag begleiten.

Zu Prozessbeginn wird die Anklageschrift vorgelesen, die den Anschlag akribisch beschreibt. Ein emotionaler Moment, auch wenn man wenig Neues über den Verlauf des Anschlags erfährt. Danach will der Angeklagte aussagen – trotz mehrere Hinweise, dass er dies nicht tun muss. Zu erwarten wäre ein wirrer ideologischer Monolog über sein antisemitisches und menschenverachtendes Weltbild. Das klappt dank Ursula Mertens‘ Vernehmungsstrategie zum größten Teil nicht. Denn die Vorsitzende Richterin des Prozesses stellt stattdessen strukturierte Fragen zu seiner Person, seinen Umständen, seinem Hintergrund, auch wenn er deutlich betont, dass er mit seinen Aussagen zur Vermeidung künftiger Anschläge gar nicht beitragen will und die Relevanz ihrer Fragen ständig bezweifelt. Das Wort kann er dennoch kaum ergreifen, ehe die nächste Frage ihn unterbricht.

Richterin Mertens’ Strategie geht auf – teilweise. So redet der Angeklagte nicht nur sehr detailliert über die Planung und Verübung des Anschlags, sondern auch über seine Jugend und Familie. Jede weitere Frage entlockt ihm ein bisschen mehr Information, als er ansonsten preisgegeben hätte – vermutlich. Mertens weiß auch, wie sie ihn provozieren kann. Das zeigen seine zum Teil überemotionalisierten Antworten, die seine sonst stotternde, leicht sächselnde und mit gruseligem Gelächter durchsetzte Sprechweise unterbrechen. Sie hat ihn in der Hand.

Nachgeplapperte Stammtischparolen

Vor allem erfahren wir, dass der Sommer 2015 eine entscheidende Rolle für seine Radikalisierung gegen Muslim*innen spielte. Dass er danach nicht mehr Teil der Gesellschaft sein wolle, obwohl er in seiner sozialen Isolation und Beschäftigungslosigkeit dies eigentlich schon längst nicht mehr war. Dass er seine Zeit nur noch im Internet verbrachte. Dass er kein Teil einer Bewegung oder Gruppe sein wollte, weil diese alle vom Verfassungsschutz unterwandert seien. Dass er einen Austausch der weißen Bevölkerung fürchte. Als er an dieser Stelle das N-Wort fallen lässt, wird ihm belehrend aber freundlich mit dem Ausschluss vom Prozess gedroht. Später sagt er das Wort erneut – ohne Konsequenzen.

Mertens ist allerdings nicht sonderlich hartnäckig in ihrer Befragung. Denn wir erfahren zwar, dass sein Hass auf Araber*innen und Muslim*innen in Verachtung gegen Jüdinnen und Juden mündete – ohne aber herauszufinden, warum und wie. Wie genau trugen Verschwörungsideologien zu seiner Radikalisierung bei? Welche Rolle spielten hier Imageboards wie „Meguca“? Welche Rolle die Rhetorik der AfD? Oder die Ideologie der vom Angeklagten erwähnten Identitären Bewegung? Denn viele seiner menschenverachtenden Aussagen klingen wie nachgeplapperte Stammtischparolen aus neurechten Kolumnen. Und das hat wohl System.

Mertens Befragung nimmt zudem manchmal absurde Züge an. Zum Beispiel, wenn die Richterin sagt, dass es schade sei, dass er die Synagoge am Tag der offenen Tür nicht besucht hätte. Dort hätte er nämlich Jüdinnen und Juden kennenlernen können. Und das, obwohl der Angeklagte nach eigener Aussage die Tat anders begangen hätte, hätte er gewusst, wie die Synagoge aussieht. Oder wenn sie ihm empfiehlt, einer Gruppe beizutreten, damit er weniger einsam wäre – als hätte ein III.-Weg-Parteibuch den Anschlag verhindern können.

Der selbstinszenierte Verlierer

Stattdessen appelliert Mertens immer wieder an seine Empathie, sein Mitleid – und scheitert. Denn mit fast jeder Antwort fällt er wieder in sein rassistisches und antisemitisches Denkmuster. Zu demokratischen Werten wird man ihn so wohl nicht bekehren, denn er argumentiert nicht mit Logik oder Vernunft, sondern mit Hass. Diese Äußerungen überhaupt Raum zu geben, spielt dem Täter in die Hände.

Am Ende des ersten Tages bleibt nur ein einsamer Versager, ein selbstinszenierter Verlierer, der mit seinem bisherigen Lebensstand, freundlos im Kinderzimmer wohnend, zutiefst unglücklich ist. Er macht deutlich, dass er sich selbst bemitleidet. Ein Trauerspiel darf sein Schicksal allerdings nicht sein, sondern eine ernstzunehmende Realität von alarmierend vielen jungen Männern, sie sich online radikalisieren und nach der Waffe greifen. Entscheidend dafür sind Verschwörungsideologien. Der Angeklagte war nicht der erste rechtsextreme antisemitische Attentäter – und er wird leider auch nicht der letzte sein. Darum ist es wichtig, System und Struktur hinter seinem Anschlag zu verstehen. Dafür bleiben noch 17 Verhandlungstage.

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