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24. Verhandlungstag Halle-Prozess – Eine vertane Chance

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(Quelle: Nicholas Potter)

Als die letzten Plädoyers von Überlebenden des Halle-Anschlags und ihren Vertreter*innen im Landgericht Magdeburg gelesen werden, wird vor allem eines klar: Der Prozess war eine vertane Chance. Eine vertane Chance, Licht auf die ideologisch verseuchte Online-Welt der Imageboard-Szene zu werfen. Eine vertane Chance, die rechtsextreme Radikalisierung vieler jungen Männer von El Paso bis Christchurch und Halle zu verstehen. Eine vertane Chance, die familiären Wurzeln des Antisemitismus im Fall des Angeklagten* zu untersuchen. Und eine vertane Chance, somit künftige rechtsextreme Attentate zu verhindern. Denn der Angeklagte wird nicht der letzte Täter diesen Typus sein. Womöglich verfolgt der nächste sogar diesen Prozess mit Interesse und Begeisterung – eine unbequeme Tatsache, die offenbar weder der Senat des Gerichts noch Teile der Medien begriffen haben.

Es bleibt die Frage: Wozu dient eigentlich der Prozess gegen den Halle-Attentäter, abgesehen von seiner juristischen Funktion? Die Schuld des Angeklagten hat sich erwiesen, es gibt keinen Zweifel an der Tat, die der Angeklagte mit zwei Kameras filmte, und eine lebenslange Haftstrafe mit Sicherheitsverwahrung scheint so gut wie gewiss. Eine Antwort auf diese Frage liefert der mutige und selbstbewusste Auftritt der Nebenklage. Der Prozess dient auch dazu, den Betroffenen und Überlebenden des antisemitischen und rassistischen Anschlags eine Stimme zu geben. Am 8. Dezember 2020, dem 24. Verhandlungstag im Verfahren, halten mehrere Nebenkläger*innen ihre Schlussplädoyers. Was sie zu sagen haben, stellt weder die Behörden, noch den Generalbundesanwalt in ein besonders gutes Licht. Mehrfach werden die digitalen Kompetenzen des BKA hinterfragt, mehrfach wird die Entscheidung des Generalbundesanwalts bemängelt, den Angriff auf İsmet Tekin und Aftax Ibrahim nicht als Mordversuch zu werten. Als der Prozess sich dem Ende zuneigt, wirken viele Nebenkläger*innen vor allem wütend und frustriert.

So kritisiert die Synagogenbesucherin Jessica W. in einem vom Rechtsanwalt Hoffmann vorgelesenen Statement, dass sie müde ist – müde, weil es im Laufe des Prozesses immer klarer wurde, dass es die Aufgabe der Nebenklage selber sei, das Geschehene zu verstehen und die Hintergründe der Tat zu beleuchten. Das BKA hingegen zeige sich nur am Wie und nicht am Warum interessiert. Die Ideologie des Täter hätten sie nicht weiter verfolgen wollen – und das wirke herablassend, naiv und schmerzlich kurzsichtig.

Gaming-Kompetenzen? Fehlanzeige

„Wie kann es sein, dass Ermittler*innen ohne Gaming-Erkenntnisse eingesetzt werden?“, fragt W. mit Wut. Denn es gehe hier um nichts Geringeres als einen der schlimmsten antisemitischen und rassistischen Angriffe der deutschen Nachkriegszeit. Der Angeklagte lache BKA-Beamt*innen wegen ihrer Inkompetenz immer wieder direkt ins Gesicht. Nur auf großen Druck der Nebenklage sei es überhaupt möglich gewesen, relevante Sachverständige zu hören, sagt sie – und meint damit die Publizistin Karolin Schwarz, den Leiter der „Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin“ (RIAS), Benjamin Steinitz, und den Direktor des „Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft“ (IDZ) in Jena, Matthias Quent. Im Laufe des Prozesstages wird die Einladung dieser Expert*innen von mehreren Überlebenden stark gelobt. Alle drei wurden nur auf Initiative der Nebenklage geladen. Weitere Anträge der Nebenklage, Expert*innen zu hören, wurden allerdings vom Senat des Gerichts abgelehnt.

Jessica W. hat ein vernichtendes Urteil für das Gericht: „Ich bin mir absolut sicher, dass Passivität und Gleichgültigkeit gegenüber Rechtsextremismus nicht geeignet sind, sich weiteren Verbrechen dieser Art entgegenzustellen.“ Denn das BKA habe die Verbindung der Tat zu weiteren Anschlägen wie in Christchurch schlicht nicht begriffen. „Dieser Prozess hätte eine Chance sein können“, resümiert sie zum Schluss. „Doch wie sich nach vier Monaten herausstellt, wurde diese Chance nicht ergriffen.“

Auch die Überlebende Talya Feldman äußert scharfe Kritik am BKA: „Sie behaupten, es sei nicht ihren Job, den Kontext der Tat zu verstehen“, sagt sie auf Englisch, ihre Stimme leicht zitternd aber entschlossen. Sie bemängelt auch, dass Zeug*innen der Behörden rassistische Begriffe und Stereotypen in ihren Aussagen reproduzieren würden – diese Kritik wird später auch von der Nebenklägerin Naomi Henkel-Gümbel wiederholt. Unverschämt sei, dass manche Beamt*innen sogar aufgelistet hätten, was die Überlebenden alles falsch gemacht hätten, statt einzugestehen, dass auch sie Schuld daran hätten, dass so etwas wie der Halle-Anschlag überhaupt hätte passieren können, so Feldman.

Dem Täter keine Bühne

Feldman endet ihr Plädoyer mit einem Appell an die Medien: „Dieser Mann benutzt den Prozess als Plattform, um seinen Hass zu verbreiten. Er wird sein Plädoyer morgen benutzen, um weitere Täter zu inspirieren, genau wie er selbst inspiriert wurde. Machen Sie sich nicht zum Komplizen. Zitieren Sie ihn nicht, veröffentlichen Sie nicht seinen Namen, zeigen Sie nicht sein Bild. Wer das tut, trägt auch zum Zyklus der Brutalität bei. Und das muss hier und jetzt aufhören. Genug ist genug.“ Applaus ist im Gerichtssaal untersagt, doch das Publikum steht nach jedem Statement der Betroffenen an diesem Tag auf – als Zeichen der Solidarität. Ob die Medien Feldmans Worten allerdings folgen werden, bleibt abzuwarten. Immer wieder veröffentlichen Zeitungen von der boulevardesken Bild bis zur linksalternativen taz den Namen und das Bild des Angeklagten – trotz der gemeinsamen Erklärung einer Gruppe von Nebenkläger*innen zu Prozessbeginn mit der expliziten Aufforderung, genau das nicht zu tun. Tatsächlich scheint der Angeklagte jeden Morgen das Geratter und den Blitzlichtsturm der Presse zu genießen.

Dass der Angeklagte immer wieder eine Bühne sucht, wird schon beim nächsten Plädoyer klar. Während die Nebenklägerin Christina Feist, eine Überlebende aus der Synagoge, das Wort hat, schreibt und zeichnet er auf ein Stück Papier und hält es hoch, offenbar um Feist zu irritieren. Die Nebenklage-Anwältin Kati Lang sieht das und interveniert. Die Richterin unterbricht den Prozess für 20 Minuten. Bevor der Saal sich leeren kann, schreit eine Besucherin: „Schweinerei! Er lacht doch, der Mörder“ – und zeigt auf den Angeklagten. Nach der Pause wird die Stimmung noch angespannter: Die Verteidiger des Angeklagten wollen keine Zettel gesehen haben, Rechtsanwältin Lang bringt ihre Wut durch das Mikro zum Ausdruck und Richterin Mertens scheint von dem Wortgefecht überfordert zu sein. „Sie haben den Schlussvorträgen kommentarlos zuzuhören“, erinnert Mertens den Angeklagten in einer fast mütterlichen Stimme.

Erneut wird klar: Es ist nicht so einfach, dem Täter keine Bühne zu geben, wenn er räumlich und inhaltlich im Rampenlicht des Prozesses steht. Doch eine Stärke des Prozesses ist sicherlich, dass Betroffene des Anschlags so zahlreich zu Wort kommen durften. Und das weiß nicht nur Feist, sondern auch einige Vertreter*innen der Nebenklage zu loben. „Das letzte Wort im Prozess haben Sie Frau Vorsitzende“, sagt Feist Richterin Mertens. „Das letzte Wort jenseits des Prozesses haben allerdings wir“. Feist appelliert an alle Anwesenden im Gerichtssaal: „Wir haben alle eine moralische Verpflichtung: Wir dürfen keine Ruhe geben, wir müssen Zivilcourage zeigen und wir müssen uns für den Erhalt unsere Demokratie einsetzen. Was wir in diesem Gerichtssaal gehört haben, das müssen wir nach draußen nehmen.“

Auch die Nebenklägerin Naomi Henkel-Gümbel, ebenfalls eine Überlebende aus der Synagoge, sucht nach Sinn in einer sinnlosen Tat. In ihrem Plädoyer zitiert sie den polnischen Rabbiner Kalonymus Kalman Shapira, der 1940 im Warschauer Ghetto schrieb: „Im Angesicht von Tod und Trauer habe ich die Kraft gefunden, Glückseligkeit zu finden und habe auch andere zur Freude inspiriert. Als andere meine Fassung und Seligkeit trotz so großer Schwierigkeiten beobachteten, fanden auch sie durch mein Beispiel innere Stärke angesichts ihrer eigenen Schwierigkeiten. Diese innere Stärkung wird selbst die Wirkung haben, Böses in Gutes zu verwandeln.“

Nach 24 Verhandlungstagen ist diese innere Stärkung in den Reihen der Nebenklage deutlich zu spüren – durch ihre entschlossene Solidarität füreinander, durch die Allianzen, die im Laufe des Prozesses entstanden sind. Morgen, am 9. November 2020, hat der Angeklagte das letzte Wort im Prozess vor der Urteilsverkündung am 21. Dezember. Statt ihm Aufmerksamkeit zu schenken, würden wir uns einen Gefallen tun, lieber auf die Überlebenden des Anschlags zu hören. Denn schließlich haben sie jenseits des Prozesses das letzte Wort.

* Zu Beginn des Prozesses veröffentlichte eine Gruppe von Nebenkläger*innen eine gemeinsame Erklärung, in der sie die Medienvertreter*innen aufgefordert haben, den Namen des Attentäters nicht zu nennen, um ihm eine Plattform zu verweigern. Wir haben diesen Wunsch in diesem Artikel respektiert.

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