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Halle-Prozess „Antisemitismus, Rassismus und Islamophobie sind eng miteinander verknüpft“

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Im Gespräch: Der Rabbiner Jeremy Borovitz ist einer von 43 Nebenkläger*innen im Prozess gegen den rechtsextremen Halle-Attentäter.
Im Gespräch: Der Rabbiner Jeremy Borovitz ist einer von 43 Nebenkläger*innen im Prozess gegen den rechtsextremen Halle-Attentäter. (Quelle: Privat)

Am 21. Juli begann vor dem Oberlandesgericht Naumburg der Prozess gegen den Halle-Attentäter*, der am 9. Oktober 2019 einen Anschlag auf die Synagoge in Halle und den nahegelegenen Imbiss Kiez-Döner verübte, dabei zwei Menschen ermordete und weitere verletzte. Mehr zum Tathergang lesen Sie hier.

Jeremy Borovitz ist in Paramus, New York, USA geboren und aufgewachsen. Gemeinsam mit seiner Ehefrau, der Rabbinerin Rebecca Blady, ist er als Mitbegründer von „Hillel Deutschland: Base Berlin“ 2019 nach Berlin gezogen, um die junge und lebendige jüdische Community zu stärken. Im Rahmen ihres „Base Berlin“-Programms organisierten Borovitz und Blady eine Reise nach Halle mit einer Gruppe von etwa 20 jungen Menschen aus ganz Deutschland, um am 9. Oktober 2019 einen Yom-Kippur-Gottesdienst zu erleben.

Das folgende Gespräch ist Teil einer Interviewserie mit einigen Nebenkläger*innen des Gerichtsverfahrens. Rachel Spicker hat mit ihnen darüber gesprochen, wie sie den Anschlag erlebt haben, warum sie sich für eine Nebenklage entschieden haben und was sie sich von dem Gerichtsverfahren erhoffen.

Belltower.News: Wie haben Sie den Anschlag erlebt?

Jeremy Borovitz: Als wir bemerkten, dass wir angegriffen wurden, war es so, als ob sich in mir ein Schalter umlegte und ich fortan nur noch funktionierte. Ich konzentrierte mich darauf, die Gruppe in Sicherheit zu bringen, alle zu beruhigen und in den oberen Teil der Synagoge zu bringen. Nachdem wir die beiden vermissten Gruppenmitglieder ausfindig gemacht und mit unserem Babysitter und unserer Tochter Kontakt aufgenommen hatten, gingen wir wieder nach unten, um weiter zu beten. Das war ein wirklich kraftvoller Moment. Irgendwann sagte uns jemand, wir sollten das Gebet unterbrechen, damit wir evakuiert werden könnten. Am Ende warteten wir zwei Stunden auf die Evakuierung. Es war beunruhigend, weil sich die Synagoge bis zu diesem Zeitpunkt wie ein safe space, ein sicherer Ort, angefühlt hatte. Was die Situation noch verwirrender machte, war, dass wir nicht eine Ansprechperson von der Polizei hatten, die mit uns besprach, was jetzt zu tun sei, sondern, dass mehrere verschiedene Beamt*innen mit uns in Kontakt standen. Als wir schlussendlich evakuiert werden sollten, machte uns die Polizei viele Vorschriften, die wir nicht verstanden und uns auch nicht erklärt wurden.

Für das Fastenbrechen am Ende von Yom Kippur haben wir unser eigenes koscheres Essen mitgebracht. Wir packten alles in einen Koffer und wollten es mit in den Bus nehmen, der uns evakuierte und ins Krankenhaus brachte. Bis dahin hatten wir fast 23 Stunden lang gefastet. Die Polizei sagte uns, dass wir keinen Koffer mitnehmen könnten und dass nur eine kleine persönliche Tasche pro Person erlaubt sei. Sie sagten uns, dass man uns im Krankenhaus in die Cafeteria bringen würde, wo es Essen gäbe. Es dauerte eine Weile ihnen zu erklären, warum uns das Essen aus der Cafeteria nicht erlaubt war. Am Ende mussten wir das ganze Essen aus dem Koffer nehmen und es in kleine Plastiktüten packen. Danach musste ich mit der Polizei diskutieren, damit wir unsere Tochter mit in den Bus zum Krankenhaus nehmen konnten. Anfangs durfte sie nicht mit in den Bus, weil sie nicht mit uns in der Synagoge war. Im Bus selbst wartete eine Nonne, die uns emotionale Unterstützung anbot. Ein Mitglied unserer Gruppe bat sie dann, den Bus zu verlassen. Rebecca war die einzige Rabbinerin und ich der einzige Rabbiner vor Ort.

Nachdem wir im Krankenhaus angekommen waren, beschlossen wir, das Gebet dort weiterzuführen und zu beenden. Während des Gebets kam die Polizei zu mir und sagte, sie müssten uns jetzt sofort über die neusten Entwicklungen informieren und befragen. Ich widersprach ihnen und sagte, dass es noch um die 20 Minuten dauern würde, bis wir fertig seien und sie bitte noch so lange warten, bevor wir sprechen könnten. Sie waren wütend und frustriert und sagten, die Besprechung sei wichtiger als unser Gebet. Letztendlich intervenierte ein Geschäftsführer des Krankenhauses und sagte der Polizei, sie sollten aufhören, sich einzumischen und uns zu Ende beten lassen. Ihm ist es zu verdanken, dass unser Gebet nicht unterbrochen wurde.

Am Abend wollten wir dann unsere persönlichen Sachen aus der Wohnung holen, in der Rebecca, meine Tochter und ich zuvor übernachtet hatten. Die Wohnung befand sich über der Synagoge. Wir wussten natürlich, dass es sich um einen Tatort handelte, also fragten wir, ob uns jemand begleiten könnte, damit wir unsere Sachen dort herausholen könnten. Die Polizei sagte uns, dass dies nicht erlaubt sei und dass wir warten müssten, bis der Staat entscheidet, bevor wir hineingehen könnten. Das war alles, was sie sagten. Es war mitten in der Nacht, ich trug immer noch nur meinen Kittel, wir hatten keine Kleidung und keinen Platz zum Übernachten und wir wussten nicht wohin mit unserer einjährigen Tochter. Die Polizei war wenig hilfsbereit. Wir riefen schließlich das Hotel an, in dem die anderen Gruppenmitglieder übernachteten und konnten dort bleiben.

Den ganzen Tag lang war ich sehr aufgabenorientiert. Ich versuchte sicherzustellen, dass die Gruppe ein Gefühl der Ruhe hatte, da ich wusste, dass die gegenwärtige Situation nicht ewig andauern würde. Ich konzentrierte mich darauf, wie ich angesichts der verrückten Situation alles so normal und aushaltbar wie möglich machen konnte. Wenn ich jetzt zurückblicke, bin ich dem Krankenhauspersonal immer noch so dankbar. Sie waren die ganze Zeit sehr verständnisvoll und unterstützend, und sie haben sich wirklich gut um uns gekümmert. Das kann ich von der Polizei nicht behaupten.

Wie geht es Ihnen heute?

Die ersten zwei Monate nach dem Angriff war ich super stark. Ich habe versucht dafür zu sorgen, dass sich um unsere Gruppe gekümmert wird, dass alles das bekommen, was sie brauchen. Nach einiger Zeit hatte ich einen Zusammenbruch und merkte, dass ich Therapie brauchte. Dieses Erlebnis hat etwas in mir verändert. Ich bin nicht mehr derselbe wie vorher, aber ich versuche immer noch herauszufinden, wie genau mich diese Erfahrung verändert hat.

Warum haben Sie sich dafür entschieden, Nebenkläger zu werden?

Ich habe mich aus verschiedenen Gründen dazu entschieden, Nebenkläger zu werden. Allein symbolisch betrachtet finde ich es wichtig, dass Rabbiner*innen vor einem deutschen Gericht als Zeug*innen aussagen können. Aber grundsätzlich gibt es für mich zwei Hauptmotivationen: Erstens finde ich, dass die Polizei bessere Arbeit hätte leisten müssen. Wie ich bereits vorher erwähnt habe, haben sie uns wie Verdächtige und nicht wie Betroffene behandelt. Es fehlte an Menschlichkeit: Sie konnten uns nicht als Menschen sehen, sie behandelten uns fast wie eine Last, und es fehlte definitiv an kulturellem Wissen, einer kulturellen Sensibilität. Ich weiß nicht, warum, und ich möchte darüber auch nicht spekulieren. Aber ich erwarte einfach mehr von der Polizei. Meine Hoffnung ist, dass, wenn wir diese Aspekte vor Gericht ansprechen, wir dazu beitragen können, das System, in dem die Polizei arbeitet, zu verändern. Zweitens bin ich davon überzeugt, dass Antisemitismus, Rassismus und Islamophobie als Ideologien eng miteinander verknüpft sind. Es ist kein Zufall, dass der Angreifer an einer Synagoge begann und dann zu einem Döner-Imbiss fuhr. Ich habe das Gefühl, dass wir hier in gewisser Weise als Juden*Jüdinnen privilegiert sind. Die Menschen in Deutschland sind eher bereit, uns zuzuhören als Menschen mit türkischer oder arabischer Migrationserfahrung, Rom*nija oder anderen verfolgten Gruppen. Ich möchte die Plattform, die ich als Nebenkläger habe, für eine gute Sache nutzen und darauf aufmerksam machen, dass diese Ideologien miteinander verbunden sind. Wenn wir Antisemitismus thematisieren, müssen wir uns auch mit Rassismus und anderen Formen des Hasses und der Diskriminierung befassen.

Was erhoffen Sie sich von dem Prozess?

Wir als „Base Berlin“ haben die Reise nach Halle organisiert, um einen bedeutungsvollen und einzigartigen Jom-Kippur-Gottesdienst zu erleben und zu ermöglichen. Als Teil der Gruppenleitung fühle ich mich verantwortlich, dazu beizutragen, dass unsere Perspektiven und Stimmen vor Gericht und in der Öffentlichkeit Gehör finden. Ich möchte sicherstellen, dass jede Person, die diesen Angriff erlebt hat, in der Lage ist, ihre Geschichte zu erzählen. Ich hoffe, dass das Gericht und die deutsche Öffentlichkeit den verschiedenen Geschichten und Perspektiven zuhört und sich bemühen wird, daraus zu lernen und dass wir die Gesellschaft zum Besseren verändern können.

Weitere Informationen zum Gerichtsprozess: Gemeinsam mit NSU-Watch dokumentiert der VBRG den Prozess auf Deutsch, Englisch und Russisch. Auf dem Blog halle-prozess-report.de werden Prozessdokumentationen, Berichte und Eindrücke aus Perspektive der Nebenklage im Austausch mit Nebenkläger*innen, Aktivist*innen und Unterstützer*innen veröffentlicht.

*Einige Nebenkläger*innen haben in ihrem Statement zum Prozessbeginn Medienschaffende dazu aufgerufen, den Namen des Attentäters nicht zu nennen, um ihm selbst keine Plattform zu bieten. Dieser Forderung wollen wir hier nachkommen.

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