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Halle-Prozess „Für mich ist die Anklageschrift nicht vollständig“

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Max Privorozki ist Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Halle und einer von 43 Nebenkläger*innen im Prozess gegen den Attentäter des Halle-Anschlags. (Quelle: Privat)

Am 21. Juli begann vor dem Oberlandesgericht Naumburg der Prozess gegen den Halle-Attentäter*, der am 9. Oktober 2019 einen Anschlag auf die Synagoge in Halle und den nahegelegenen Imbiss Kiez-Döner verübte, dabei zwei Menschen ermordete und weitere verletzte. Mehr zum Tathergang lesen Sie hier.

Das folgende Gespräch ist Teil einer Interviewserie mit einigen Nebenkläger*innen des Gerichtsverfahrens. Rachel Spicker hat mit ihnen darüber gesprochen, wie sie den Anschlag erlebt haben, warum sie sich für eine Nebenklage entschieden haben und was sie sich von dem Gerichtsverfahren erhoffen.

Belltower.News: Wie haben Sie den Anschlag erlebt?

Max Privorozki: Wenn ich an den Anschlag denke, kommen mir zwei Erinnerungen immer wieder in den Kopf. Für mich persönlich war der schlimmste Moment, als ich gesehen habe, wie Jana Lange ermordet wurde. Zuerst wusste ich nicht, dass es eine Frau war und ich wusste nicht, dass sie tot war. Ich habe über den Bildschirm der Überwachungskamera gesehen, wie der Attentäter auf sie geschossen hat und sie am Boden liegen geblieben ist. Wir konnten nicht raus, um dieser Person zu helfen. Das war ein sehr schlimmer Moment. Die zweite Erinnerung ist die Situation, wo der Attentäter begann, auf die Tür zu schießen. Währenddessen haben Gemeindemitglieder alle Türen verschlossen und verbarrikadiert und sich nach oben begeben. Wir sind mit mehreren Männern unten geblieben und haben über den Bildschirm verfolgt, was draußen passiert ist. Als wir beobachteten, wie er damit begonnen hatte, auf die äußere Tür zu schießen, merkte ich, wie Panik in mir hochstieg. Mir gingen so viele Gedanken durch den Kopf. Wie gut sind seine Waffen? Wie professionell ist er? Werden die Türen halten? Was ist, wenn er gleich die äußere Tür durchschießt und uns nur noch eine Tür von ihm trennt? Wird diese Tür halten? Was ist, wenn er uns wirklich umbringt? Es war unmöglich das alles einzuschätzen. Auch als die unmittelbare Gefahr vorbei war, war es schwer. Wir wussten nicht genau, was passiert. Wir hörten viele Gerüchte, unter anderem dass es mehrere Täter gab, dass es mehrere Anschläge in der Stadt gab. Um die Synagoge herum war es sehr laut, über uns kreisten Polizeihubschrauber. Das waren alles Geräusche, die wir zunächst nicht einordnen konnten und nicht wussten, was sie bedeuteten. Auch war es schwierig einzuschätzen, wie viel Zeit vergangen ist. Heute verstehe ich, wenn Menschen sagen, dass wenn Dinge innerhalb sehr kurzer Zeit passieren, es sich trotzdem wie eine Ewigkeit anfühlt. Der ganze Tag hat sich nicht nur angefühlt wie ein Ausnahmezustand, es hat sich angefühlt wie ein Kriegszustand.

Wie geht es Ihnen heute?

Ich habe noch Schwierigkeiten mit bestimmten Geräuschen, die ich mit der Tat verbinde, wie zum Beispiel mit einem Hubschrauber. Wenn ich diese Geräusche höre, dann geht es mir nicht gut. Grundsätzlich kann ich sagen, dass wir als Gemeinde und ich als Gemeindevorsitzender sehr viel Solidarität erhalten haben, sowohl bundesweit als auch international. Dafür bin ich sehr dankbar. In der Gemeinde gibt es ein breites, mehrsprachiges Beratungsangebot, damit Mitglieder die Möglichkeit haben, die Tat und die Folgen zu verarbeiten, da sind wir sehr gut aufgestellt. Wichtig ist vor allem der Austausch, der Zusammenhalt und das Gefühl der Gemeinschaft. Wir haben nach dem Anschlag keine einzige Veranstaltung abgesagt, die Gemeindearbeit lief weiter. Es ist wichtig, dass die Mitglieder einen Ort haben, wo sie sich versammeln und austauschen können. Das wurde durch die Corona-Pandemie massiv erschwert. Aber auch damit lernen wir umzugehen. Als Gemeindevorsitzender muss ich natürlich respektieren, dass jedes Gemeindemitglied eigene Erlebnisse mit dem Anschlag verbindet und eigene Umgangsstrategien für sich entwickelt hat. Mit der Zeit ist mir klargeworden, dass wir darüber nachdenken müssen, wie wir Gemeinde definieren. Denn nach dem Anschlag haben wir erfahren, wie sehr diese Tat das Leben vieler Jüdinnen und Juden in ganz Deutschland, aber auch international beeinflusst hat. Nicht nur in Halle sind Menschen damit beschäftigt, diese Tat zu verarbeiten.

Warum haben Sie sich dafür entschieden, Nebenkläger zu werden?

Als Nebenkläger habe ich die Möglichkeit, die Akten, die es in diesem Verfahren gibt, einzusehen. Das ist für mich wichtig, weil ich zwei Fragen habe, die ich in Bezug auf jeden Anschlag klären möchte. Erstens möchte ich verstehen, wie ein Mensch von einer bestimmten politischen Einstellung und Weltanschauung heraus zum Attentäter, zum Mörder wird. Wir müssen verstehen, wie ein Mensch einen solchen Hass entwickeln kann, dass er zur Tat schreitet, damit wir solche Anschläge in Zukunft verhindern können. Dabei müssen wir sicherstellen, dass genau geklärt wird, warum er diese Taten begangen hat. Wir dürfen nicht dabei zusehen, dass die politischen Hintergründe nicht beachtet werden. Wenn wir uns zum Beispiel den Anschlag von Hanau anschauen, da wird ständig davon gesprochen, dass der Täter ein Verrückter und ein Einzeltäter ist. Der Mord an Walter Lübcke, die Anschläge von Halle und Hanau: die Taten wurden aus antisemitischen und rassistischen Gründen begangen. Das muss auch so benannt werden. Auch bei islamistischen Übergriffen wie z.B. im französischen Marseille 2015 müssen wir Antisemitismus als Tatmotiv klar benennen. Diese Gefahren wurden lange unterschätzt. Zweitens möchte ich wissen, wer in seinem Umfeld von dieser Tat wusste und ihm womöglich bei der Vorbereitung geholfen hat. Wenn ich mir die Anklage anschaue, so scheint die Bundesanwaltschaft zu glauben, dass der Fall geklärt ist, sie glauben, dass der Mann Einzeltäter war von Anfang bis Ende. Das gefällt mir nicht. Ich würde nicht sagen, dass es nicht stimmt, was in der Anklageschrift steht, aber für mich ist die Anklageschrift nicht vollständig. Was wusste seine Familie von seinen Einstellungen und seinen Plänen? Vielleicht wusste seine Mutter nicht, dass er am 9. Oktober diesen Anschlag begehen wollte, aber sie wusste sicherlich, welche Einstellungen ihr Sohn hatte.

Ich werde auch häufig nach meiner Einschätzung zum Verhalten der Polizei gefragt, weil es daran große Kritik gibt. Das ist nicht einfach zu beantworten, die Situation ist komplex. Ja, es gab keine Polizeipräsenz vor der Synagoge an diesem Tag. Aber die Zusammenarbeit mit der Polizei war vor dem Anschlag gut und ist jetzt noch besser. Ich hatte absolutes Vertrauen in die Polizei. Wenn die Polizei sagt, dass das nicht notwendig ist, okay. Ich habe möglicherweise meine eigene, private Meinung dazu. Aber die sind die Fachleute, nicht ich. Sie entscheiden, ob sie vor Ort sein müssen oder nicht. Ich weiß nicht, warum die Einschätzung der Sicherheitslage durch die Polizei hier in Sachsen-Anhalt anders ist als zum Beispiel in anderen Bundesländern und Städten wie Berlin oder München. Gemeindemitglieder fragen mich immer wieder, warum das so ist, aber ich kann das nicht beantworten, das entscheiden die Behörden und wenn ich nachfrage, geben sie mir immer wieder dieselbe Antwort, dass sie regelmäßige Einschätzungen machen und daran gemessen entscheiden, ob eine Präsenz notwendig ist, oder nicht.

Zwei Beispiele dazu: Im Sommer 2014 während des Gaza-Krieges gab es häufiger von uns nicht angefragte Polizeipräsenz an unserer Synagoge, das fand ich angemessen. Im Dezember 2016 nach dem Terroranschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz habe ich Polizeipräsenz angefordert, weil wir in einem größeren Raum, nicht in der Synagoge, Chanukkah gefeiert haben. Der Raum war relativ ungeschützt. Da haben sie Unterstützung abgelehnt, weil sie es nicht für notwendig gehalten haben. Unserem Sicherheitsgefühl nach wäre es notwendig gewesen. Daher haben wir einen privaten Sicherheitsdienst beauftragt, der aber natürlich die Polizei in Gänze nicht ersetzen kann. Danach haben wir noch einmal überlegt, wie wir als Gemeinde mögliche Sicherheitsmaßnahmen aufbauen und umsetzen können. Dass diese Maßnahmen funktioniert haben, zeigt der 9. Oktober. Sie hätten aber nicht funktioniert, wenn der Anschlag seitens des Attentäters besser vorbereitet gewesen wäre und wenn er bessere Waffen gehabt hätte. Unsere Sicherheitsmaßnahmen können polizeiliche Maßnahmen nicht in Gänze ersetzen. Das können und sollten sie aber auch nicht.

Daher frage ich mich schon, wenn die Polizei und das LKA die Fachleute sind, warum kam es dann am 9. Oktober 2019 zu einer Fehleinschätzung? Wenn die Polizei jetzt behauptet, dass sie nicht wussten, dass Jom Kippur war, was soll ich dazu sagen? In jedem Jahr versendet der Landesverband Jüdischer Gemeinden Sachsen-Anhalt den jüdischen Jahreskalender an die Staatskanzlei, das Innenministerium und weitere Ministerien und die kreisfreien Städte. Dieser Kalender enthält auch Erklärungen zu den wichtigsten jüdischen Festen und Feiertage. Daher haben wir die Polizei nicht gesondert darüber informiert. Vermutlich wurden diese Informationen nicht weitergeleitet. Aber ja, was soll ich sagen, der Attentäter wusste es. Auch wenn die Zusammenarbeit mit der Polizei jetzt glücklicherweise innerhalb von Sekunden funktioniert, hinterlässt diese Situation ein komisches Gefühl. Dennoch ist es so, dass man sehr oft die Polizei für alle möglichen Fehler die Schuld gibt. Die Polizei ist ein Bestandteil dieser Gesellschaft, sie ist ein Abbild davon. Und in dieser Gesellschaft gibt es Probleme und die zeigen sich auch bei der Polizei, das muss politisch angegangen werden und zwar proaktiv und nicht immer nur reaktiv.

Was erhoffen Sie sich von dem Prozess?

Ich hoffe, dass meine Fragen beantwortet werden können und dass die Öffentlichkeit, die Politik und Behörden daraus lernen. Und ich wünsche mir, dass es ein gerechtes Urteil geben wird.

 

Weitere Informationen zum Gerichtsprozess: Gemeinsam mit NSU-Watch dokumentiert der VBRG den Prozess auf Deutsch, Englisch und Russisch. Auf dem Blog halle-prozess-report.de werden Prozessdokumentationen, Berichte und Eindrücke aus Perspektive der Nebenklage im Austausch mit Nebenkläger*innen, Aktivist*innen und Unterstützer*innen veröffentlicht.

*Einige Nebenkläger*innen haben in ihrem Statement zum Prozessbeginn Medienschaffende dazu aufgerufen, den Namen des Attentäters nicht zu nennen, um ihm selbst keine Plattform zu bieten. Dieser Forderung wollen wir hier nachkommen.

 

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