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Interview Antisemitismus in der Jugendarbeit: „Da gehen wir in die Reibung“

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Symbolbild Gruppe

Als ein Video für ein Präventionsprojekt gedreht werden soll, öffnet ein junger Mann vor laufender Kamera den Reißverschluss seiner Jacke und präsentiert seinen Kettenanhänger mit einer Silhouette „Palästinas“: Das historische Mandatsgebiet ohne Israel. – „So, wie die Juden sich in Israel benehmen, kann ich verstehen, dass man sie schützen muss“, lautet der Kommentar eines Pädagogen, als ein Rabbiner im Jugendclub von den Sicherheitsvorkehrungen vor jüdischen Einrichtungen berichtet.

Jugendarbeit ist für die Bekämpfung des immer offener auftretenden Antisemitismus ein wichtiges Aktionsfeld. Dabei geht es weniger um Materialien und Methoden, sondern um die Haltung, mit der Sozialarbeiter*innen, Erzieher*innen und andere Fachkräfte die Jugendlichen – oder auch die Kolleg*innen – ansprechen.  Mirag*(*Name ist geändert) ist seit sechs Jahren Sozialarbeiter in Berlin. Er arbeitet vor allem mit jungen Menschen, deren Eltern oder Großeltern aus palästinensischen Gebieten oder dem Libanon nach Deutschland geflüchtet sind. Wir haben mit ihm darüber gesprochen, wie ihm Antisemitismus im Berufsalltag begegnet und welche Empfehlungen er für den professionellen Umgang damit geben kann.

Wann und wie begegnet dir Antisemitismus und Israelbezogener Antisemitismus in der sozialen Arbeit?          

Allgemein äußert sich der Antisemitismus ähnlich wie in der Gesamtgesellschaft auch, unter Kolleg*innen, Kooperationspartner*innen oder eben Jugendlichen. Leute brennen geradezu darauf, Israel zu kritisieren. In meinem Berufsalltag arbeite ich vor allem mit muslimisch sozialisierten Jugendlichen, die auf unterschiedlichste Art und Weise einen Bezug zu Palästina haben. Und da wird’s natürlich ganz konkret, weil es sich um die persönliche Biographie handelt. Ich erlebe als Sozialarbeiter immer wieder, dass abwertend über Israelis oder „Zionisten“ gesprochen wird. Wenn die Jugendlichen emotional werden, dann wird von manchen auch von „den Juden“ geredet.

Wie sieht so eine Situation konkret aus?

Die Beziehung zu den Jugendlichen ist sehr wichtig. Sie wissen, bei mir können wir ehrlich über diese Themen reden. Und dann sagen sie auch Sachen, die sie so in der Schule oder in der Öffentlichkeit nicht sagen würden. Oft diskutieren wir über den Nahostkonflikt. Die Jugendlichen sind dann oft aufgebracht. Hier geht es nämlich um persönliche und sehr individuelle Geschichten. Es wird dann über Erfahrungen von ihren Tanten oder Vätern geredet. ich habe sehr intensive Momente mit den Jugendlichen zusammen erlebt. In solchen Situationen kommen die antisemitischen Stereotype besonders offensichtlich zum Vorschein. Interessant zu beobachten ist, dass einige Jugendliche ihren Antisemitismus zum Teil selbst reflektieren.

Was genau meinst du damit?

Beispielsweise haben wir einmal einen Filmabend zum Thema Nahostkonflikt zusammen gestaltet. Ein Jugendlicher, der so Anfang 20 war, wollte nicht, dass die jüngeren Jugendlichen dabei sind. Er meinte zu mir, er wolle nicht, dass „die Kleinen sehen“, wie er „beim Thema Juden und Israel abgehe“. Das hat mir gezeigt, dass dieser Jugendliche selbst reflektiert, wieviel Hass und Vorurteil in ihm steckt.

Wie gehst du damit um?               

Wenn ich mit den Jugendlichen zusammenarbeite, erzähle ich, dass ich im Kibbuz in Israel war. Generell betone ich, dass ich in „Israel/Palästina“, also in beiden Gebieten, war. Ich versuche           allein durch meinen Sprachgebrauch ein Bewusstsein zu schaffen. Und damit auch, die Existenz      Israels hervorzuheben, ohne einen wichtigen Teil ihrer Identität, nämlich ihre palästinensische Herkunft, zu negieren.

Außerdem finde ich es wichtig, jungen Menschen mit einem gewissen Respekt und mit einer gewissen Haltung zu begegnen. Dabei bleibe ich aber als Sozialarbeiter kritisch akzeptierend. Und das bedeutet, dass ich sie als Jugendliche akzeptiere, so, wie sie sind. Ich nehme ihre persönlichen Geschichten ernst. Aber ich nehme sie auch in ihrem abwertenden Verhalten ernst. Ich nehme sie auch in ihrem Antisemitismus ernst. Und das ist der Punkt, an dem ich kritisch werde. Ich gehe dann mit den Jugendlichen in durchaus reibungsvolle Diskussionen. Aber eben auf Augenhöhe!

Wie reagieren Kolleg*innen auf antisemitische Äußerungen?               

Das kommt auf das Team an und wie sicher sie sich in der Thematik fühlen. Oft fühlen sich Sozialarbeiter*innen nicht sicher, wenn es um so ein komplexes Thema geht, und wissen nicht, wie sie reagieren sollen.

Welche Erfahrungen hast Du mit Antisemitismus im Kollegium gemacht?

Auch da habe ich unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Beispielsweise meinte ein Kollege, dass der Begriff Antisemitismus fehlleitend wäre, weil viele der Jugendlichen auch Semiten seien und deswegen nicht antisemitisch sein könnten. Und solche Aussagen kommen dann von einem Erwachsenen und nicht von einem 18-Jährigen. Solche Argumentationen, die doch von Rechten und Fundamentalisten benutzt werden, um Arbeit gegen Antisemitismus zu delegitimieren.

Was könnten langfristige Strategien sein, um Jugendliche für antisemitische Denkstrukturen zu sensibilisieren?          

Die Jugendlichen fühlen sich in der weiß-deutschen Gesellschaft nicht anerkannt. Sie reden von sich nur als Palästinenser oder als Berliner. Es muss langfristig deutlich werden, dass Einwanderungsgeschichte auch deutsche Geschichte ist; beispielsweise auch im Geschichtsunterricht. Die Jugendlichen verharren ständig in einer Abwehrhaltung. Sie haben das Gefühl, Ihnen wird nie zugehört. Aber in dem Moment, in dem ich ihre Geschichte auch sichtbar mache und ihre Rassismuserfahrungen ernstnehme, kommen sie aus der Abwehrhaltung raus. Und dann habe ich erst einen Ansatzpunkt, um in die Probleme reinzugehen.

Ich will damit gar nicht sagen, dass es dann keinen Antisemitismus mehr geben würde! Aber man könnte dem Ganzen ein Stück weit den Wind aus dem Segeln nehmen. Denn wenn ich das geschafft habe, kann ich auch mit den Jugendlichen über andere Formen des Antisemitismus wie beispielweise verkürzte Kapitalismuskritik reden. Außerdem finde ich es an dieser Stelle wichtig zu betonen, dass man diese Form von Hass auf Juden und Jüdinnen ja auch immer wieder in der weiß-deutschen Gesellschaft sieht: Man braucht nicht die arabische Herkunft, um israelbezogenen Antisemitismus zu reproduzieren.

Was empfiehlst Du für eine empowernde, antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit?    

Fragen stellen: Was sind deine Bedürfnisse, was sind deine Erfahrungen in dieser Gesellschaft, woher kommen deine Ansichten? Ich möchte dich verstehen und ich möchte auch deine Wut und deine Trauer verstehen. Aber ich nehme dich auch ernst in den Ressentiments, die du hast. Egal ob‘s antisemitisch, rassistisch oder sexistisch ist, das lasse ich so nicht stehen. Da gehen wir in die Reibung, da gehen wir in die Diskussion, eben weil ich die Jugendlichen als Personen ernstnehme.

Außerdem brauchen auch wir als Sozialarbeiter*innen mehr Fortbildungen. Weil wir Teil dieser rassistischen, sexistischen und antisemitischen Gesellschaft sind. Diese Ressentiments stecken auch in uns. Das merke ich bei mir selber, aber auch bei Kolleg*innen. Und daran müssen wir gemeinsam arbeiten.

Mirag* haben wir im Rahmen des Workshops „Antisemitismus und Nahostkonflikt- pädagogische Intervention“ kennen gelernt. Die ju:an- Praxisstelle antisemitismus-und rassismuskritische Jugendarbeit bietet Beratung, Coaching und Fortbildungen für Fachkräfte und Multiplikator*innen in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit an.

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