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Interview „Das Selbstbild vom ‚deutschem Fleiß‘ gibt es nicht ohne die Faulheit der Anderen“

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Im Gespräch: Der Sozialphilosoph und Mitarbeiter der Amadeu Antonio Stiftung Nikolas Lelle
Im Gespräch: Der Sozialphilosoph und Mitarbeiter der Amadeu Antonio Stiftung Nikolas Lelle (Quelle: Nicholas Potter)

Nikolas Lelle arbeitet bei der Amadeu Antonio Stiftung als Projektleiter der „Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus“. Im August 2022 erschien sein Buch „Arbeit, Dienst und Führung: Der Nationalsozialismus und sein Erbe“ im Verbrecher-Verlag. 2018 gab er zusammen mit Felix Axster den Sammelband „‚Deutsche Arbeit‘. Kritische Perspektiven auf ein ideologisches Selbstbild“ heraus.

Belltower.News: Sind die Deutschen wirklich so fleißig, arbeiten sie wirklich so viel härter als andere?
Nikolas Lelle: Nein. Aber worum es mir geht, ist, warum sie das glauben. In meinem Buch wollte ich untersuchen, woher dieses Selbstbild kommt, dass die Deutschen angeblich „besser“ oder sogar „gemeinnütziger“ arbeiten – und welches Fremd- oder Feindbild dem gegenübersteht.

Nämlich?
Die Idee ist sehr alt, nimmt aber Fahrt auf im 19. Jahrhundert, also zu einer Zeit, in der die Deutschen sich überhaupt als Nation samt Schwarzrotgold und Deutschlandlied erfinden. Dieses Selbstbild ist eine Antwort auf die Frage, was eigentlich „deutsch“ überhaupt ist: eine ganz besondere Beziehung zu Arbeit, eine Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber, Arbeiten für die Familie. Und schon damals ist die Idee, sich damit von inneren und äußeren Feinden abzugrenzen, vor allem von „den Juden“. Denn das Selbstbild vom ‚deutschem Fleiß‘ gibt es nicht ohne die Faulheit der Anderen.

Spielte diese Vorstellung von Arbeit auch schon eine Rolle für den deutschen Kolonialismus?
Ja, der Historiker Felix Axster hat systematisch untersucht, wie sich über den Arbeitsbegriff kolonialer Rassismus und Antisemitismus treffen. Die Deutschen glaubten auch, eine ganz besondere Art zu kolonialisieren zu haben. Anders als die Engländer und die Franzosen würden sie aus Gemeinnutz handeln: Sie kolonialisieren nicht für sich, sondern um die Kolonialisierten voranzubringen.

Dieses Selbstbild der Deutschen radikalisierte sich mit dem Nationalsozialismus…
Genau. Das NS-Konzept der Volksgemeinschaft ist von vornherein antisemitisch. Die Nazis schreiben schon 1920 in ihrem Parteiprogramm, dass Juden keine Volksgenossen sein können. Und Arbeit ist nur dann deutsch, wenn sie der Volksgemeinschaft dient. Das Gegenbild zu dem angeblich gemeinnützig arbeitenden Deutschen ist „der Jude“, der immer nur aus Eigennutz, in die eigene Tasche arbeite. Aber zum Beispiel auch Slawen würden weniger arbeiten oder seien fauler als Deutsche. Oder Sinti und Roma, die im Nationalsozialismus vor allem mit einer Vormoderne vor der Arbeitsgesellschaft assoziiert werden, würden auch keine „richtige“ Arbeit leisten.

„Arbeit macht frei“ dürfte die bekannteste NS-Parole sein. Was bedeutet sie aber überhaupt?
Es gibt erstaunlich wenig Auseinandersetzung und Analysen zu dieser Frage. Irgendwann Mitte der dreißiger Jahre entscheiden die Nationalsozialisten, diesen Spruch an ein Konzentrationslager anzubringen. Später ist er allgegenwärtig: Man findet ihn in Dachau, Flossenbürg, Auschwitz und an weiteren Orten. Doch es ist weder klar, wer die Parole erfunden hat, noch wer entschieden hat, dass sie aufgenommen wird. Es ist damals kein geflügeltes Wort wie „Jedem das Seine“. In Dachau ist die Parole so angebracht, dass sie auch Anwohner*innen beim Vorbeilaufen lesen können. In Auschwitz ist das anders: Dort wird sie so angebracht, dass die Arbeitskolonnen der Zwangsarbeiter*innen sie nach dem Arbeitstag beim Hineinlaufen lesen können. Aber die meisten Häftlinge sind zunächst russische Kriegsgefangene und politische Gefangene aus Polen, die kein Deutsch können. Insofern hat es vor allem auch eine Bedeutung für die deutschen KZ-Aufseher*innen.

Was hat „Arbeit macht frei“ aber mit der Massenvernichtung der Juden zu tun?
Ein Strang im Antisemitismus, in der Ablehnung alles Jüdischen, läuft über Arbeit. So wird aus verschiedenen Gründen argumentiert, warum Juden gehasst und verfolgt werden müssen. Ein Grund ist, weil sie eine ganz andere Form der Arbeit, eine Form der „Anti-Arbeit“ machen würden, die korrumpiert, die die Volksgemeinschaft zersetzt und deshalb aus der Welt verschwinden muss. In den Konzentrationslagern selbst wird Arbeit für Jüdinnen und Juden zu einer Form der Sanktion, der Repression, dient aber vor allem der Vernichtung. Die, die selektiert worden sind und nicht sofort sterben müssen, werden durch Arbeit umgebracht.

Auch ein gewisser Stolz auf Qualität und Effizienz gehört zur modernen Auffassung von Arbeit in Deutschland: „Made in Germany“, wie es auf dem weltberühmten Exportsiegel heißt. Sieht man auch das schon bei den Nationalsozialisten?
Ein Strang dieser Vorstellung war schon immer auch, dass „deutsche Arbeit“ qualitativ wertvoll und besonders effizient ist, wie etwa ein präziser Maschinenbau. Im Nationalsozialismus sieht man das auch daran, wie viel Mühe sich die Firma „Topf und Söhne“ gibt, die Verbrennungsöfen in Auschwitz so zu konzipieren, dass möglichst viele Leichname in kurzer Zeit verbrannt werden können. Es gibt einen gewissen Stolz darauf, möglichst industriell und effizient zu arbeiten. Denn es geht in Auschwitz nicht nur um Vernichtung durch Arbeit, sondern auch um Vernichtung als Arbeit: Die Lager waren auch Arbeitsplätze. In Berichten von Überlebenden liest man, dass zum Beispiel KZ-Aufseher*innen besonders fest prügeln, wenn der Vorgesetzte zusieht. Oder man zeigt ihm, dass man besonders viele Häftlinge zur Arbeit zwingen kann.

Was passiert ab 1945? Gibt es überhaupt einen Bruch mit dem Arbeitsbegriff der Nationalsozialisten?
Nein. Und darüber kann man viel über die Aufarbeitung der deutschen Geschichte lernen. Nach Kriegsende werden gewisse Formen des Antisemitismus und der Vorstellung von der „deutschen Herrenrasse“ nicht mehr im selben Sinne artikuliert wie vorher. Die müssen sich kodieren, verstecken oder können nur in bestimmten politischen Kreisen gesagt werden. In Bezug auf die „deutsche Arbeit“, die nicht explizit als politisch wahrgenommen wurde, gibt es aber keinen großen Bruch: Die Leute, die nach 1945 in den großen Fabriken Reden halten, reden genauso wie vorher. So nach dem Motto: Wir haben schwere Zeiten hinter uns, aber wir packen jetzt gemeinsam an und unsere Arbeit holt uns wieder aus dem Elend raus. Hannah Arendt reiste Anfang der 1950er Jahre nach Deutschland und schrieb, dass es diese Umtriebigkeit, diese Tüchtigkeit der Deutschen war, die zur Abwehr der eigenen Geschichte und der eigenen Erinnerung diente.

Was bleibt heute von diesem Selbstbild der Deutschen als fleißige Arbeiter?
Sofort fallen die Bilder von „anderen Völkern“ ein, die angeblich weniger arbeiten würden und fauler seien als die Deutschen. Dieses Bild sieht man zum Beispiel ab der Finanzkrise 2008 mit Presseberichten und Politikerreden von den „faulen Griechen“, die sich selbst in die Krise geritten hätten. „Wir Deutsche“ hingegen packen an, wir schaffen das. Oder auch ab 2015, als über eine Million Geflüchtete in Deutschland ankommen, wird diese Vorstellung von Arbeit und Nicht-Arbeit besonders virulent: Geflüchtete würden hierherkommen, viele Kinder bekommen, aber dem Steuerzahler auf der Tasche liegen, so der Tenor Rechtsaußen. Sie seien faul und hätten kein „deutsches Verhältnis“ zu Arbeit. Diesen Topos gibt es auch in der Verschwörungserzählung des „Großen Austausches“.

Hörst du Echos von diesem Arbeitsbegriff der Nationalsozialisten in der Rhetorik der AfD?
Es gab in AfD-Kreisen, wie etwa von Björn Höcke, immer mal wieder Versuche, sich eine „nationale Sozialpolitik“ vorzustellen, also zum Beispiel eine Rente nur für Deutsche. Das ist nicht Hauptagitationspunkt der Bundespartei, aber in sehr vielen Reden von Höcke spielt diese Idee eine große Rolle: Wir Deutschen sind weltweit dafür bekannt, was wir für eine besondere Arbeit leisten. Das schließt auch an Texte von Thilo Sarrazin an, der einige Jahre davor immer schon mit diesem „deutschen Fleiß“ und der angeblichen Faulheit der anderen argumentiert hat.

Angesichts des Ukraine-Kriegs droht ein „heißer Herbst“ – und ein sozial harter Winter. Werden solche Selbst- und Feindbilder mit Blick auf Arbeit wieder Hochkonjunktur haben?
Das sehen wir schon am vergangenen Wochenende in Magdeburg, wo es soziale Proteste aus dem rechten Spektrum um die Frage gab, wie man mit der Energie-Versorgungskrise umgeht. Und da spielt die Vorstellung wieder eine große Rolle, dass „die anderen“, in diesem Fall Geflüchtete aus der Ukraine, arbeitsscheu seien und oft mehr Geld erhalten würden als die „ehrlich“ arbeitenden Deutschen. Also je nachdem wie die kommenden Monate ausgehen, kann es gut sein, dass diese Selbst- und Fremdbilder „deutscher Arbeit“ wieder artikuliert werden.

Arbeit, Dienst und Führung: Der Nationalsozialismus und sein Erbe
Nikolas Lelle
Verbrecher Verlag
Broschur, 368 Seiten

 

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