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Interview „Geithain ist meine Heimat, aber auch meine Hölle.”

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Jakob Springfeld bei seiner Lesung in Geithain. (Quelle: Paul Podbielski)

Am 24. November 2023 organisierte die Familie Meyer* eine Lesung mit Jakob Springfeld in der Kulturwerkstatt Geithain. Der Grund: Die Stadtverwaltung hatte Thilo Sarrazin für denselben Abend eingeladen und ihm die Möglichkeit gegeben, seine rassistischen Ansichten zu verbreiten. Es ist nicht das erste mal, dass der Ort auffällt. Das Projekt Chronik LE hat schon 2019 die „Geithainer Zustände“ veröffentlicht und spricht von einer „Normalisierung (ehemaliger) Neonazis” in der Kreisstadt.

Am Abend fanden fast 50 Personen ihren Weg in die Kulturwerkstatt, um den Schilderungen Springfelds zu folgen und um über Lösungsansätze für die Region zu diskutieren. Der Klimaaktivist hatte 2022 sein erstes Buch veröffentlicht, in dem um sein Aufwachsen in Zwickau geht: „Unter Nazis”. Wir haben uns mit den Meyers und Jakob unterhalten.

Alex, Martina, Rainer, warum habt ihr die Lesung organisiert?
Martina: Wir wussten, was für rassistische Bücher Thilo Sarrazin schreibt. Und dann kam die Ankündigung für die Lesung in Geithain, für die selbst der Bürgermeister Werbung gemacht hat. Da haben wir gedacht, wir müssen hier was tun, wir müssen uns was einfallen lassen. Alex hatte die Idee: „Lass doch mal Jakob fragen”. Gesagt, getan, und so ging die Orga-Arbeit los.

Hat es euch überrascht, dass es die Stadtverwaltung Geithain war, die Thilo Sarazin eingeladen hat?
Rainer: Es gibt in Geithain ein Amtsblatt, das einmal im Monat in die Haushalte geflattert kommt. Auf der ersten Seite gibt der Bürgermeister seine Weisheiten von sich.  Dort hat er im Sommer beworben, dass Thilo Sarrazin zu uns kommt. Das war für mich ein Punkt, an dem ich dachte „Irgendwas muss passieren.” Ich hatte gar keine Vorstellung was genau.

Alex: Mich hat die Werbung durch den Bürgermeister nicht gewundert. Eine Gänsehaut habe ich dann aber bekommen, als ich gelesen habe, dass unter der Ankündigung auf der Website der Stadt nicht etwa der Name des Bürgermeisters steht, sondern die Stadtverwaltung Geithain. Und dann wird auch noch das Bürgerhaus genutzt und nicht irgendeine Kneipe in einer kleinen Gasse. Das hat mich noch mehr erschreckt.

Wie sind die Geithainer Zustände? 
Martina: Unsere Kinder sind beide weggezogen. Wenn wir uns politisch stark machen, dann eher in einer Nachbarstadt, weil es dort noch eine Szene gibt, die zusammenhält und etwas tut. In Geithain haben wir das Gefühl, wir stehen allein da. Bestimmt gibt es auch Menschen, die voll cool sind, aber die kennen wir nicht. Das sehe ich als ganz großes Problem im ländlichen Raum, dass die Leute, die gute Ideen haben, die alternative Aktionen auf die Beine stellen würden, leider nicht vernetzt sind.

Alex: Als du von Geithainer Zuständen gesprochen hast, musste ich sofort an die Corona-Zeit denken. Damals haben wir als Familie versucht, etwas gegen die Querdenken-Proteste in Geithain zu machen. Wir haben uns jede Woche auf dem Markt versammelt, auch wenn wir deutlich in der Unterzahl waren. Trotzdem war es sehr auffällig, dass immer nur Leute von außerhalb kamen, aus Rochlitz, Colditz, Chemnitz, Leipzig oder Borna.

Ich denke sehr oft daran zurück, weil es währenddessen mehrere Übergriffe auf die Gegendemonstrationen gab. Einem Menschen wurde ins Gesicht geschlagen. Erst im Nachhinein stieg die anwesende Polizei aus ihren Autos aus.

Rainer: Als der erste Angriff auf unsere Demo stattgefunden hat, gab es am nächsten Montag ein massives Polizeiaufgebot zum Schutz. Das wurde dann aber nach drei Wochen wieder so besprochen, als wären die Linken die Schuldigen für den massiven Polizeieinsatz gewesen, als würden wir den Frieden in der Stadt stören.

Wie geht ihr mit der Situation um? 
Alex: Ich bin nach Chemnitz gezogen, um mein Abi zu machen. Trotzdem habe ich gemerkt, dass die Veranstaltung heute hier für mich ein Herzensthema war und mich bestärkt hat, wieder etwas in Geithain zu machen. Jakob hat am Ende der Lesung Zwickau beschrieben. Genau so ein Gefühl habe ich bezüglich Geithain, es ist irgendwie meine Heimat, aber auch meine Hölle. Nach den Übergriffen bei den Protesten hatte ich lange Angst, durch die Stadt zu laufen.

Jakob, du hast in Zwickau ähnliche Erfahrungen gemacht? 
Jakob: Ja, würde ich sagen. Dennoch ist Zwickau einfach größer als Geithain und man kann sich besser aus dem Weg gehen. Es frustriert mich, gerade nach den vielen Lesungen, dass es solche Geschichten, wie ihr sie erzählt habt, überall gibt. Auf der anderen Seite trifft man dann Leute, die trotzdem so eine Veranstaltung hier durchziehen. Daran versuche ich zu denken, wenn es darum geht, die Motivation zu finden, um weiterzumachen. Aber man muss das auch gar nicht so vergleichen. Ich glaube jede Erfahrung ist beschissen und hat ein Recht benannt zu werden

Was wünschst du dir, damit die Situation besser wird?
Jakob: Es braucht sicherere Räume auch in kleinen Städten. Es braucht Beratungsangebote jenseits von Chemnitz, Dresden, Leipzig und Ansprechpartner*innen für Betroffene auch in Orten wie Geithain, Grimma, Bautzen, Zwickau und Co. In Zeiten wie diesen sollte die Bundesregierung nicht darüber diskutieren, die Mittel für die Bundeszentrale für politische Bildung zu streichen oder zu kürzen. Man sollte gerade während der multiplen Krisen keine Jugendsozialarbeit wegstreichen, doch genau das ist in den letzten Jahren leider oft passiert.

Politische Bildungsarbeit sollte etwas sein, was in den Schulen stattfindet und von der Stadt gemacht wird, statt die Zivilgesellschaft damit alleine zu lassen. Es ist wichtig, dass wir alle in der Verantwortung sind. Nicht nur Städte und Regierungen, Parlamente und Co. Dennoch ist das, was von Menschen in solchen Orten wie Geithain abverlangt wird, ein bisschen too much.

Was muss passieren, damit die Situation in Geithain besser wird?
Rainer: Für Geithain würde ich mir wünschen, dass es fähige Menschen gibt, die sich auch zutrauen, im Stadtrat mitzuarbeiten. Dass die rechte Gesinnung im Stadtrat nicht so Überhand hat, sondern dass es einen vernünftigen Gegenpol gibt, dass solche Veranstaltungen wie die Lesung von Sarrazin gar nicht erst Thema der Stadtverwaltung werden. Das ist ein übles Zeichen, wenn die Stadt Sarrazin einlädt.

Alex: Es braucht niedrigschwellige Demokratiebildung, zu der nicht nur privilegierte Menschen Zugang haben. Stattdessen sollte Demokratiebildung in allen Bereichen eine Rolle spielen.

Martina: Ich wünsche mir, dass es nicht nur bei der Hoffnung bleibt. Wir müssen uns vernetzen. Es muss jetzt losgehen. Um nicht nur von einer schönen Zukunft zu träumen, sondern auch etwas dafür zu unternehmen.

Jakob, du hast in kleineren und auch in größeren Städten Lesungen abgehalten. Hast du dabei einen Unterschied bemerkt?
Jakob: Also natürlich waren die Lesungen auch von Kleinstadt zu Kleinstadt unterschiedlich, aber ich glaube, der ganz grobe Unterschied ist, dass Leute in größeren Städten manchmal zum ersten Mal von den Problemen hören, während Leute in Kleinstädten sehr viele ähnliche Erfahrungsberichte schildern können. In kleineren Orten ist es meistens so, dass die Lesungen oft ein Raum sind, um über Ängste zu sprechen. Das auch einfach mal auszusprechen, was einen so ankotzt, kann für viele ziemlich empowernd sein.

In größeren Städten sind dann manchmal Ursachen, Debatten und „Warum gerade Sachsen?” die Themen. Das kotzt mich oft ein bisschen an, weil ich lieber öfter, wie heute, im Anschluss einer Lesung darüber sprechen würde, was wir tun können, anstatt immer wieder zu hinterfragen, was es für historische Ursachen für diese ganze Problematik gibt, auch wenn das natürlich auch wichtig ist.

Was war euer Eindruck von der Lesung? Wie lief es? 
Martina: Na, ich habe bis gestern gedacht: „Familie Meyer sitzt alleine da.” Dann habe ich mich so gefreut, dass so viele Leute gekommen sind. Ich hätte jeden umarmen und eine Praline in die Hand drücken können.

Alex: Als ich auf dem Weg hierher war, hatte ich schon richtig Angst, wie das so wird, weil Jakob extra hierherkommt. „Dann kommen nur wir und noch ein paar mehr.” habe ich gedacht. Ich habe noch versucht, meine alten politischen Freunde aus der Jungen Gemeinde, einem der ersten Orte, an dem ich politisiert wurde, ran zu holen. Da habe ich nur Absagen bekommen. Mit 10, 15, optimistisch 20 habe ich gerechnet, alles natürlich inklusive unserer Familie. Als ich in den Raum reinkam, waren es mehr als das Doppelte. Ich war wirklich richtig glücklich. Außerdem habe ich mich über den Austausch gefreut, darüber, wie wir den ländlichen Raum stärken oder verändern können. Da kam aus jeder Richtung und aus jeder Altersgruppe etwas.

*Name geändert

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