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Interview „Wo ist die schweigende demokratische Mehrheit?”

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Jakob Springfeld, der Autor des Buches "Unter Nazis" (Quelle: Jakob Springfeld)

Belltower.News: In deinem Buch beschreibst du die Gefahr, die politisches Engagement in Zwickau mit sich bringt. Gab es Reaktionen von Neonazis auf die Veröffentlichung?

Jakob Springfeld: Es gab kurz vor der Veröffentlichung des Buches eine Abmahnung aus der extrem-rechten Szene. Wahrscheinlich ein Versuch, den Buchrelease zu verzögern. Aber jetzt, wo die mediale Aufmerksamkeit da ist, halten die Neonazis die Füße still. Allerdings bin ich auch einfach vorsichtig. Wenn ich in Zwickau bin, dann passe ich auf, abends nicht allein unterwegs zu sein und lasse mich öfter vom Bahnhof abholen, als ich das vielleicht früher gemacht hätte.

Du wurdest zum Glück noch nie körperlich angegriffen, aber schilderst in deinem Buch mehrere Erlebnisse, bei denen du bedroht wurdest. Wie ist die Situation in deinem Umfeld?

In meinem näheren Umfeld sind mir auch keine physischen Angriffe bekannt. Aber zu rechtsextremer Gewalt kommt es trotzdem immer wieder. Erst Anfang November wurde ein 30-jähriger Syrer von mehreren mutmaßlichen Neonazis zusammengeschlagen. Und nach dem „Christopher Street Day“ im Sommer gab es auch Übergriffe. Es bleibt also auf jeden Fall ein akutes Problem, auch durch die konstant bleibenden Teilnehmendenzahlen bei den Montagsprotesten.“

In deinem Buch sprichst du auch über die Erfahrungen von Jan, der während der sogenannten „Baseballschlägerjahre“ groß geworden ist. Hat sich die Situation seitdem verändert?

Ich glaube, die Baseballschlägerjahre haben nie wirklich aufgehört, aber die Gewalt hat sich verändert. Damals traf sie in der Region primär Punks oder Linke, auch weil hier kaum Menschen mit Migrationsgeschichte lebten. Heute sind viele weitere betroffen. Jetzt ist die Gewalt sehr „zufällig“ worden. Gerade für von Rassismus betroffene Personen kann es reichen, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Die Perspektive in meinem Buch ist daher immer noch privilegiert. Eine politische Meinung kann man ablegen oder für sich behalten und woanders hinziehen. Rassifizierte Personen können der Bedrohung nicht so einfach entgehen.

Du schreibst in deinem Buch, dass „Räume besetzen“ eine Strategie der Neonazis in Zwickau ist. Was genau kann man sich darunter vorstellen?

An Orten, wo sich junge Leute aufhalten, befinden sich dann zu allen möglichen Tageszeiten auch immer eine Gruppe junger Neonazis. Als alternativ aussehende oder von Diskriminierung betroffene Person wurde man beleidigt, wenn man vorbeigelaufen ist. Am Skatepark kam es dann beispielsweise zu Auseinandersetzungen. Und diese Orte werden oft auch mit Neonazi-Propaganda zugestickert.

Gibt es von progressiver Seite eine Gegenstrategie?

Nicht wirklich. Ich glaube, in Teilen geht diese Agenda der sogenannten Neuen Rechten auf. Es gibt auf jeden Fall Orte und Tageszeiten, an denen man bestimmte Stellen in Städten wie Zwickau vermeidet. Mein Eindruck ist, dass selbst Bürgermeister*innen und Stadträt*innen Angst haben, Stellung zu beziehen. Ich kann es auf individueller Ebene sogar sehr gut verstehen, dass man sich in Zwickau nicht antifaschistisch oder demokratisch positionieren will. Das führt zwangsläufig zu Bedrohungssituationen. Nur muss man sich dann irgendwie fragen, ob sich eine Gesellschaft wieder zu Mittäter*innen macht?

Spätestens jetzt, wenn wieder Geflüchtetenunterkünfte brennen, wenn in Zwickau rassifizierte Menschen zusammengeschlagen werden oder links-politisch aktive Menschen Stress kriegen, dann frage ich mich immer mehr: Wo ist da noch die schweigende demokratische Mehrheit? Solange sie nicht sichtbar wird, schwindet auch der Glaube daran, dass sie überhaupt existiert. Das finde ich gerade sehr beängstigend. Die Neuen Rechten und die Montagsdemonstrationen sind zahlenmäßig die größte Bewegung in diesem Land. Das ist eine krasse Entwicklung, weil sich diese ganzen Akteure auch im Sinne der europäischen Rechten und des europäischen Rechtsrucks sehen und sich gerade so stark wie nie fühlen.

Wie hat sich der rechte Protest in Zwickau in den letzten Jahren entwickelt?

Seit mindestens drei Jahren findet jeden Montag eine Demonstration statt, man konnte sehen wie es wächst. Geflüchtete, Corona, Putin: Die Rechtsextremen schaffen es gut, alle Themen zu vereinen und es ist mittlerweile eine Systemsturzphantasie geworden. Die Demos sind zu einer Art Ritus geworden, wie der Gottesdienst am Sonntag. Gestern wurde auf der Montagsdemonstration davon gesprochen, dass Bill Gates angeblich die Patente für dunkle Wolken gekauft hat, die aus Flugzeugen gesprüht werden. Und deswegen sei das Wetter bei uns so grau. Aber alle Leute stehen davor und klatschen und hinterfragen selbst sowas nicht.

Doch dadurch, dass es jetzt schon so lange geht und wirklich jeden Montag stattfindet, gibt es überall feste extrem radikalisierte Gruppen. Dadurch konnten sie für die neuen Krisenthemen direkt auf bestehende Strukturen zurückgreifen und sie zur Mobilisierung nutzen.

Was denkst du, wenn du heute nach Zwickau kommst?

Immer wenn ich durch den Bahnhof laufe, habe ich ein mulmiges Gefühl, wieder in der Stadt zu sein. Ich habe eine sehr große innere Zerrissenheit. Ich hatte eine schöne, entspannte Kindheit und total viele coole Erlebnisse in der Stadt. Selbst angefeindet werden war nicht so schlimm, wenn man trotzdem eine politische Gruppe hat, die zusammenhält. Das stärkt einen natürlich ungemein. Und man hat da so ganz intime, ganz krasse und intensive Erfahrungen gemacht, die einen wirklich zusammenschweißen.

Gibt es Angewohnheiten aus Zwickau, die du auch in Halle behalten hast?

Ich habe krasse „Laternen-Sticker-Abkratz-Reflexe“. Und ich habe natürlich dauerhaft so einen gewissen Scanner und schaue Leute anders an, weil ich eher eine Gefahr sehe. Aber es ist nicht zu vergleichen mit Zwickau.

Verstehen deine Freund*innen in Halle die Lebensrealität, in der du groß geworden bist?

Ich hatte letztens eine sehr spannende Erfahrung. Ich war bei einem Kumpel in Hannover und wir haben den Film „Chemnitz triggert“ angeschaut. Da geht es um Betroffenenperspektiven bei den Ausschreitungen 2018 in Chemnitz und diesen ganzen Alltagsrassismus und die Anfeindungen. Ich saß da, mit meinem Kumpel aus Zwickau und wir waren so: typisch Osten, alles irgendwie wenig überraschend. Und dann waren da diese ganzen anderen Kinobesucher. Die völlig außer sich waren. Das sind Momente, wo ich checke, wie sehr sich viele Leute, die im Osten oder in Provinznestern leben, an diesen Normalzustand gewöhnt haben. Das merke ich auch manchmal. Ich reagiere nicht mehr so emotional auf Anfeindungen. Man wird abgestumpfter mit allem, was passiert.

Kannst du dir vorstellen, nach Zwickau zurückzuziehen?

Ich weiß, dass es extrem sinnvoll wäre, hierherzuziehen, weil man eigentlich genau da sein muss, wo es am meisten brennt. Aber gleichzeitig wäre es natürlich auch eine psychische Belastung und ich weiß nicht, ob ich es machen werde. Aber ich habe das Ziel immer noch vor Augen.

Gibt es noch eine Sache, die du gerne loswerden willst?

Man ist ja jetzt öfter mit Interviews konfrontiert und eigentlich hat man gar keinen Bock mehr, von diesem ganzen Bedrohungsszenario zu sprechen. Vor allem, weil ich nicht will, dass man das Gefühl bekommt, dass sich das nur auf mich zentriert und ich will auch noch mal bewusst sagen: Ich bin ein Beispiel dafür, aber es ist ein systematisches Problem, vor allem für Leute, die rassifiziert werden und Diskriminierung erleben. Aber ich denke mir, solange die Gefahr nicht weg ist, muss man, auch wenn es irgendwie weh tut und psychisch belastend ist, weiter darüber sprechen. Aber es ist manchmal nicht ganz einfach.

Jakob Springfeld studiert Politikwissenschaften in Halle. Im Oktober 2022 veröffentlichte er sein erstes Buch „Unter Nazis – jung, ostdeutsch, gegen rechts“ gemeinsam mit Issio Ehrich im Quadriga Verlag. Hier bestellbar: https://www.luebbe.de/quadriga/buecher/gesellschaft/unter-nazis-jung-ostdeutsch-gegen-rechts/id_9132790

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