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Interview mit Amcha Deutschland „Shoah-Überlebende verstehen den gegenwärtigen Antisemitismus nicht“

Im Gespräch: Lukas Welz, Vorsitzender von Amcha Deutschland
Im Gespräch: Lukas Welz, Vorsitzender von Amcha Deutschland (Quelle: Florian Krauß)

Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus: Fangen wir einmal vorne an. Wofür steht „Amcha“?

Lukas Welz: „Amcha“ ist ein Codewort, das schon während der NS-Verfolgung unter jüdischen Verfolgten zur gegenseitigen Erkennung benutzt wurde. Im deutschen Kontext lässt sich Amcha mit „du bist von uns“ oder „eine*r von uns“ übersetzen. Fragte man damals „Bist du auch jüdisch?“ und die andere Person antwortete mit „Amcha“, wusste man, dass das Verfolgungsschicksal geteilt wird.

Nach diesem Codewort ist die Organisation „Amcha Deutschland“ benannt. Welche Aufgabe hat die Organisation?

1987 hat sich ein Kreis von Überlebenden, die selbst auch Psycholog*innen waren, zusammengetan und in Jerusalem Amcha gegründet. Zunächst mehr im Sinne einer Selbsthilfeorganisation. Eine Aufgabe von Amcha in Deutschland ist es, die Organisation in Israel zu unterstützen, zum Beispiel mit Spenden. Amcha Deutschland wurde 1988 sowohl in der DDR als auch in der BRD gegründet. Wir haben zwei Hauptziele: Erstens Anerkennung für das Schicksal der Überlebenden und Verfolgten der NS-Zeit zu schaffen, zweitens den Betroffenen eine Gemeinschaft zu geben. Es geht bei der Anerkennung nicht nur um materielle Entschädigung, Reparationen, sondern auch um die Anerkennung langfristiger Folgen der Verfolgung, die sich auf einer psychischen, medizinischen oder sozialen Ebene äußern können.

Was heißt es konkret, den Überlebenden eine Gemeinschaft zu bieten?

Der psychosoziale Ansatz, den Amcha wesentlich mitgeprägt hat, besagt, dass es nicht reicht, Wunden zu schließen, sondern dass es eine ganzheitliche Rehabilitation braucht. Das bedeutet auch den politischen Kampf für Anerkennung und Gerechtigkeit sowie menschenrechtsorientierte Arbeit. Bei Amcha kommen Menschen zusammen, es finden Veranstaltungen statt. Überlebende treffen sich. In den Zentren sind sie unter Menschen, die sie verstehen, ohne dass permanent über die traumatisierenden Erfahrungen gesprochen werden muss. Es gibt auch Aktivitäten wie Yoga oder Kochkurse – alles mit therapeutischen Blick. In den Kochkursen werden beispielsweise Gerichte aus der Kindheit nachgekocht. Die Gerüche und der Geschmack triggern Erinnerungen von einer Zeit vor der Verfolgung. Viele Überlebende sind in ihren Erinnerungen „hängen geblieben“ und diese Erinnerungen begleiten ihren Alltag. Durch die Kochkurse wird eine Verbindung geschaffen zu dem Leben vor und nach der Verfolgung.

Welche Rolle spielt soziale Isolation für Überlebende?

Vielen Überlebenden fiel es schwer, Vertrauen zu anderen aufzubauen. Das Ergebnis war soziale Isolation. Oft sind die anderen Klient*innen und Ehrenamtlichen bei Amcha die einzigen Kontaktpersonen von Überlebenden außerhalb der eigenen vier Wände. Wir versuchen die Isolation aufzubrechen und die Personen in Aktivitäten einzubeziehen. Häufig sind die therapeutischen Begleitungen bei Amcha bis ans Lebensende gewollt und nötig. Die an Israel von politischer Seite aus gezahlten Entschädigungen, oft auch „Wiedergutmachungen“ genannt, gingen berechtigterweise in die Entwicklung des Landes, des Militärs und der Wirtschaft, aber davon hatten die einzelnen Menschen oft nicht viel.

Geringe Renten und Ghettorenten sowie unzureichende Entschädigungen für Überlebende machen das Altern schwer. Wie geht es den Holocaust-Überlebenden in Israel heute?

Überlebende, die heute in Israel leben, waren zur NS-Zeit hauptsächlich Kinder oder Babys. Sie wurden durch die NS-Verfolgung in ihrer kindlichen und jugendlichen Entwicklung, sei es nun körperlich, psychisch, schulisch oder beruflich verhindert. Teilweise kamen die Überlebenden mittellos und ohne Kontakte nach Israel und mussten erst ein Netzwerk aufbauen. Durch die fehlenden Bildungs- und Berufskarrieren durch die NS-Verfolgung und daraus resultierende Einschränkungen, konnten keinen Renten angesammelt werden. Insgesamt gibt es in Israel, ähnlich zu Deutschland, bei den Überlebenden eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass sie unter Armut leiden, als wenn sie nicht verfolgt worden wären.

Amcha betreute 2022 ca. 13.000 Klient*innen. Wie viele Holocaust-Überlebende gibt es heute noch in Israel?

Weltweit, so wird geschätzt, gibt es noch 350.000 Überlebende. In Israel geht man davon aus, dass dort ca. die Hälfte, also 125.000 leben. Demografisch bedingt nimmt die Zahl der Überlebenden ab. Von unseren zirka 13.000 Klient*innen im Jahr 2022 sind aber bei weitem nicht alle Holocaust-Überlebende der ersten Generation. Das sind etwa 6.000 Menschen. Dazu kommen 752 Nachkommen von Überlebenden, die eine Unterstützung erhalten. Weitere Zielgruppen sind z.B. nichtjüdische Geflüchtete aus Eritrea oder Somalia, die nach Israel gekommen sind. Aufgrund von rechter Kritik aus der Knesset wurde dies nun an die Schwester-Organisation Benhafshenu ausgelagert. Von Deutschland aus haben wir vor fünf Jahren auch ein Programm in der Ukraine gestartet.

Israel ist das Land der Holocaust-Überlebenden und jüdischen Schutzsuchenden. Wie blickt man im Land auf diese Menschen?

Mittlerweile gibt es in der israelischen Gesellschaft eine große Empathie für das Schicksal der Überlebenden. Das war nicht immer so, lange wurden sie nur als Opfer gesehen, die sich nicht gewehrt hatten und aufgrund der Schäden der NS-Verfolgung nicht zum Aufbau des Landes beigetragen hätten. Inzwischen aber werden sie oft zu Helden und Märtyrern stilisiert. Das äußert sich zum Beispiel darin, dass man mit den Überlebenden und der Erinnerung an die Shoah Politik machen und sich als Schutzmacht inszenieren kann. Beide Seiten, die Heroisierung wie auch die Viktimisierung, werden den alltäglichen und individuellen Bedürfnissen, Geschichten und Schicksalen der Überlebenden nicht gerecht. Hier versucht Amcha anzusetzen und nach den alltäglichen Bedürfnissen der Überlebenden zu schauen. Viele leben mittlerweile in Altersheimen oder Hospizen. Die therapeutische Begleitung bis ins hohe Alter und selbst für demenzkranke Personen wird von der staatlichen Seite Israels nicht immer verstanden. Amcha ist aber eine relevante Organisation, die weitgehend politische Anerkennung erfährt. Finanziell wird ein großer Teil der Leistungen über die Ansprüche auf Entschädigung für NS-Unrecht, die Claims Conference und andere, zumeist nicht-israelische Stellen getragen.

Die neue israelische Regierung denkt darüber nach, das Staatsbürgerschaftsrecht, das sogenannte Rückkehrgesetz, zu ändern. Nur noch wer eine jüdische Mutter hat, könnte demzufolge die israelische Staatsbürgerschaft bekommen. Damit würde sich auch ändern, für wen Israel eine Schutzmacht ist. Der Fokus wendet sich also weg vom Antisemitismus hin zu einer viel kleiner eingegrenzten Religionsgemeinschaft, was auch fatal sein kann für das Selbstbild des Landes.

Die Spaltung des Landes in ein religiöses und ein säkulares Israel ist greifbarer geworden und ignoriert vollkommen die Realität. So war und ist Israel Heimat für jüdische Schutzsuchende aus der Sowjetunion und der ganzen Welt geworden, die nicht den derzeit geplanten engen religiösen Kriterien für Einbürgerungen entsprechen, darunter auch Überlebende der Shoah. Damit droht Israel den Status als Schutzmacht aller Jüdinnen und Juden weltweit zu verlieren.

Wie nehmen Sie aus Ihrer Perspektive die politische Situation in Israel wahr und wo liegen Herausforderungen?

Ganz konkret gibt es die Planung im israelischen Koalitionsvertrag, dass auf ausländische Förderungen israelischer NGOs eine 70-prozentige Steuer erhoben wird. Das betrifft sowohl Spendengelder als auch Förderungen, die wir bekommen. Das würde praktisch dazu führen, dass wir unsere Unterstützung von Deutschland aus einstellen müssten. Unabhängig davon würde die aktuell ausgesetzte Justizreform den Rechtsstaat ganz wesentlich einschränken. Die aktuellen Vorhaben haben das Potenzial, den israelischen Rechtsstaat und die Demokratie einzuschränken. Dabei kann die liberale Gesellschaft mit ihren demokratischen Strukturen als Errungenschaft einer Welt nach der Shoah angesehen werden. Als humanitär orientierte NGO wird es für uns durch die aktuellen politischen Entwicklungen in Israel schwieriger, Unterstützung für Überlebende zu organisieren.

Das klingt nach einem sehr herausfordernden Arbeitsfeld und nach einem ambivalenten Blick auf Israel.

Mit unserem Fokus auf das Wohlergehen der Überlebenden und ihrer Nachkommen haben wir zumindest einen kritischen Blick auf manche Entwicklungen in Politik und Gesellschaft, ja. Ich sprach schon von der lange Zeit fehlenden Anerkennung in der israelischen Gesellschaft für Überlebende und ihre Bedarfe und Perspektiven. Gleichzeitig bietet Israel dem Großteil der Überlebenden der Shoah eine Heimat nach jahrelanger Verfolgung und Unterdrückung. Viele Überlebende sind sehr stolz auf Israel Diese Anerkennung der Überlebenden spiegelt sich etwa bei Veranstaltungen mit israelischen Soldat*innen in den Amcha-Zentren, bei denen die Überlebenden ihre Lebensgeschichte erzählen und gemeinsame Aktivitäten unternommen werden. Die Armee ist ein zentraler Bestandteil der israelischen Gesellschaft und solche Ereignisse vergewissern die Anerkennung der Überlebenden in der israelischen Gesellschaft. Gleichzeitig engagieren sich bei Amcha Menschen aus allen Teilen der israelischen Gesellschaft, säkulare und religiöse Menschen, jüdische und nicht-jüdische, Beduinen und Araber etwa. Solche Nuancen werden in der Debatte um Israel in Europa und Deutschland oft vergessen.

Was wir zunehmend beobachten, ist, dass der Schuld-Abwehr-Antisemitismus in Deutschland grassiert und wieder Rufe nach einem Schlussstrich laut werden. Erschwert Ihnen das zusätzlich die Arbeit?

Von Deutschland aus betrachtet erschwert es natürlich die Arbeit. Auch wir erhalten antisemitische Zuschriften oder sehen uns einer Instrumentalisierung durch die AfD mit Blick auf Israel ausgesetzt und müssen uns positionieren. Aber auch die Ignoranz großer Teile der deutschen Gesellschaft mit Blick auf die Erinnerung an die Shoah und die daraus zu ziehenden Konsequenzen für die Unterstützung Überlebender sind für uns eine Herausforderung. Darüber hinaus wird unser humanitäres Anliegen im Engagement für die Überlebenden durch israelbezogenen Antisemitismus politisiert und nicht differenziert. Dazu zählt auch die Diskreditierung und Delegitimierung unserer Arbeit durch BDS-Aktivist*innen – besonders absurd angesichts des Engagements aller Teile der israelischen Gesellschaft bei Amcha oder des Engagements vieler Expert*innen von Amcha und Benhafshenu im palästinensisch-israelischen Kontext.

Nehmen die Überlebenden in Israel die Entwicklungen in Deutschland war?

Sehr sogar. Sie verfolgen die Geschehnisse in Deutschland wie Demonstrationen oder antisemitische Gewalt durchaus. Bei vielen Überlebenden führt dieses gesellschaftspolitische Klima zu Sorgen um die eigene Sicherheit und reaktiviert traumatisierende Erfahrungen einer antisemitisch erlebten Kindheit in Europa. Somit ist der aktuell grassierende Antisemitismus nicht nur für die Arbeit in Deutschland von Bedeutung, sondern ganz wesentlich auch für die Überlebenden und ihre Nachkommen in Israel. Er prägt das Bild auf die eigene Geschichte und Vergangenheit und wirft die Frage auf, was die Menschheit aus der Shoah gelernt hat. Die Überlebenden sind teils resigniert und verstehen den gegenwärtigen Antisemitismus nicht, nach allem, was geschehen ist.

Sie haben gesagt, dass Sie vielfach mit der zweiten und dritten Generation arbeiten. Das hat viel zu tun mit transgenerationaler Weitergabe von Trauma, wie es in der Forschung heißt. Wieso leidet die zweite Generation unter dem, was die erste erlebt hat?

Das kann innerhalb einer Familie stark variieren: von keiner Beeinflussung der Erfahrungen der Eltern bis hin zu einer starken Identifizierung mit den Geschehnissen. Es gibt verschiedene Erklärungsansätze, wie es dazu kommt, sowohl soziale als auch epigenetische. Ein Beispiel: Wenn es an der Tür klopft und die Eltern darauf mit großer Angst reagieren, dann lerne ich dieses Gefühl als Kind und spüre auch eine Angst, ohne dass diese Angst an eigenes Erleben geknüpft ist, die Eltern sich aber an ihr Verfolgungsschicksal erinnern und die erlebten Ängste dem Kind spiegeln. Dann gibt es Nachkommen, deren Identität an das Leben eines Kindes, das die Eltern während der Shoah verloren hatten, geknüpft ist. Das kann zu sehr gravierenden Identitätsfragen führen. Es gibt Eltern, die ihre Kinder von früh an zu Überlebenden erzogen haben, sie dadurch auch überforderten. Und es gibt wiederum Eltern, die aufgrund der seelischen und gesundheitlichen Folgen der Verfolgung ihrer elterlichen Rolle von Schutz, Geborgenheit und Erziehung nicht nachkommen konnten. Ihre Kinder sind oft von jungen Jahren an in diese elterliche Fürsorgerolle gerutscht, man nennt dies Parentifizierung – mit entsprechenden psychischen Belastungen.

Wie manifestiert sich dieses transgenerationale Trauma?

Das äußert sich in starken Identitätsfragen, in Ängsten und Belastungen bis hin zu Depressionen, wenn das eigene Leben immer im Schatten der oft schwer traumatisierten Eltern stand. Dadurch entstehen Bedarfe bei vielen Nachkommen, die adressiert werden müssen – und um die kümmert sich Amcha von Beginn an. Wir bieten soziale Aktivitäten und ein Ort der Gemeinschaft, eben das „Amcha – du bist von uns“, dass wir auch den Überlebenden geboten haben. Für viele Nachkommen ist es zentral, eine Gemeinschaft zu erfahren und zu realisieren, dass es auch andere Menschen gibt mit ähnlichem Schicksal und sie nicht allein sind.

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