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Rechtsextreme Gewalt Den Wald vor lauter Bäumen nicht

Am 29. März 2010 wurde ein klar antisemitischer und rechtsradikaler Vorfall von einem Amtsgericht als solcher nicht anerkannt. Niemand hat etwas gesehen. Neonazis gibt es nicht. Eine Gruselgeschichte aus Sonneberg.

 
Rechtsextreme Gewalt wird häufig verharmlost; Foto: hk

Der im November des Vorjahres stattgefundene Vorfall wurde nicht nur vom Innenausschuss des Landtages als eine rechte Gewalttat definiert, sondern auch von der Opferberatung THO und der mobilen Beratungsstelle MOBIT. Bei einem Kneipenbesuch wurde der Grüne Kreistagsabgeordnete Heinlein und sein Bruder von Neonazis mit Schlägen und Tritten angegriffen. Die rechten Schläger grölten vorher antisemitische Lieder. Schon zwei Wochen vorher musste der jüngere Bruder einen antisemitischen Angriff auf offener Straße hinnehmen, wobei er von einem der späteren Angeklagten dazu aufgefordert wurde, wegen seiner „Judenlocken“ die Hose runter zu lassen.

Richterin erkennt keinen politisch motivierten Hintergrund

Das Amtsgericht verklagte nun zwei der drei Angeklagten wegen einfacher Körperverletzung zu gemeinnützigen Arbeitsstunden. Einer wurde freigesprochen. Einen politisch motivierten Hintergrund konnte Richterin Brigitte Waldert aufgrund der Zeugenaussagen nicht erkennen. In der Verhandlung widerrief ein Zeuge höchstwahrscheinlich aus Angst seine detaillierte Beschreibung bei der Polizei. Er nahm die Einleitung eines Verfahrens wegen falscher Verdächtigung in Kauf. Die Angeklagten grinsten. Den Betroffenen rechter Gewalt gab die Richterin stattdessen den Rat, dass sie Menschen zukünftig nicht pauschal nach ihrem Äußeren beurteilen sollten.

Mit der Behauptung in Sonneberg gebe es kein Problem mit Neonazis, steht die Richterin nicht alleine da. Wie in vielen ländlichen Gegenden werden Menschen die sich gegen rechte Aktivitäten vor Ort engagieren der Nestbeschmutzung bezichtigt. Wie das „Freie Wort“ berichtete, wäre auch dieser Fall von der Polizei aus Sonneberg schnell als „gewöhnliche Gewalt in Folge von Überalkoholisierung“ abgetan gewesen. Erst durch Druck des Kreistagsabgeordneten bei der Polizeidirektion in Saalfeld wurde dieser Angriff auch Thema im Landtagsinnenausschuss.

Was bleibt, ist Angst

Höchstwahrscheinlich fühlt sich die Mehrheit in Sonneberg nach dem Urteil bestätigt – Neonazis gibt es nicht. Die Angst bleibt nicht nur bei den beiden Brüdern. Erst Mitte März berichtete das „Freie Wort“ über einen Angriff von Neonazis auf ein Auto einer Sonnebergerin infolge eines städtischen Kneipenfestes. Von einer Anzeige sah sie ab. Kein Vertrauen in die Polizeibeamt*innen. Sie wurde schon einmal Opfer eines rechten Angriffs. Und auch Heinlein berichtet von einem Übergriff auf eine junge Frau am Rande eines Konzerts Ende letzten Jahres, wobei ihr die Polizei davon abriet eine Anzeige zu erstatten. Schließlich könnten die Neonazis so ihre Adresse bekommen. Dabei sollte die Polizei für einen Opferschutz garantieren. In jeder Polizeidirektion gibt es diesbezüglich einen Opferschutzbeauftragten.

Rechte Aktivitäten nehmen zu

Dass rechte Aktivitäten in Sonneberg zunehmen, ist in der Kleinstadt ein gut behütetes Geheimnis. Erst im August letzten Jahres blockierten rund 30 Neonazis spontan ein „Rock für Toleranz“-Konzert, wie der Veranstalter berichtet. Bei einer Anfrage des Landesvorsitzenden und Landtagsabgeordneten Knut Korschewsky von der Partei DIE LINKE stellte sich heraus, das allein für das Jahr 2009 von offizieller Seite 32 rechte Straftaten registriert wurden. Die Opferberatung THO, die die Heinleins infolge des Angriffs vor Ort begleitete, geht von einer weitaus höheren Dunkelziffer aus. „Unserer Erfahrung nach werden rechte Aktivitäten in Sonneberg totgeschwiegen. Klar gibt es engagierte Bürger*innen, doch gerade Justiz und Polizei haben in der Vergangenheit eine Thematisierung eher verhindert als vorangetrieben“, so eine Mitarbeiterin der Thüringer Opferberatung.

Für Außenstehende ein Grund zur Gänsehaut – eine perfekte Vorlage für einen TV-Krimi am Sonntagabend. Doch Sonneberg, das Neonaziproblem und das kollektive „nicht sehen wollen“ sind Realität. Die Betroffenen und andere Wenige die sich dem braunen Trend in der Region entgegensetzen, leben in der Angst, nicht nur von argwöhnischen Blicken verfolgt zu werden.

Frank Zobel

Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).

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