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Warum sollen wir dein Buch lesen? Solingen, 30 Jahre nach dem Brandanschlag

(Quelle: Unsplash)

Die Interviews führt das Team der ju:an-Praxisstelle antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit.

ju:an: Derya, du bist Kommunikationswissenschaftlerin und arbeitest als Professorin an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg im Fachbereich Sozialpolitik und Soziale Sicherung. Hast du auch mit Offener Jugendarbeit zu tun?
Derya Gür-Şeker: Leider nicht, aber ich forsche über Beziehungen von Sprache und Macht in öffentlichen Diskursen und versuche zu zeigen, wie Mediendiskurse in die Gesellschaft hineinwirken. Das ist natürlich auch wichtig für Offene Jugendarbeit, wo Menschen sich begegnen. Jugendliche bewegen sich auf Social Media und können von Ein- und Ausgrenzungsmechanismen betroffen sein. Man denke beispielsweise an Social-Media-Bewegungen, die gemeinsame Ideen in die Öffentlichkeit tragen, und Cybermobbing oder Hassrede im Netz, die gezielt eingesetzt werden, um bestimmte Personen oder Positionen zu diffamieren. Das ist ein Fokus meiner Forschung, und so ist es ein Geben und Nehmen. Mein übergeordnetes Ziel ist, aufklärend und fördernd auf einen bewussten Umgang mit Kommunikation hin zu wirken.

Du bist eine von vier Herausgeber*innen. Warum ist der Band so wichtig?
Das Buch ist ein Manifest von Betroffenen rechter Gewalt und gibt einen wichtigen Einblick in die Innenperspektive dieser Menschen. Das ist Grund genug, das Buch zu lesen. Thematisch ist es zwar fokussiert auf den Brandanschlag in Solingen, aber wir zeigen Kontinuitäten rechter Gewalt auf bis zu den Anschlägen in Halle oder Hanau.

Was hat euch motiviert, das Buch zu schreiben?
Die Entstehungsgeschichte des Buchs geht auf Hatice Genç zurück, die auf einer Veranstaltung zum Jahrestag des Brandanschlags von 1993 meine Mitherausgeberin Birgül Demirtaş getroffen hat. Sie will, dass Solingen präsenter ist, beispielsweise in den Schulen. Darauf aufbauend hat Birgül Demirtaş Materialien für Schulen entwickelt und mit der Konzeption des Buches begonnen. Das Ziel war, die Perspektiven der Betroffenen in den Mittelpunkt zu rücken. Hatice Genç hat bei dem Brandanschlag 1993 ihre Kinder verloren, und es wurde in der Folge deutlich, dass sehr viel über die Familie gesprochen wurde, aber seltener ein Gespräch mit ihr stattfand.

Wie ist der Aufbau des Buches?
Das Buch besteht aus sechs Kapiteln in zwei Teilen. Im ersten Teil finden sich Interviews mit Betroffenen rechter Gewalt. Wir starten mit Familie Genç, die in türkischer Sprache und in Übersetzung ihre Erfahrungen und Gefühlswelten nach dem Anschlag schildern und Einblicke gewähren, wie sie den medialen Umgang mit dem Anschlag erleben. Hatice Genç erzählt zum Beispiel von einem Ausschnitt im Fernsehen, den sie Jahre später gesehen hat, in dem sie ungefragt im Garten ihres Hauses beim Trauern gefilmt worden war. Wir haben auch ihren Ehemann Kâmil Genç und ihren Sohn Cihat interviewt und dabei darauf geachtet, dass der Originalton bei der Verschriftlichung und nach Möglichkeit bei der Übersetzung erhalten bleibt. Den Betroffenen wird so eine Stimme gegeben, eine Stimme, die nicht noch einmal nach medialen Kategorien überarbeitet ist.

Aber auch andere Betroffene kommen zu Wort?
Wir haben beispielsweise Faruk und İbrahim Arslan aus Mölln interviewt oder Abdulla Özkan, der in der Kölner Keupstraße den Nagelbombenanschlag des NSU-Trios überlebt hat. Im Mittelpunkt steht immer, was der jeweilige Anschlag mit ihnen gemacht hat. Deutlich wird auch, wie sich die Perspektiven der unterschiedlichen Generationen unterscheiden. In einem Aufsatz spricht der Psychotherapeut Ali Kemal Gün über die transgenerationale Weitergabe von Traumata, in einem anderen Beitrag interviewen wir Cihat Genç. Er gehört zu den nachgeborenen Kindern und trägt die Last der Erfahrungen der Familie mit.

Im zweiten Teil geht es um wissenschaftliche Einordnungen und wir betrachten insbesondere Rassismus und Antirassismus im Kontext türkeistämmiger Migrant*innen. Wie war die Politik in den 1990er Jahren, wie war die Sprache der Medienberichterstattung, was waren juristische Perspektiven? Solingen ist kein Einzelfall, sondern reiht sich ein in eine Vielzahl rechtsextremer Gewalttaten, die alle bis heute nachwirken. Diese Kontinuitäten rechter Diskurse werden auch in aktuellen Debatten rund um Geflüchtete und Migration sichtbar.

Gibt es gemeinsame Erfahrungen und Verarbeitungsweisen der Betroffenen?
Was man deutlich erkennen kann, ist die Traumatisierung. Opfer rechter Gewalt sind sehr oft mit Kriminalisierung konfrontiert, das heißt, die Betroffenen, ihre Angehörigen und das Umfeld werden selbst verdächtigt und verantwortlich gemacht. Beides berichten die Befragten, und über beides können sie oft erst sehr viel später berichten. Das zeigt sich deutlich im Kontext des Anschlags in Solingen, in dessen Folge die Familie in den Medien beschuldigt wurde, den Brand selbst gelegt zu haben, um die Versicherungssumme zu kassieren. Später gibt es ein Narrativ, das besagt ‚Seht mal, der Anschlag ist passiert, und euch geht es heute so gut‘, was ebenfalls eine Art Schuld oder einen Vorsatz impliziert.

Auch den Angehörigen der Opfer des NSU-Terrors ist das passiert.
Das zeigt sich sehr gut bei Abdulla Özkan, einem Betroffenen des Anschlags des NSU 2004 in Köln, der dabei verletzt wurde. Der Diskurs um den NSU und auch das Handeln der beteiligten Institutionen sind sehr stark von den genannten Mechanismen geprägt. So etwas traumatisiert, weil die beschuldigten Opfer zu Tätern gemacht werden. Im Kontext des Nagelbombenanschlags sieht man auch, dass Opfer gesellschaftlich ausgegrenzt werden und sehr viel Leid erfahren. Das findet sich überall: Die enorme psychische Belastung und eine Antwort des Staates, der zu wenig psychologische Betreuungs- und andere Unterstützungsmöglichkeiten anbietet, die zudem nicht auf die spezifischen Hintergründe rechter Anschläge ausgerichtet sind. Es gibt zu wenige Expert*innen in dem Feld.

Und zu wenige Psycholog*innen, die überhaupt einen rassismuskritischen Hintergrund haben oder für besondere Bedürfnisse eingewanderter Menschen oder ihrer Kinder sensibilisiert sind?
Ich habe generell viel zur Darstellung von Opfern rechter Gewalt in Medien geforscht, auch in türkischen Medien, und habe an einer Studie mitgearbeitet, für die wir uns ganz genau angeschaut haben, wie über die einzelnen Morde des NSU-Trios bundesweit berichtet wurde, und zwar in der Zeit, bevor der NSU sich selbst enttarnt hat. Aber erst durch die Arbeit an diesem Buch wurde mir klar, wie viel Leid die Menschen erfahren, das aber nicht sichtbar wird: Der Anschlag passiert, es wird medial berichtet, aber die Opfer erfahren sehr viel mehr an Leid, über das nicht berichtet wird. Psychologische Betreuung ist sehr wichtig, um wieder einen Weg ins normale Leben zu finden, einer normalen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Es gibt so viele Auswirkungen, Belastungen, Leid, Schmerz, Verlust, dazu die finanziellen Probleme. Das wird im medialen Diskurs völlig übersehen. Daher ist uns in dem Buch so wichtig, die Innenansicht der Betroffenen weiterzugeben. Das macht die Thematik auch nahbarer. Bei unserer letzten Lesung in Düsseldorf waren die Zuhörer*innen emotional sehr bewegt, sie konnten vieles kaum fassen, wie mit den Betroffenen in Solingen und in anderen Orten umgegangen wurde.

Du verwendest den Traumabegriff, das bedeutet, dass man nicht handlungsfähig ist, sich als ohnmächtig erlebt, dass man eine Situation nicht verarbeiten kann. Glaubst du, dass es da auch einen Zusammenhang gibt zur gesellschaftlichen Situation der Betroffenen? Es handelt sich oft um Menschen in marginalisierten Positionen, was mit einer gewissen gesellschaftlichen Handlungsunfähigkeit, dem Fehlen einer Stimme einhergeht. Glaubst du, dass Traumatisierungen da noch mal speziell wirksam sind?
Ich denke schon. Wir haben es mit einer migrantischen Minderheit zu tun, die im Deutschen oder bildungssprachlich nicht immer so versiert ist. Wenn die Menschen überhaupt gefragt werden, können sie sich sprachlich nicht immer exakt ausdrücken. Und natürlich spielen die beruflichen Kontexte eine Rolle. Es macht einen Unterschied in einem Interview, ob man sich auf Deutsch gut artikulieren kann, aber auch, ob man weiß, wie man mit Medien umgeht. Dass man kurze Statements macht, auf den Punkt kommt, nicht in verschachtelten Sätzen spricht. Das sind sprachliche Mechanismen, die viele Betroffene nicht immer kennen. Wenn sie dann auf Journalist*innen treffen, die dafür nicht sensibel sind, führt dies zu verzerrten medialen Repräsentationen. Die Interviewten würden sicherlich anders rüberkommen, wenn sie das „Spiel“ mit den Medien beherrschen würden.

Was findet sich nur in eurem Buch und nirgendwo anders?
Besonders ist bei uns, dass das Buch Familie Genç gewidmet ist, die stark eingebunden ist und dahinter steht. Uns wurden exklusiv Bilder zur Verfügung gestellt. Gleichzeitig war uns wichtig, die Nahbarkeit und das Authentische zu erhalten, das ist im Vordergrund und sollte nicht verwissenschaftlicht, objektiviert werden. Sprache und Stimme der Betroffenen sollten sichtbar in den Mittelpunkt gerückt werden.

Besonders am Buch ist auch die Vielfalt, der Mix aus Personen. Fatma und Neşe kannten die Familie Genç und haben 30 Jahre nach dem Anschlag über die Demonstrationen und die Proteste, an denen sie teilgenommen haben, berichtet. Den Lesenden gewähren sie damit Einblick in ihre ganz persönlichen Erfahrungen. Das Interview mit Abdulla Özkan, Sibel İ. und Olivia Sarma zeigt zugleich die Herausforderungen der Opferberatung, die die beiden Betroffenen beansprucht haben. Die Herausforderungen der Opferberatung werden dadurch sichtbar, um für die Zukunft noch bessere Bedingungen für Betroffene zu schaffen.

Für Beratungs- und Meldestellen ist ja auch besonders wichtig, dass dort Menschen arbeiten, die ähnliche Hintergründe haben und die Verhältnisse kennen.
Das wird in einem Interview mit Abdulla Özkan sehr deutlich, zusammen mit Sibel İ., die 2021 in Solingen einen mutmaßlichen Anschlag erlebt hat, und Olivia Sarma von der hessischen Opferberatungsstelle Response. Das Interview trägt die Überschrift „Erste Hilfe für Betroffene nach rechter und rassistischer Gewalt“. Abdulla Özkan kritisiert darin, dass es gar keine Betroffenen in diesem System gibt, die wissen, was einem passiert und passieren kann. Wer ist eigentlich mein Gegenüber, das versucht, sich hineinzuversetzen, um zu helfen? Das sind Punkte, die alle, die sich mit dem Thema befassen, auch sehen, aber die Realität ist eine andere, und das kritisiert Abdulla Özkan.

Warum ist euer Buch auch für Professionelle in der Jugendarbeit relevant?
Das Buch gibt einen lebensnahen Einblick in die Folgen rechtsextremer Gewalt. Insbesondere die Interviews zeigen die Gefühlswelt der Betroffenen, und auch die Herausforderungen und Problematiken dabei, die richtigen Antworten auf rechte Gewalt und ihre Folgen zu finden. Die wissenschaftlichen Aufsätze helfen, je nach Themenkomplex, sich in bestimmte Grundlagen einzuarbeiten und ein besseres Verständnis für die damalige gesellschaftliche Lage zu entwickeln. Das Buch ist so breit aufgestellt, dass man sich rauspicken kann, was für die eigene Arbeit wichtig ist, um diese zu übertragen. Die angesprochenen Punkte wie Traumatisierungen, gesellschaftliche Umgangsweisen mit Opfern rechter Gewalt, sind wichtig, um zu lernen und sich zu fragen, wie man damit umgehen kann. Und auch jenseits extremer rechter Gewalt, wie sie in Anschlägen zum Tragen kommt, gibt das Buch Einblicke in rassistische Verhältnisse und Erfahrungen und Umgangsweisen. Wenn in den Interviews geschildert wird, wie die Betroffenen sich gefühlt haben, wie der mehrheitsgesellschaftliche Umgang mit ihnen war und ist, trägt das zur Sensibilisierung bei.

Wie blickst du auf die Zukunft?
Ich wünsche mir mit Blick auf die aktuelle gesellschaftliche Lage, die vielen Herausforderungen und vielen Krisen, dass solche Bücher, nicht nur unseres, für Aufklärung sorgen, Demokratie stärken und wachrütteln. Und dass die Gesellschaft und die Menschen, unabhängig von Religion, Herkunft, Sprache und den Lebensentwürfen, erkennen, dass unsere Stärke die Vielfalt ist, auf die wir achten, um die wir aber auch jeden Tag kämpfen müssen. Wir sehen alle aktuell in den Medien, in persönlichen Gesprächen, wie Anfeindungen zunehmen. Für viele nimmt der Alltagsrassismus zu, sichtbar oder nicht. Daher ist eine Arbeit, wie ihr sie macht, oder sind solche Projekte wie unser Buch, die nach außen gehen und gegensteuern, aktuell wichtiger denn je.


Solingen, 30 Jahre nach dem Brandanschlag: Rassismus, extrem rechte Gewalt und die Narben einer vernachlässigten Aufarbeitung. Birgül Demirtaş, Adelheid Schmitz, Derya Gür-Şeker, Çagrı Kahveci, transcript Verlag, 2023, 420 Seiten, 39 Euro. Hier bestellen.

 

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