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Kommentar Der „heiße Herbst“ ist gescheitert – kein Grund zur Entwarnung

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Gefloppte Mobilisierung: Zur "Ami go Home"-Demonstration am 26.11.2022 in Leipzig ließ sich kaum "Volk" motivieren. Ein paar Rechtsextreme waren da. (Quelle: Paul Podbielski)

Bereits im Sommer begannen in einigen Ortschaften der Bundesländer Sachsen und Thüringen die lokalen Organisator*innen der „Spaziergänge“ einen bundesweiten „heißen Herbst“ auszurufen. Gemeint war damit, dass man endlich wieder Tausende Menschen mobilisieren wollte, nachdem die Sogwirkung des Widerstandes gegen die Corona-Maßnahmen nachgelassen hatte. Mit Blick auf die zunehmenden Auswirkungen des russischen Angriffskriegs auf Deutschland, beispielsweise steigende Preise für Gas und Lebensmitteln, sah man eine günstige Gelegenheit, die verunsicherten und sich sorgenden Menschen zu mobilisieren.

Revolutionsträume von Maßnahmengegner*innen

Spätestens ab September riefen dann auch die aus der Corona-Zeit bekannten Größen der Querdenken-Szene und der rechten Maßnahmengegner*innen zu Protesten auf. Auch die rechtsradikale AfD verkündete den Start einer Kampagne. Anders als zwischen 2020 bis 2021 rief aber auch ein Teil der Linkspartei zum „heißen Herbst“ auf. In der öffentlichen Debatte stritt man sich, ob es wahlweise zu friedlichen Massenprotesten, militanten Einzelaktionen oder gar Aufständen kommen könnte. Gezeigt wurden dabei Bilder des Angriffs auf das US-Kapitol aus dem Januar 2021 oder der illegalen Besetzung der Reichstagstreppen am 29. August 2020 in Berlin.

Anfangs sah es so aus, als würde es den Protest-Organisator*innen gelingen, von Woche zu Woche mehr Menschen zu mobilisieren. In Städten wie Magdeburg, Schwerin, Dresden oder Gera gingen schnell mehr als 1.000 Menschen pro Woche auf die Straße. Doch es fiel schnell auf, dass die Proteste vor allem in Ostdeutschland stattfinden. Anders als in den Corona-Jahren gab es beispielsweise keine Massenproteste in Stuttgart oder München, Orte in denen die Querdenken Szene damals Erfolge feiern konnte.

Bedrohliche Situationen in Ostdeutschland

Unabhängig davon entstanden, vor allem in den mittelgroßen Städten Ostdeutschlands, bedrohliche Situationen, in denen es immer wieder zu Übergriffen auf Journalist*innen, Gegendemonstrierende oder Polizist*innen kam. In Redebeiträgen wurden, ähnlich wie auf den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen, düstere Weltbilder und Verschwörungsideologien verkündet. Wahlweise wurde sich mit dem russischen Angriffskrieg solidarisiert, indem russische Propaganda übernommen wird. Oder es wurde erneut das Narrativ des „Great Reset“ als einzig große Weltverschwörung bedient. Hier zeigte sich bereits gut, wie schnell sich Verschwörungserzählungen mit der Zeit verändern.

AfD: Mobilisierung mit Nationalismus und Rassismus

Die Kampagne der AfD hingegen setzte klar nationalistische Töne. Mit dem aus der Trump-Ära bekannten Slogan „Unser Land zuerst!“ mobilisierte man in die verschiedenen Städte. Mit der Kampagne versuchte sich die AfD, anders als in den Corona-Jahren, an die Spitze der Proteste zu setzen. Zudem sollten die Themen Ablehnung der Corona-Maßnahmen, Widerstand gegen Umwelt- und Klimaschutz und Opposition gegen die Russland-Sanktionen miteinander verbunden werden. Hinzu kam, dass die Rechtsradikalen Horror-Szenarien einer Massenmigration beschworen, wobei deutlich wurde, dass man an die erfolgreichen Anti-Asyl-Proteste der 2016er Jahre anknüpfen wollte.

Kampagnenziele: Unerreicht

Doch trotz Kampagnen der Rechtsradikalen, Neu-Aufstellungen der Verschwörungserzählungen und endgültiger Abschaffung der Berührungsängste zwischen Querdenker*innen und Rechten, gelang es den Demo-Organisator*innen nicht, an die Größe der Proteste 2020 bis 2021 anzuschließen. Bis auf einige wenige Erfolge, wie Gera oder Plauen, blieb ab spätestens Anfang November ein weiteres Anwachsen der Proteste aus. Die Innenminister der Länder bezifferten die Teilnehmenden in Ostdeutschland auf maximal 100.000 Menschen in der Spitze.

Besonders demütigend dürften die als Grundkundgebungen angekündigten Versammlungen am 12. November in Erfurt und am 26. November in Leipzig gewesen sein. Gekommen waren jeweils deutlich weniger Menschen, als man sich gewünscht hätte. Auch der Blick auf die Reden der Aktivist*innen und Organisator*innen ließ erkennen, dass man enttäuscht von den Mobilisierungen ist. Noch deutlicher sah man dies, wenn man Kommentare in den sozialen Medien dazu las. Weder das Thema „Energie“ noch das Thema „Ami go home!“ (Anti-Amerikanismus) schienen die Massen im November zu begeistern. Zwar versuchte man, sich die Kundgebungen schön zu reden, gleichzeitig war zu spüren, dass die eigenen Ziele nicht erreicht werden konnten.

Gefloppte Mobilisierung, konstante Bedrohung

Woran hat es gelegen, fragen sich einerseits Rechte im ganzen Land, aber auch viele Beobachter*innen. Zuerst bleibt festzuhalten, dass der Rückgang der Zahlen auf den Demonstrationen kein Grund zur Entwarnung ist. Es ist damit zu rechnen, dass sich innerhalb der Milieus Menschen weiter radikalisieren. Zu befürchten ist, dass diese dann militante Gruppen bilden, die auch vor schwerer Gewalt nicht zurückschrecken. Deswegen braucht es weiterhin das wachsame Auge der Zivilgesellschaft und des Rechtsstaats. Außerdem ist in einigen Orten erneut ein Klima der Angst entstanden. Mit einer Mischung aus Hass, Desinformationen und Bedrohungen von Gegner*innen werden Demokrat*innen unter Druck gesetzt, so dass die Rechten und Verschwörungsideolog*innen eine lokale Hegemonie entfalten konnten.

Gut: Konsequente Abgrenzung wirkt

Gut, dass es aber auch anders geht. In der Stadt Zittau in Ostsachsen gelang es einem Bündnis aus Stadt und Zivilgesellschaft eine vitale kritische Öffentlichkeit zu den Protesten zu schaffen. Die Gründe für den aktuellen Misserfolg der Rechten und Protest-Organisator*innen werden derzeit untersucht. Eine Hypothese wäre, dass die Bundesregierung wirksame Maßnahmen gefunden hat, wie man auf die Sorgen der Menschen reagieren kann. Eine weitere Hypothese lautet, dass die aktuelle Krise anders wirkt, als beispielsweise die Corona-Krise. Damals waren binnen kürzester Zeit alle Menschen von den Corona-Maßnahmen betroffen. Das schaffte Mobilisierung.

Zahlen der Leipziger Autoritarismus-Studie weißen aber auch auf einen Rückgang der so genannten Verschwörungsmentalität hin. Insbesondere in Ostdeutschland gebe es, gemäß der Leipziger Forscher*innen, deutlich weniger Menschen, die eine solche besitzen. Fragt man die Leute aber nach konkreten Verschwörungserzählungen, glauben immer noch 30 % an eine Verschwörung hinter der Pandemie und fast 20 % in Ostdeutschland an die Lüge des anthropogenen Klimawandels. Auch hier kein Grund zur Entwarnung.

Eines hat sich hingegen nicht geändert: Damals wie heute engagieren sich bundesweit Tausende Menschen für gute Zwecke. Sie unterstützen Geflüchtete aus der Ukraine oder anderen Ländern, sie organisieren Lebensmitteltafeln oder versorgen nachts ehrenamtlich Wohnungslose, sie setzen sich für die Rechte von Minderheiten ein oder sie organisieren lokale Bündnisse für Demokratie und Vielfalt. Die Unterstützung dieser Menschen bleibt für uns – auch 2023 – die wichtigste Aufgabe, die zu meistern ist.

 

Über den Autor:

Benjamin Winkler ist Soziologe und leitet für die Amadeu Antonio Stiftung das Projekt „debunk“ in Sachsen. Hier untersucht er seit 2020 die Wirkung von Verschwörungsideologien, den Zusammenhang zum Antisemitismus und entwickelt mit seinem Team Bildungsmaßnahmen zur Arbeit gegen Verschwörungsdenken.

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