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Kommentar Ignoranz und Hochmut

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Anetta Kahane ist Vorsitzende des Vorstands der Amadeu Antonio Stiftung (bis Ende März 2022); Foto: MUT

Ist Ihnen aufgefallen, dass sich in Deutschland etwas verändert hat? Nach der Selbstenttarnung des NSU, irgendetwas? Zeigt sich irgendwo eine Art Reue oder Nachdenken darüber, was in diesem Land grundsätzlich schief gelaufen ist? Zum Beispiel in der so genannten Integrationspolitik gegenüber Migranten? Oder im Umgang mit dem düstersten Erbe der deutschen Geschichte, das sich heute im Rechtsextremismus ausdrückt? Hat vielleicht jemand bemerkt, dass beides zusammenhängt? Die Gruppe um die nun angeklagte Beate Zschäpe wusste es schon lange. Ihr zweifelhafter Erfolg war nur möglich, weil der NSU und seine Helfer davon ausgegangen sind, dass sowohl im Umgang mit Einwandern einerseits als auch mit dem „Phänomen“ Rechtsextremismus vor allem eines herrschte: Desinteresse und Gleichgültigkeit.

Die Ermittlungspannen geschahen nicht zufällig, sie sind die logische Fortsetzung einer Haltung und Politik, bei der Rechtsextremismus und Rassismus an jedem einzelnen Tag hochmütig ignoriert wurde. Nicht von allen und immer, doch in der Summe sehr wohl. Weshalb also sollte es ausgerechnet bei den Ermittlungen um den Mord an „Ausländern“ anders gewesen sein. Und weshalb also sollten die Behörden in Richtung Rechtsextremismus ermitteln, wo es den in ihren Augen gar nicht gab?

Nun ist es soweit, der Prozess gegen Beate Zschäpe beginnt am 17. April (2013) in München. Von Reue und Nachdenken nach dem eklatanten Versagen des Staates zeigt sich jedoch auch hier keine Spur. Hochfahrend und fahrlässig wird weiter agiert. Ausländische Medien erhalten keinen Platz beim Prozess, da zeigt sich das Gericht aggressiv stur und herablassend. Und statt einer Bundeskonzeption gegen Rechtsextremismus, einer klaren Zielsetzung gegen Rassismus, wird weiter an dem unnützen NPD-Verbot gebastelt. Rassismus ist das schreckliche Bindeglied zwischen der halbherzigen „Integrationspolitik“ und dem verheerenden Ignorieren des Rechtsextremismus. Wenn der Rassismus als Problem weniger bleibt als Lippenbekenntnis, dann wird’s auch nichts mit der Bekämpfung des Rechtsextremismus. Wenn Deutschland sich nicht offensiv für seine Einwanderer und deren Chancengleichheit einsetzt, dann bleibt ein Teil der Bevölkerung fremd im eigenen Land.

Die deutschen Behörden wiederholen ihre Fehler

Der Wohnungsbrand in Köln, bei dem vor allem türkische Einwanderer verletzt wurden, ist eine schlimme Sache. Dass die deutschen Behörden aber ihre Fehler wiederholen und gleich nach routiniertem Muster „in alle Richtungen ermitteln“ ohne einem möglichen rassistischen Motiv explizit nachzugehen, macht bitter. Es zeigt, wie die deutsche Maschinerie funktioniert, die ohne Wenn und Aber über alle Erfahrungen und Katastrophen seit der Entdeckung der NSU-Morde hinwegwalzt. Was geschieht hier? Hat Deutschlands Rolle in der europäischen Krise das Dampfwalzen zum Prinzip gemacht? Noch mehr als vorher schon? Nun aber mit der Arroganz einer vermeintlichen Stärke? Wohin führt das alles?

Komische Frage, es wird doch ganz viel getan, sagt die Bundesregierung. Am Tag vor dem missratenen Prozessbeginn gegen Beate Zschäpe werden überall in der Republik die „Tage und Nächte für Toleranz“ gefeiert. Überall zeigen die Projekte der lokalen Aktionspläne ihre Flyer und Broschüren an diesem, von den Ministerien angeordneten Tag. Dagegen ist nichts zu sagen. Außer, dass Toleranz ein unpassendes Wort ist, denn wer mit Toleranz bedacht wird, hat bestenfalls mit Gnade zu rechnen. Denn Toleranz heißt dulden. Es heißt nicht anerkennen. Und es heißt schon gar nicht, wirklich ernst zu nehmen. In dem Wort Toleranz spiegelt sich die ganze Misere des deutschen Umgangs mit einem seiner größten Probleme: Rassismus und Rechtsextremismus. Und der schwerfällige, abwehrende Umgang damit. Denn dieses Problem braucht mehr als einen Tag und eine Nacht für Toleranz oder ein NPD-Verbot, das sowieso nicht kommen wird. Es braucht Veränderung. Statt Ignoranz und Hochmut. Denn das werden wir weder dulden noch tolerieren.

Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).

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