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Lesung in Köln „Peter Finkelgruen: Ein halbes Jahrhundert Leben als Jude in Deutschland“

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(Quelle: Unsplash)

Peter Finkelgruen, der 1942 in Shanghai geboren wurde, in Shanghai, Prag und Israel aufwuchs und 1959 nach Deutschland kam, blickt an diesem Abend auf über 50 Jahre Leben als Jude in Deutschland zurück.

Wir bringen aus diesem Anlass einen Auszug aus Roland Kaufholds Buchkapitel „Peter Finkelgruens Neuanfang in Freiburg“, in dem er sich an die erste Deutsche erinnert, der er 1959 in Freiburg begegnete: Der Mussolini-Verehrerin und -Biografien Louise Diel. Diese war die Vermieterin von Peter Finkelgruen und seiner Großmutter Anna, die drei Konzentrationslager überlebt hatte.

Peter Finkelgruens Neuanfang in Freiburg

Es ist eine sowohl individuell als auch gesellschaftlich komplizierte Situation, die den 17-jährigen Peter Finkelgruen im Sommer 1959 dazu veranlasste, gemeinsam mit seiner Großmutter Anna von Israel ausgerechnet nach Deutschland zu übersiedeln.

Äußerlich war sein Studienwunsch der Auslöser: Weitgehend mittellos vermochte Peter Finkelgruen in Israel nicht zu studieren. Da seine Eltern Opfer der Naziverfolgung waren, hatte er aber Anspruch auf die deutsche „Wiedergutmachung“. Mit diesem „Blutgeld“ hätte er einen Teil seines Lebensunterhaltes als Student bestreiten können. In England, wo er entschieden lieber studiert hätte, hatte er keine Aussicht, „Entschädigungsgelder“ für das deutsche Morden zu erhalten.

Finkelgruen hatte bereits als Jugendlicher verstanden, dass er von „den Deutschen“ nur entschädigt würde, wenn er deren Untaten belegen konnte. Deshalb hob er alle Dokumente über seine ihm über Jahrzehnte vorenthaltene Familiengeschichte sorgfältig auf.
Eine weitere Rolle spielte der Wunsch seiner Großmutter Anna, die drei Jahre Konzentrationslagerhaft in der Kleinen Festung Theresienstadt, in Ravensbrück, Auschwitz und Majdanek überlebt hatte, wieder nach Deutschland zurückzukehren. Diesen Wunsch äußerte sie Peter Finkelgruen gegenüber zwar nie direkt, dennoch spürte er ihren Wunsch.

Nach ihrer Befreiung bzw. ihrer Flucht auf einem Todesmarsch 1945 war Anna nach Prag gegangen, weil dies die einzige Stadt war, die sie noch kannte. Auch hatte sie dort einige einflussreiche Freundinnen, mit denen sie gemeinsam Ravensbrück überlebt hatte. Nach Israel war Anna 1951 gegangen, auf den ausdrücklichen Wunsch ihrer verstorbenen Tochter Esti hin: Dort lebte Dora, die Schwester von Hans Finkelgrün, dieser hatte Esti das Schicksal ihres achtjährigen Sohnes Peter in ihren letzten Briefen ausdrücklich anvertraut.

Ob USA oder England: Beide Länder wären für Finkelgruen als Studienorte günstiger und naheliegender gewesen als Deutschland: „Ich hatte ein englisches Abitur abgelegt. England oder Amerika waren mir viel näher als Deutschland“, schreibt Finkelgruen später.

Als der 17-jährige und seine Großmutter in Freiburg aus dem Zug steigen, betreten die beiden unbekanntes Terrain. In einer zentral gelegenen Straße finden sie eine Wohnung als Untermieter. Vermieterin ist eine Frau Diel. Diese stellt sich als Schriftstellerin vor und legt großen Wert darauf, ihnen das Vermieten als eine Großzügigkeit darzustellen. Dass die Finkelgruens aus Israel kamen, war ihr bekannt. Dass Peter Jude war, konnte sie deshalb annehmen. (…)

Diese Begegnungen mit der seinerzeit 66-Jährigen verwirren ihn. Nur schrittweise geht dem jungen Studenten auf, wo er gelandet ist, dass er nun im Land der Mörder lebt. Jedoch erst ein halbes Jahrhundert später formuliert er bewusst die biografisch-politische Brisanz dieser Begegnung und deren politisch-psychologische Tiefendimension: Die 1893 geborene Louise Diel, die er 1959 nahezu als Erste in Deutschland kennenlernt, 14 Jahre nach der Shoah, war eine glühende Verehrerin und Biografin des italienischen Duce Benito Mussolini.

Peter Finkelgruen ist anfangs seelisch mit der Bewältigung der alltäglichen Anforderungen in einem ihm vollständig unbekannten Land beschäftigt. Deutsch als vertraute Muttersprache hatte er bisher nahezu nur mit seiner Großmutter sprechen können. Mehrfach hatte er zuvor in Israel erleben müssen, dass seine Großmutter, selbst eine Überlebende von Auschwitz, von Überlebenden der Shoah körperlich attackiert wurde, als sie deutsch sprach.

In Freiburg verspürt er das Gefühl einer diffusen, sprachlosen, übermächtigen Bedrohung. Einer Angst, für die er keine Worte hat. Er hat abgrundtiefe Angst vor Deutschland, vor deutschen Polizisten. Überall trifft er auf das Erbe der Nationalsozialisten, denen der größte Teil seiner Familie zum Opfer gefallen war. In einer autobiografischen Skizze hat er seine Bedrohungsgefühle im Lande der Täter – die ihn nie ganz verlassen haben – im zeitlichen Abstand von über 50 Jahren beschrieben:

„Wer lange nach 1945 geboren und vielleicht in der Sowjetunion sozialisiert wurde, mag keine großen Ängste beim Anblick deutscher Uniformen gehabt haben, als er in die Bundesrepublik kam. Ich hatte Herzklopfen und Ängste, als ich im Sommer 1959 nach Deutschland kam. Ich musste Techniken entwickeln, mich gegen diese Angst zu wappnen. Dazu gehörte, dass ich erst lernen musste, in welchem Land, in welcher Gesellschaft ich mich befand: Deutschland war das Land, das mich ausgestoßen hatte, noch ehe ich überhaupt auf der Welt war. Deutschland hat mich nicht willkommen geheißen. Keine deutsche Regierung, seit Gründung der Bundesrepublik, hat je die Juden, die vertrieben und jene, die überlebt haben, für willkommen erklärt, sie gar gebeten, wenn sie es denn für möglich hielten, wieder nach Deutschland zu kommen. Im Gegenteil.“ (Finkelgruen 2012)

Vieles ist dem jungen Studenten im Deutschland der späten 1950er Jahre unvertraut. Vieles macht ihm Angst. Beim Stöbern in den Büchern seiner Vermieterin, Frau Diel, wenige Monate nach seiner Ankunft in Deutschland – sie hatte ihn zum Gespräch in ihr dunkles Wohnzimmer gebeten –, fällt ihm ein 1937 erstmals erschienenes Buch in die Hände, das seine Vermieterin über den italienischen faschistischen Führer Mussolini verfasst hatte. Der Name L. Diel war mit goldenen Lettern auf dem Buchcover eingeprägt. Mussolini. Duce des Faschismus lautet der Titel. Publikationsort war Leipzig, Paul List Verlag. Es war bereits die „6.–8. verbesserte und ergänzte“ Ausgabe, erst ein Jahr nach der Erstausgabe. Benito Mussolini war zu diesem Zeitpunkt ein enger Verbündeter Deutschlands, über Mussolini und Italien hatte Peter bereits während seiner Zeit in Israel viel erfahren.


Auszug aus der biografischen Essaysammlung von Roland Kaufhold:„Mich erfüllte ein Gefühl von Stolz. Ich hatte es geschafft.“ Peter Finkelgruen: Ein halbes Jahrhundert Leben als Jude in Deutschland“, BoD 2022, ISBN-13: 9783756819201, 244 Seiten, 12,99 Euro. Hier bestellen.

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