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Geburtstag „Der Gedanke, es nicht zu tun, überfällt mich immer wieder. Mich zu verkriechen“

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Peter Finkelgruen auf Spurensuche in Shanghai

Von 1982 bis 1988 hatte Peter Finkelgruen noch einmal sechs Jahre lang als Leiter der Friedrich Naumann Stiftung in Israel gearbeitet. Das Land war ihm sehr vertraut, er sprach Ivrith und war der erste deutsche Journalist, dem Golda Meir – von 1969 bis 1974 die erste und einzige Ministerpräsidentin Israels – ein Interview gewährte. Im Sommer 1988 fuhr Finkelgruen auf der Paloma von Israel zurück nach Deutschland. In Piräus machte der am 9. März 1942 in Shanghai geboren, in Shanghai, Prag und Israel aufgewachsene und 1959 nach Deutschland „zurückgekehrte“ Autor eine Zwischenstation. Finkelgruen kaufte eine deutsche Tageszeitung und las eine kurze Meldung, dass „der 1948 in der CSSR als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilte Anton Malloth“ von Italien in die Bundesrepublik abgeschobene worden sei. Die Staatsanwaltschaft in Dortmund habe „kein Interesse an der Auslieferung des KZ-Wächters gehabt“ da „kein dringender Tatverdacht gegeben“ sei. Diese Meldung alarmierte Finkelgruen innerlich zutiefst, den genauen Grund hierfür erfasste er noch nicht.

Erinnerungen an Prag: „Tante Bela“

Finkelgruens über Jahrzehnte erworbene, überlebensnotwendige seelische Verdrängungsfähigkeit – als Jude vermochte er in den 1960er Jahren in Deutschland nur zu leben, wenn er die deutschen Massenverbrechen weitestgehend zu verdrängen vermochte – zerbrach wenige Monate nach dieser Zeitungslektüre. Im Februar 1989 besuchte Finkelgruen die 90-jährige tschechische Shoah-Überlebende Bela Krausova in ihrem Prager Altersheim. Diese war für ihn in seinen Prager Kindheitsjahren (1946 – 1951) Tante Bela gewesen. Die betagte Frau hatte gemeinsam mit Finkelgruens Tante Anna Bartl drei Jahre Konzentrationslagerhaft überlebt. Als Anna nach der langen KZ-Haft in Ravensbrück. Auschwitz, Majdanek, Groß Rosenau und den Todesmärschen Ende 1945 wieder in das inzwischen kommunistische Prag zurückkehrte, bestand ihr kleiner Freundeskreis nahezu ausschließlich aus ehemaligen KZ-Mitgefangenen: Jüdinnen sowie ehemalige kommunistische Widerstandskämpferinnen.

Anna Bartl, die in Finkelgruens Prager und israelischen Jugend seine Ersatzmutter war, da alle anderen Familienangehörigen inzwischen verfolgungsbedingt verstorben waren, hatte zuvor auf ihrer Flucht in Prag von 1939 – 1942 Finkelgruens jüdischen Opa Martin versteckt. Ende 1942 wurden sie verraten, Anna Bartl kam als Nicht-Jüdin wegen ihres solidarischen Handelns zum Juden Martin Finkelgruen in mehrere Konzentrationslager. Martin selbst wurde noch am Tag der Festnahme – am 10.Dezember 1942, neun Monate nach Peter Finkelgruens Geburt in Shanghai – durch die Gestapo in der Kleinen Festung Theresienstadt von NS-Aufseher Anton Malloth totgetreten.

Die 90-jährige Bela Krausova schilderte Finkelgruen nun im Oktober 1989  die Umstände der Ermordung seines Großvaters. Das Wissen um den bereits nach Kriegsende in Prag und Österreich gesuchten und von einem CSSR-Gericht in Abwesenheit zum Tode verurteilten NS-Täter Malloth zerstörte Finkelgruens seelisches Abwehrsystem im Land der Täter (Giordano).

NS-Prozesse und autobiografische Erinnerungen: Haus Deutschland

13 Jahre verbrachte Finkelgruen im Kampf gegen die deutsche Justiz, insbesondere gegen den Dortmunder Oberstaatsanwalt Schacht. Dieser sich aus der Sicht Finkelgruens und Ralph Giordanos vor allem durch Untätigkeit und Täterschutz auszeichnende Beamte war Leiter der Dortmunder Zentralstelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen.

13 Jahre nach Finkelgruens Strafanzeige gegen den Mörder seines Großvaters Martin, wurde Malloth schließlich doch noch im Mai 2001, 58 Jahre nach dem Mord, verurteilt.

13 Jahre lang vertraute Finkelgruen auf den demokratischen Rechtsstaat – und zerstörte sich hierbei seine seelische Gesundheit. Angebote, Malloth – nach dem Vorbild der Klarsfelds, mit denen Finkelgruen 1989/90 beim Kölner Lischka-Prozess zusammen arbeitete – entführen und an die tschechoslowakischen Behörden zu übergeben, schlug Finkelgruen aus. In der CSSR, daran sei erinnert, war Malloth 1948 wegen schwerer Kriegsverbrechen zum Tode verurteilt worden, floh jedoch rechtzeitig nach Österreich und dann nach Italien, wo er einflussreiche Helfer aus dem NS-Umfeld hatte.

Immerhin: Finkelgruen verwandelte die über Jahre erlebte Ungerechtigkeit, den Täterschutz, die „Zweite Schuld“ der Deutschen (Giordano), seine schwer traumatische jüdische Familiengeschichte in Literatur: Er publizierte mit Haus Deutschland (1992) und Erlkönigs Reich (1997) zwei eindrucksvolle autobiografische Erinnerungswerke.

Köln: Linksliberales Engagement und Rehabilitation der Edelweißpiraten

Einige weitere Lebensstationen Finkelgruens: Er studierte ab 1959 in Freiburg, ging dann 1962 nach Köln, wo er als Journalist für die Deutsche Welle, aber auch von 1964 – 1966 als Bonner Korrespondent für das israelisch-jüdische Magazin Jewish Observer and Middle East Review arbeitete.

Ab 1968 engagiert er sich linksliberal in der FDP, Gerhart Baum und der linksliberale Jura-Hochschullehrer Prof. Ulrich Klug wurden seine engen Freunde und Unterstützer. Von 1980 bis 1981 gab er gemeinsam mit seinem damaligen Kölner Freund Henryk M. Broder die linke Freie Jüdische Stimme heraus.

Nach seiner traumabedingten Frühpensionierung trat Finkelgruen, oft gemeinsam mit seiner vor einem Jahr verstorbenen Ehefrau, der Schriftstellerin Gertrud Seehaus-Finkelgruen, in unzähligen Schulen und Bildungseinrichtungen als Zeitzeuge und pädagogischer Vermittler auf. Hierzu verfassten die Finkelgruens das Kinderbuch Oma und Opa hatten kein Fahrrad.

2020 erschien sein Buch Soweit er Jude war… über die widerständigen Kölner Edelweißpiraten, mit Vorworten seines Freundes Gerhart Baum und Begleitstudien des Autors. Das imposante Werk hatte er bereits 1981 abgeschlossen, ging dann jedoch nach Israel und setzte dort die Auszeichnung der drei Widerständler und Edelweißpiraten Jean Jülich, Michael Jovy sowie Bartholomäus Schink durch. 1984 wurden sie durch Yad Vashem geehrt; in Köln jedoch ging die Kriminalisierungsstrategie noch 21 Jahre weiter.

Rechtzeitig zu Peter Finkelgruens 80. Geburtstag ist auf dem deutsch-jüdischen Internetmagazin haGalil.com ein umfangreicher Themenschwerpunkt mit Einzelfallstudien zu Finkelgruens imposantem, widerspruchsreichem Lebenswerk erschienen.

Hier geht es zum Themenschwerpunkt.

 

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