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Linksjugend Solid Mordfantasien unter dem Deckmantel der Revolution

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Die Linksjugend Solid - die parteinahe Jugendorganisation der Linken
Die Linksjugend Solid - die parteinahe Jugendorganisation der Linken (Quelle: picture alliance / foto2press/Steffen Proessdorf)

Der beste „Antideutsche“ sei ein toter, schreibt die Person mit dem Usernamen „Brokkoli“ samt Hammer und Sichel Anfang Oktober 2022 in den Chat der Linksjugend Solid Berlin. Seine Begründung: „Naja, ist ne rechte Strömung und ja, es kommt auf die Situation an. In einer revolutionären Phase sind es Konterrevolutionäre, und wenn sie eine Konterrevolution anfangen, muss die mit allen Mitteln verhindert werden“*. Es komme auf die revolutionäre Phase und die Aktivität der „Antideutschen“ an, schreibt er weiter. „Aber im Grunde [ist es] dasselbe wie mit jeder konterrevolutionären Kraft.“

Es sind Mordfantasien unter dem Deckmantel der vermeintlichen Revolution. Politische Gegner*innen, selbst aus dem linken Lager, sollen zur Not getötet werden. Alles sei legitim und gerechtfertigt, wenn es nur darum gehe, die Konterrevolution zu stoppen. Auch wenn der User „Brokkoli“ später einräumt, dass seine Nachrichten „nicht die beste Art“ seien, dieses Ziel zu erreichen. Dennoch betont er: „Im Grunde sind es Rechte und es wäre besser ohne sie“.

Übersetzt: Der beste Antideutsche ist nicht rechts oder links, sondern tot (Quelle: Screenshot von Telegram)

Die Nachrichten stammen aus einer internen Telegram-Gruppe der Linksjugend Solid Berlin, der parteinahen Jugendorganisation der Linkspartei. Eine Chatgruppe mit immerhin 133 Mitgliedern, allen voran Jugendlichen und jungen Erwachsenen, manche erst 14 Jahre alt. Solid Berlin hat zwei Telegram-Chats: eine für politische Organisation, eine zum Plaudern. Hier geht es um letztere. Der Chatverlauf liegt der Redaktion vor.

Nach Belltower.News-Informationen wird die Telegram-Gruppe nicht von dem Berliner Landessprecher*innenrat der Linksjugend moderiert. Nicht alle in der Gruppe seien Mitglied bei Solid oder der Linkspartei, heißt es auf Anfrage. Für ein Solid-Mitglied, das mit Belltower.News gesprochen hat, hat der Chat aber schon einen offiziellen Charakter: Um zur Gruppe hinzugefügt zu werden, musste er beim Landesverband nachfragen, sagt das Solid-Mitglied.

Bei dem User „Brokkoli“ geht es offenbar um einen Aktivisten, der bei der Berliner Solid-Gruppe Stadtrand Ost aktiv ist. Die Gruppe wird gegenüber Belltower.News als „eine marginalisierte Gruppierung innerhalb des Jugendverbandes“ beschrieben. Offiziell ist die Person aber kein Solid-Mitglied, heißt es vom Bundessprecher*innenrat der Jugendorganisation. „Brokkoli“ ist auch bei der trotzkistischen Jugendgruppe „Revolution“ aktiv. Nach Belltower.News-Informationen handelt es sich um eine minderjährige Person.

Auf seinem Twitter-Profil macht „Brokkoli“ klar, wen er für den Feind hält – etwa den Bundessprecher*innenrat seiner eigenen Jugendorganisation. „Nieder mit dem Antideutschen BSPR. #FreePalestine“, schreibt er in einem Tweet im April 2022. Eine Anfrage von Belltower.News lässt er unbeantwortet.

Feindbild: Antideutsch

Mit „Antideutschen“ ist eine israelsolidarische und antinationalistische Strömung der radikalen Linken gemeint, die im Zuge der Wende entstand. Heute ist die Strömung fragmentiert und gespalten, einige frühere Antideutsche zeigen sich immer wieder tendenziell rechtsoffen und muslimfeindlich, manche sind inzwischen endgültig am rechten Rand angekommen. Als Selbstbezeichnung wird der Begriff immer seltener verwendet, dafür aber als Feindmarkierung gegen andere Linke: So werden viele Menschen als antideutsch abgestempelt, die Antisemitismus kritisieren oder sich für das Existenzrecht Israels einsetzen. In den sozialen Medien wird zum Beispiel immer wieder auch Jüdinnen und Juden vorgeworfen, „antideutsch“ zu sein.

Die Mordfantasien treffen in der Solid-Chatgruppe eher auf Ambivalenz statt Ablehnung. „Dein Ernst?“, schreibt zwar ein Mitglied. „Ich will keinen unnötigen Stress aber schon krasse Aussage“ – als könnte Kritik an den Äußerungen in der Gruppe umstritten sein. Ein anderes Mitglied ist offenbar nur skeptisch, dass die Hinrichtung von vermeintlichen „Antideutschen“ nicht den revolutionären Zielen dienen würde. „Ich glaube nicht, dass den Leuten hier den Tod zu wünschen eine Konterrevolution stoppt“, schreibt er. Das sei mindestens kontraproduktiv, schlimmstenfalls „triggernd“ für Menschen mit Traumaerfahrungen oder Suizidgedanken.

Andere Mitglieder kritisieren nicht die Aussage, dass die besten „Antideutschen“ tot seien oder dass sie „mit allen Mitteln“ verhindert werden müssen. Sondern sie bezweifeln lediglich, ob „die Antideutschen“ dafür relevant genug seien. Eine klare Distanzierung sucht man vergeblich.

Schlecht fürs Image

Tom Krüger ist Sprecher der Solid-Basisgruppe Berlin-Nord (Quelle: Screenshot von Telegram)

Ein Solid-Mitglied namens Tom will die „Antideutschen“ lieber in die politische Irrelevanz verdrängen. „Totschießen können wir die gerade eh nicht, selbst wenn wir das wollten“, schreibt er. Es mache zudem keinen guten Eindruck, „wenn man erstmal ne Liste vorlegt, wen man abknallen will, ganz im Gegenteil“. Eine Verurteilung der Aussagen ist das nicht, sondern eine Strategie: Menschen ermorden zu wollen wäre lediglich schlecht für das eigene Image, mehr offenbar nicht. Später im Chat schreibt ein anderes Mitglied in Antwort auf die Nachricht: „Das wollen wir auch nicht.“ Tom schreibt: „Ja obviously“. Aber ist das wirklich offensichtlich?

Tom heißt mit Nachnamen Krüger. Er schreibt regelmäßig für „Klasse gegen Klasse“, laut eigenen Angaben eine trotzkistische Plattform für „tägliche Nachrichten der revolutionären Linken“. Die Online-Zeitung wird von der „Revolutionären Internationalistischen Organisation“ (RIO) herausgegeben – einer eher unbedeutenden antiimperialistischen Gruppe.

Laut der Webseite von „Klasse gegen Klasse“ ist Krüger Sprecher der Solid Nord-Berlin, der Basisgruppe für die Bezirke Reinickendorf, Pankow und Wedding. Sein früherer Twitter-Name: „CEOofStalinos“. In einem inzwischen gelöschten Tweet vom Februar 2021 schrieb er, Solid brauche ein kommunistisches Zentralkomitee – „und gegen die größten Schweine [ein] paar Schauprozesse. Dann gibt’s endlich wieder Linie.“ Ein Screenshot des Tweets liegt Belltower.News vor.

Eine Anfrage von Belltower.News an Tom Krüger mit der Bitte um Stellungnahme wird innerhalb weniger Stunden samt E-Mail-Adresse des Autors auf der Webseite von „Klasse gegen Klasse“ veröffentlicht, einen Tag bevor dieser Artikel überhaupt erschienen ist. Darin wird Belltower.News als „prozionistische und staatstragende Zeitung“ beschrieben, „die den linken Flügel in Solid mit internen Chats diskreditieren will“. Den Artikel, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht veröffentlicht wurde, nennt Krüger schon „denunziatorisch“.

Unsere Anfrage wird innerhalb weniger Stunden samt E-Mail-Adresse des Autors veröffentlicht (Quelle: Screenshot von der Webseite „Klasse gegen Klasse“)

In der Antwort auf unserer Anfrage räumt Krüger ein, dass seine Wortwahl in der Solid-Telegramgruppe „flapsig“ gewesen sei. Die Annahme, dass er der Grundaussage von „Brokkoli“ zustimmen würde, sei „absolut haltlos“. Aber eine wirklich klare Distanzierung kommt darin auch nicht vor: Gewalt sei lediglich das „falsche Mittel“. Und schon wieder betont Krüger, dass die Linksjugend „aktuell überhaupt nicht die Mittel hat“, die Gewaltfantasien von „Brokkoli“ umzusetzen.

Solche „verbalradikale Überreaktionen“ halte Krüger für keinen Skandal, sondern sie seien eine Reaktion auf das Verhalten von „Antideutschen“ in der Linksjugend. Von seiner stalinistischen Vergangenheit will sich Krüger schon distanziert haben. Schauprozesse wolle er offenbar nicht mehr abhalten. Was folgt, ist ein langer Exkurs über israelische Streitkräfte, das US-Militär, Rätedemokratie und den revolutionären Sozialismus.

Auf Anfrage lehnt der Bundessprecher*innenrat von Solid die Chatnachrichten von Krüger ab. „Bei Politik sollte es nicht ums Image, sondern um gesellschaftliche Veränderungen und gemeinsame Kämpfe gehen. Wir sind enttäuscht, dass anscheinend Verbandsmitglieder dies nicht begriffen haben und versuchen, sich abzugrenzen, anstatt über inhaltliche Differenzen zu reden“, sagt ein Sprecher Belltower.News.

Anfeindungen und Diffamierungen

„Klasse gegen Klasse“ hat offenbar einen bescheidenen, aber wachsenden Einfluss auf den Jugendverband der Linkspartei in Berlin. „In der Hauptstadt wird die Linksjugend Solid sehr stark von Gruppen um ‚Klasse gegen Klasse‘ reglementiert“, sagt ein Solid-Mitglied Belltower.News, das aus Sicherheitsgründen lieber anonym bleiben möchte. „Die Gruppe hat intensiv sehr junge Menschen angeworben, die teilweise erst 14 oder 15 Jahre alt sind“. Und dieser Einfluss führt offenbar zu einer Verrohung der politischen Rhetorik.

Ein anderes Solid-Mitglied, das auch anonym bleiben will, aus Angst vor Anfeindungen, will aber die Bedeutung von „Klasse gegen Klasse“ nicht überschätzen. „Ich halte sie nicht für eine relevante Gefahr für die Linksjugend insgesamt“, sagt die Person Belltower.News. „Aber die Anfeindungen sind sehr real. Und die Gruppe ist vom Umgang her nervig und gefährlich. Sie picken immer wieder Einzelpersonen raus und diffamieren sie.“

Das trifft häufig weiblich gelesene und nicht-binäre Personen. Ein Beispiel: Bundessprecher*in Riley Dubiel. Alleine in den vergangenen Wochen hat „Klasse gegen Klasse“ Dubiel in gleich zwei Artikeln angegriffen. Das zweite Solid-Mitglied kritisiert, dass die Stimmung in Teilen der Linksjugend immer aggressiver wird. „Für diese Leute ist alles antideutsch und rechtsradikal, was nicht deren Meinung entspricht.“ Vor allem der Begriff „antideutsch“ werde inflationär verwendet, sagt die Person. „Nicht jeder, der den Staat Israel nicht wegbomben möchte, ist direkt antideutsch.“

Shitposts und Schauprozesse

Die Mordfantasien in der Chatgruppe sind nicht der erste Vorfall in den Reihen der Linksjugend Solid. Im November 2021 twitterte der Aktivist Dan Kedem, damals Landessprecher von Solid Berlin und ebenfalls in der Basisgruppe Berlin-Nord aktiv: „Amadeu Antonio Stiftung liquidieren“. Auslöser war eine Kampagne der Stiftung im Rahmen der Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus, die israelbezogenen Antisemitismus thematisierte. Der Berliner Landesverbandes der Linkspartei kritisierte den Tweet scharf. Fünf Monate später trat Kedem von seinem Amt als Landessprecher zurück.

Doch andere Solid-Landesverbände, wie etwa in Hamburg und NRW, solidarisierten sich mit Kedem. „Klasse gegen Klasse“ stellt die Kritik am Tweet in einem Artikel als „antideutsche Angriffe“ auf den jüdischen Kedem dar. Kedem selbst entschuldigte sich für den Tweet, den er als „Shitpost“ abzutun versuchte: „Für die Wortwahl entschuldige ich mich, weil sie dumm und drüber war“. Kedem ist nach Belltower.News-Informationen im September dieses Jahres aus der Linksjugend ausgetreten. Bis heute ist er aber Mitglied in der eingangs erwähnten Solid-Chatgruppe. Laut seiner Twitter-Biografie schreibt er nun für „Klasse gegen Klasse“.

Der Trend ist alarmierend: Mordfantasien, Schauprozesse, die Diffamierung vermeintlicher politischer Gegner*innen. In letzter Zeit entsteht bei der Linksjugend Solid Berlin das Bild einer Jugendorganisation, in der autoritäre Tendenzen immer salonfähiger werden, in der die Sprache immer gewaltvoller wird. „Mir persönlich geht das aus Jugendschutzgründen zu nah“, sagt das erste anonyme Solid-Mitglied Belltower.News. „Was ich mir so angucke – das ist eigentlich mit einem Jugendverband nicht vereinbar.“

Eine Sprecherin des Berliner Landesverbands der Linkspartei findet deutliche Worte für den Vorfall: „Die Aussagen sind völlig inakzeptabel, wir lehnen solche Gewaltfantasien selbstverständlich strikt ab und weisen sie unmissverständlich zurück.“ Selbst wenn die Aussagen als „pubertäre Provokation“ oder gar als Witz gemeint gewesen sein sollten, seien sie völlig fehl am Platz, so die Sprecherin weiter.

Die Aussagen würden von einer sehr kleinen Gruppe von entristisch motivierten Personen getroffen, die innerhalb des Jugendverbandes isoliert seien, betont die Linken-Sprecherin. „Die praktischen Konsequenzen aus den dort getätigten Aussagen sowie dem weiteren Umgang untereinander, muss der neue Landessprecher*innenrat von Solid ziehen“, sagt sie weiter. Dieser werde sich in den nächsten Tagen konstituieren.

Auch der Bundessprecher*innenrat der Linksjugend Solid kritisiert die Äußerungen in der Chatgruppe scharf: „Die Gewaltandrohungen von ‚Brokkoli‘ lehnen wir vehement ab“, sagt ein Sprecher Belltower.News. „Andere Linke als rechts zu bezeichnen und ihnen Gewalt und Tod zu wünschen, sind Vorgänge, die allen Linken und dem Verband schaden und gleichzeitig dem Erstarken rechter Kräfte mehr als irgendeiner Revolution.“ Der Begriff „konterrevolutionär“ werde inflationär verwendet, um Hetze gegen den Bundessprecher*innenrat der Solid und andere Mitglieder zu fabrizieren, heißt es weiter.

Und der Bundessprecher*innenrat der Solid betont: Solche Positionen, wie sie in der Telegram-Gruppe verbreitet werden, seien im Bundes- und Landesverband der Jugendorganisation auch auf Widerstand gestoßen. Sanktionen gegen die Person könne es aber nicht geben, weil sie offiziell kein Mitglied ist.

* (Rechtschreibung in allen Chatnachrichten wurde für die Lesbarkeit leicht verbessert).

Update 26.10.22: In einer früheren Version dieses Artikels stand, dass Dan Kedem Mitglied der Linkspartei war. Richtig ist: Er war nur Mitglied und Landessprecher deren Jugendorganisation Solid. Er trat von seinem Amt zurück erst fünf Monate nach dem viel kritisierten Tweet. Wir haben den Fehler nun korrigiert.

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