Weiter zum Inhalt Skip to table of contents

Michaela Dudley Demagogie angesichts des Hamas-Angriffskrieges

Von|
Blick auf Jerusalem; Symbolbild Israel. (Quelle: Pixabay / neufal54)

 

Linientreue statt Lebensrealität

Samstag rief mich meine jüdisch-amerikanische Freundin Mava an. Nach ihren vom Terror geprägten Tagen zu Besuch in Israel hatte sie es zurück nach Wien geschafft. Ohne starke Beruhigungsmittel kann sie nicht einschlafen. Ich atmete auf, wir weinten am Telefon zusammen.

Einen Tag später erhielt ich eine E-Mail, dann kurz daraufhin einen Anruf von einer Podcasterin, die dringend Diskussionsteilnehmende suchte. Es ging um das Thema, das die Schlagzeilen inzwischen seit anderthalb Wochen beherrscht. Die Influencerin fragte mich ohne viel Federlesens im Vorgespräch: „Wie können wir den Völkermord in Gaza beenden? Was meinen Sie dazu?“

„Welches Volk wird von wem in Gaza ermordet?“ erwiderte ich. Sie hörte meine Skepsis. Da es ein Videoanruf war, ist mein Stirnrunzeln ihr sicherlich auch nicht entgangen.

„Aber die Lage da ist Ihnen bekannt“, sagte die Podcasterin, stöhnend. „Es stecken um die zwei Millionen palästinensische Menschen in Gaza. Männer, Frauen, Kinder. Alle sind auf engem Raum zusammengepfercht. Neunzig Prozent ohne Strom und Wasser.“

„Es ist tragisch, ja erbärmlich“, bemerkte ich. „Ich kenne einige Menschen im Gaza-Streifen. Also persönlich. Auch eine Entwicklungshelferin, die bis vor einem Jahr dort tätig war – aber ich hätte eine Gegenfrage.“

„Bitte“, sagte die Podcasterin und nickte.

„Wer hat seit rund sechzehn Jahren das Sagen, das alleinige Sagen in Gaza?“ gab ich zurück. „Die Hamas. Natürlich die Hamas. Wäre es also nicht angebrachter, die Schuld für diese Misere eher bei der Hamas zu suchen?“

„Ähm, ich glaube, so wird das nichts mit uns“, sagte die Podcasterin seufzend. Dabei schüttelte sie den Kopf so sehr, dass es ein Wunder war, dass sie ihr Headset nicht verlor.

„Was ist das Problem?“ wollte ich wissen.

„Ganz ehrlich, man meinte, Sie würden weltoffen sein, gegen Unterdrückung und so“, fing sie an zu antworten. „Neulich aber haben Sie in Ihrer Kolumne Israel verteidigt und von der sogenannten Doppelmoral der Israel-Kritiker:innen gesprochen. Nun gebe ich Ihnen gerne die Chance, Ihre Position zu revidieren. Nach einer Woche israelischer Aggressionen gegen Gaza müsste es Ihnen doch einleuchten, wer eigentlich Völkermord betreibt. Doch Sie holen aus, um noch weitere Ressentiments gegen Palästina zu verbreiten. Die wahren Terrorist:innen sitzen in Tel Aviv …“

Das Vorgespräch mündete in eine Sackgasse. Ich beendete das Meeting vorzeitig. Nächstes Mal müsse Sie mir mein Skript frühzeitig schicken, zischte ich zynisch. Und so könne ich erfahren, was ich sagen dürfe und solle. Daraufhin hörte ich, sie könne keine „zionistische Inhalte“ ausstrahlen. Das hier dokumentierte Gedächtnisprotokoll ähnelt dem Verlauf andere Diskurse, die ich in den letzten zehn Tagen geführt und abgebrochen habe.

Hysterie statt Historie

Seit dem Beginn des am 07. Oktober 2023 initiierten Angriffskrieges der Hamas gegen Israel quellen unzählige, angeblich progressive Podcaster*innen, Propagandist*innen und Palästina-Koryphäen aus allen Löchern hervor, um das Internet mit Halbwissen, mit Hashtags und nicht zuletzt mit Hetze noch weiter zu füllen. Ja, mit Hetze. Und sie stoßen auf fruchtbarem Boden.

Die jüngste Frechheit besteht eben darin, Israel des „Völkermord auf Raten“ im Gazastreifen zu bezichtigen. In den „sozialen“ Medien machen provokative Hashtags – wie #StopTheGenocideInGaza und #StopTheGenocideOfPalestinians – die Runde. Die Posts werden mit palästinischen Fähnchen versehen und bedenkenlos weiter geteilt. Denn wer könne Genozid überhaupt gutheißen? Und warum dürfe Israel beim Völkermord wieder einen Freibrief genießen?

Faktencheck: Die 1988 veröffentlichte Gründungs-Charta der Hamas ruft mit einem einschlägigen Appell zum Kampf gegen den Staat Israel auf. Zur Erinnerung: Artikel 7 ebenjener Charta prophezeit mit nicht zu leugnender Sehnsucht: „Die Stunde wird kommen, da die Muslime gegen die Juden solange kämpfen und sie töten, bis sich die Juden hinter Steinen und Bäumen verstecken.“

Dabei handelt es sich nicht etwa um lediglich latente Antipathien, die man mit einem Schuss Verständnis irgendwie verdauen solle. Nein, es geht unmissverständlich um „eliminatorischen Antisemitismus“, wenn ich den vom Soziologen und Historiker Daniel Goldhagen geprägten Begriff verwenden darf. Auf alle Fälle ist es merkwürdig, dass die Hamas eher Gewalt als Gerechtigkeit wählt. Die meisten Gründungs-Chartas, Unabhängigkeitserklärungen und dergleichen sind darauf bedacht, politische Ziele mittels blumiger Sprache und mit Optimismus zu artikulieren. Die Hamas jedoch setzt nicht auf blumige Sprache und Verse, sondern auf blutrünstige Schlachtparolen und auf das Optimieren der Vernichtung Israels.

Der 1948 gegründete Staat Israel wird heutzutage von rund ca. 9.3 Millionen Menschen bevölkert, und die Population besteht zu 75 Prozent aus Menschen jüdischer Abstammung. Aus Sicht der Hamas seien Israelis überhaupt auf der Abschussliste. Und es fällt auf, dass der jüngste Überfall der Hamas auf Israel zum 50. Jahrestag des Jom-Kippur-Krieges stattfand. Jom-Kippur, hebräisch für „Tag der Sühne“ bzw. „Versöhnungsfest“, ist der feierlichste und heiligste Tag des jüdischen Jahres. Ausgerechnet dann griff die Hamas unbewaffnete israelische Bürger:innen an und setzte somit ihre gezielte Tötung jüdischer Menschen fort. In Kürze: Es ist die Hamas, die in Wort und Tat den „Völkermord auf Raten“ verübt.

Zwischen Demokratie und Demagogie

Die Haltung der Hamas macht klar: Eine von der internationalen Diplomatie angestrebte Zwei-Staaten-Lösung ist keineswegs möglich, solange einer der beiden „Verhandlungspartner“ es als sein Grundrecht betrachtet, den anderen und dessen Volk buchstäblich auszulöschen, um Platz für eine islamische Republik zu schaffen. Israel, das gewissermaßen seit biblischer Zeit Gelobte Land, ist seit eh und je auch das bedrohte Land. Ungeachtet dessen ist Israel bis heute bekanntermaßen die einzige Demokratie des Nahen Ostens.

Oder wie bekannt ist diese Tatsache genau? Offenbar kommt sie nicht bei allen Linken an. Wenn ich mich beispielsweise bei Posts online erdreiste, Israel als Demokratie zu bezeichnen, muss ich bereit sein, eine Tracht Prügel einzustecken.

„Ernsthaft? Du denkst [sic] Israel sei eine Demokratie? Wow, ich fand Dich mal cool. Jetzt kotze ich.“

Fakt ist, in Israel gibt es rechtlich verankerte demokratische Mechanismen wie das Misstrauensvotum und vorgezogene Wahlen. In Gaza jedoch werden die Wahlen nicht vorgezogen, sondern verschoben. Auf die lange Bank. Über die Jahre hinweg.

Wahrhaftig hat Hamas 2006 die Wahl in Gaza gewonnen. Die EU und die USA drehten den Geldhahn zu, was Finanzhilfen für die Regierungsbehörden Palästinas anging. Die Hamas willigte in eine Koalition mit der als weniger radikal geltenden Fatah-Bewegung ein. Nach einem gnadenlosen Bürgerkrieg zwischen den vermeintlich Koalitionspartnern setzte sich die Hamas durch. Ihre bewaffneten Milizen bestürmten am 12. Juni 2007 das Fatah-Hauptquartier, liquidierten weite Teile der Fatah-Führung und brachten den gesamten Gazastreifen unter ihre eiserne Faust. Seither regiert die Hamas in Gaza, ohne Anstalten zu machen, ihre Untertan:innen wählen gehen zu lassen. Zum Vergleich: Israel wurde von Holocaust-Überlebenden gegründet, und zwar knapp drei Jahre und sechs Tage, nachdem die Nazis in Deutschland die Hakenkreuzflagge niedergeholt und die weiße Fahne gehisst hatten. Dass die palästinensischen Behörden es seit nahezu zwei Jahrzehnten nicht schaffen, auf dem eigenen Territorium eine Demokratie zu etablieren, hängt womöglich – und ich lehne mich hier weit aus dem Fenster – mit dem kollektiv fehlenden Willen der der politischen Akteur:innen Palästinas zusammen. Der Hamas ist seit 2007 nichts gelungen, außer die eigene Bevölkerung, nämlich die 2 Millionen Einwohnenden Gazas, gefangen zu nehmen, einige Milliarden Dollar bzw. Euro einzustreichen und zahlreiche israelische Zivilist:innen in feigen Terrorangriffen zu vergewaltigen und zu ermorden.

Seit den letzten ca. fünf Jahren betreue ich vereinzelte Geflohene aus Gaza ehrenamtlich mit, die sich der LGBTQ-Community zugehörig fühlen. Das, was diese tapferen Menschen über die Hamas zu sagen haben, ist nicht besonders lobpreisend. Drei von jenen Schutzbedürftigen, die sich zum 1. Mal 2021 erkühnt hatten, mit einer kleinen israelischen Flagge aufzutreten, wurden blitzschnell von einem Pulk erboster cis-Männer umkreist, bespuckt und mit Getränken überschüttet. Das geschah übrigens in Berlin (vgl. taz).

Hierzulande in der BRD belehren und betonen zahlreiche Linke, Palästina sei nicht gleich Hamas. Dennoch schlagen sie sich „notgedrungen“ de facto auf die Seite der islamistischen Terrorist:innen, um zum Widerstand gegen Israel zu mobilisieren. Es bildet sich, teils bewusst, teils völlig ahnungslos, eine unheilige Allianz von Hamas-Apologet:innen. Selbstradikalisierte White Saviours, krawallmachende Autonome, marginalisierte Migrantifas und privilegierte Promis. Sie warten mit Whataboutisms und mit jedwedem denkbaren „Ja, aber“ auf, um der israelischen Bevölkerung die Solidarität zu verweigern. Dass man Israel nach dem von der Hamas angerichteten Blutbad auch nur eine schweißperlengroße Träne der Sympathie nachweint, gilt als uncool und ungerecht.

Gefahren und Gewissheit

Auf den Schulhöfen und Straßen Berlins gibt es diesbezüglich täglich Auseinandersetzungen. Eine Kippa öffentlich zu zeigen zieht aggressive Antagonist:innen geradezu magnetisch an, die sich dazu berechtigt fühlen, Schläge zu erteilen und Volksverhetzung zu betreiben. Die palästinensische Flagge wird voller Schadenfreude geschwenkt. In wonnevoller Wildwut fungiert sie als ausgestreckter Mittelfinger gegenüber Menschen jüdischen Glaubens, als ging es um konkurrierende Fußballnationalmannschaften. Via Instagram werden Free-Palestine-Posts geteilt, in denen die der Davidsstern bildlich mit der Swastika aus der NS-Zeit gleichgesetzt wird. In Foren von X (ehemals Twitter) und Telegramm rätselt man allen Ernstes darüber, wie man eine Art GoFundMe ins Leben rufen kann, da die Samidoun endlich keine Süßigkeiten verteilen und kein Geld eintreiben darf.

Eigentlich dürfte es nicht überraschen. Bislang wurde die Aufklärungsarbeit gegen den Antisemitismus weitestgehend nur als integralen Bestandteil der Aufklärungsarbeit gegen den Rechtsextremismus verstanden. Doch der Rechtsextremismus hat eben kein Monopol auf judenfeindliche Ansichten. In der Bekämpfung des Antisemitismus war man trotzdem auf dem linken Auge blind. Unter dem Deckmantel der Kritik an Israel ist es erklärten Linken gelungen, sich ziemlich viel Spielraum zu schaffen. Einige nutzen diesen Spielraum allerdings aus, nicht um legitime Kritik zu verüben, sondern um mit Codes und dünn verschleierten Stereotypen gegen Juden und Jüdinnen auszuteilen. Dabei wird Israel das Recht auf Selbstverteidigung ung überhapt das Existenzrecht beliebige eingeschränkt oder sogar abgesprochen. Somit ist der linke Antisemitismus sehr anschlussfähig, was rechtsextreme Positionen betrifft. Eine Angelegenheit, die den Neonazis in die Hände spielt, während sie sich nach Israels 9/11 ins Fäustchen lachen. Der Zeitgeist ist kein Garant für Gerechtigkeit, das lehrt uns die Geschichte.

Weiterlesen

2019-11-22_Friedrich_Merz_CDU_Parteitag_by_OlafKosinsky_MG_5686

Michaela Dudley Friedrich Merz und das Kreuzberger Rätsel

„Nicht Kreuzberg ist Deutschland, Gillamoos ist Deutschland“ sagte CDU-Chef Friedrich Merz auf einem bayrischen Volksfest. Unsere Kolumnistin Michaela Dudley fragt sich: Nützen die mangelhaften Geographie-Kenntnisse von Merz nicht eher der AfD statt seiner eigenen Partei?

Von|
Eine Plattform der