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Michaela Dudley Friedrich Merz und das Kreuzberger Rätsel

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Friedrich Merz, Vorsitzender der CDU. (Quelle: Wikimedia / Olaf Kosinsky / CC BY-SA 3.0)

Wie hat Friedrich Merz es geschafft, das heilige deutsche Abitur zu erwerben, ohne zu wissen, welchem Staat Kreuzberg gehört? Beim Geographieunterricht hätte er eigentlich schon durchfallen müssen, oder? Setzen, sechs. Turbo-Abiturient war er wohl nicht.

Auf dem Gymnasium von Brilon im Regierungsbezirk Arnsberg saß Merz ganz hinten im Klassenzimmer, wo er während des Unterrichtes zünftig Doppelkopf mit seinen Kameraden spielte. Schon damals mischte er also gerne die Karten auf. Nach Wiederholung der achten Klasse musste er die Schule allerdings wechseln. Okay, okay. Das waren Jugendsünden. Tatsächlich war der Teenager Merz anno dazumal eher anti-autoritär unterwegs. Gerne rebellierte er gegen die heimgekehrten Helden, die frontal unterrichtenden Faschos, die von Zucht und Ordnung durch und durch geprägt waren. So weit, so gut. Und ebenda im östlichen Sauerland gab es immerhin keine Flugblatt-Skandale, was den Zweimeterjungen betraf.

Außerdem hat der mittlerweile 67-jährige, millionenschwere Rechtsanwalt es im Leben, trotz Krach mit Angela Merkel, ziemlich weit nach oben gebracht. Als Politiker. Als Pilot wohl auch.

Aber mal nachgehakt: Wie ist es Friedrich Merz überhaupt gelungen, den deutschen Flugschein zu ergattern, ohne zu wissen, wo Kreuzberg liegt? Fakt ist, ebenjener Berliner Ortsteil, bereits im Jahre 1290 urkundlich erwähnt, ist nach einem im Viktoriapark gelegenen Hügel benannt, der mit einer Höhe von 66 Metern über dem Meeresspiegel die höchste natürliche Erhebung der Innenstadt bildet. Na gut, die im Luftfahrthandbuch veröffentlichten, sogenannten ICAO-Sichtflugkarten stellen im Maßstab 1:500.000 meist Hindernisse dar, die erst 100 Meter über Grund stehen. Doch die Flugkarten sind trotzdem übersät mit fett gedruckten roten Ziffern und Symbolen, welche den überflogenen Ort und dessen Topographie gut erkennen lassen. Vielleicht benötigt es speziell für volkstümelnde Konservative, die gedenken, den Kreuzberger Luftraum auch nur verbal zu durchqueren, einen zusätzlichen höflichen Warnhinweis:

„Vorsicht, Falle! Sie verlassen nun den autochthonen deutschen Sektor und können bei grober Überheblichkeit einen Shitstorm von Windstärke 10 bis 12 vom Zaun brechen und (gegebenenfalls zum wiederholte Male) zur peinlichen Lachnummer werden. Es wird dementsprechend dringend empfohlen, diese Piste bloß nicht anzufliegen. Kehren Sie lieber zurück in Ihre Komfortzone und schalten Sie Ihr Mikrophon bis auf Weiteres aus.“

Der Chef der Christdemokrat:innen wäre an und für sich gut damit gefahren, ebenjene Risiken und Nebenwirkungen zu umfliegen. Aber nein, er will es immer wieder wissen. So kam es neulich dazu, dass der Herr, der einst in der prä-Elster-Ära seine Steuererklärungen auf dem Bierdeckel zu erledigen versucht hatte, den Untersetzer nun als Spickzettel voller Anmerkungen für billige Stimmungsmache verwendete. Letzte Woche auf einem bajuwarischen Volksfest verkündete er: „Nicht Kreuzberg ist Deutschland, der Gillamoos ist Deutschland.“

Wie konnte er nur? Was würde Adenauer dazu sagen? Wie würden meine Vorfahren reagieren, die über die Jahrzehnte hinweg als GIs beim US-Militär Wache am Checkpoint Charlie schoben? Checkpoint Charlie ist in Kreuzberg – und Kreuzberg liegt in Deutschland.

Der Gillamoos, auch Fest der Hallertau genannt, befindet sich wohl auch in Deutschland. Besser gesagt in Bayern. Genauer genommen ist der Gillamoos Bayerns ältester Jahrmarkt. Er findet in Abensberg statt. Abensberg hat 12.629 Einwohnende, während das Weltstädtchen Arnsberg, der Wohnort von Merz, sage und schreibe von 74.323 Einwohnenden reden darf. Aber Berlin-Kreuzberg mit seinen 152.919 Einwohnenden steckt beide Örtchen locker in die Westentasche. Weshalb also müsste Kreuzberg diese Demütigungen über sich ergehen lassen?

Ein solcher Fauxpas ergibt sich bei Merz nicht unbedingt aus heiterem Himmel. Schon vor drei Jahren in Apolda, der kleinen Kreisstadt des Weimarer Landes, hatte Merz behauptet: „Deutschland ist nicht Kreuzberg.“ Die Aussage kam ebendort in Thüringen sehr gut, davon hat aber vor allem die AfD profitiert. Ungeachtet dessen ist Merz schon wieder dabei. Denn er möchte immer noch Kanzler werden. Seine „K-Frage“ dreht sich also darum, wann ein Kreuzberg-Witz angebracht sei.

Bewohnende des spruchreifen Ortes, ob im SO 36 oder Kreuzberg 61, lachen eigentlich gerne, und zwar auch wenn sie mal nicht bekifft sind. Man darf also Witze über Kreuzberg reißen. Kreuzberg zu parodieren, ist für die Bewohnenden gar nicht automatisch Nestbeschmutzung. Gerne kritisieren viele unerbittlich die Gentrifizierung, die mit der Kreuzberger Gründerszene nolens volens einhergeht, und viele möchten auch nicht, dass der Görlitzer Park den Gangstern überlassen wird. Das ist nicht das Problem. Einstecken können Berliner landesweit. Aber auf wessen Kosten wird Kreuzberg verrissen? Der Geistesblitz aus Gillamoos war kein Zufall, sondern ein Unfall mit Ansage. Im Bierzelt der besorgten Bürger*innen sind Hopfen und Malz immer verloren, die Heimatliebe jedoch nicht, und so gehöre es sich, Deutschland gewissermaßen nach Maß zu definieren – nämlich weiß, christlich, bürgerlich, obrigkeitshörig, heterosexuell.

Kreuzberg ist nicht lediglich ein Kiez, sondern auch ein Code, der bei rassifizierter Verwendung das vermeintlich „Undeutsche“ ansprechen lässt, ohne dass ausdrücklich herablassende Äußerungen über die Lippen gebracht werden müssen. Ja, ein Code. Vielmehr ein Art Dog Whistle. Wenn man „Kreuzberg“ mit dem kalkulierten echauffierten Groll eines alten, weißen Mannes artikuliert, ist es, als würde man mit der Hundepfeife trillern und dabei „Ghetto der Gastarbeiter“ zu verstehen geben. Es geht also um die Signalwirkung. Das Wort ist somit ein Euphemismus für etwas, dass endlich gesäubert werden solle. Im Grunde genommen müsse man Kreuzberg sogar nicht abstoßen, denn es sei dem deutschen Staate längst abhanden gekommen.

Tatsächlich sind rund 25 Prozent der Kreuzberger*innen Muslime, ein Drittel der Einwohnenden insgesamt hat einen migrantischen Hintergrund. Das sind übrigens mehr oder minder stetige Zahlen, bei denen man nicht plausibel von einer fortschreitenden „Überfremdung“ reden kann. Aber Populist*innen beschränken sich ungern auf die Plausibilität. Vielmehr wähnen sie in der stabilen Multikulturalität eine Bedrohung für die Bundesrepublik, die so oder so unaufhörlich bunter wird. Denn der demografische Wandel ist unumkehrbar, und zwar nicht wegen einer „Asylantenflut“, sondern wegen der Tatsache, dass biodeutsche Kartoffeln immer weniger Wurzel schlagen. Stichwort: Geburtsrückgang bei den German*innen. Das ist Fakt, und dagegen ist kein Kraut gewachsen.

In Anbetracht dessen braucht Deutschland Kreuzberg. Vielleicht sollte diesbezüglich die besorgte Bürgerschaft vermehrt Integrationskurse absolvieren und Orte wie Kreuzberg eben vor Ort näher kennenlernen. Ohne Stereotypisierung, jedoch mit all seinen Ecken und Kanten.

Christdemokrat*innen müssten vor Kreuzberg eigentlich auf die Knie gehen. Ausgerechnet in Kreuzberg erreichte die Berliner CDU bei der jüngsten Wahl im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg einen Zuwachs im Vergleich zum Jahre 2016. Ist das dem Anführer der Merz-Revolution bewusst? Offenbar nicht. Oder es ist ihm schlichtweg egal?

Ziel: Kanzleramt durch das Kreuzberg-Bashing. Es scheint noch nicht zu fruchten.

Merz hat sogar das Bravourstück vollbracht, in puncto Beliebtheit hinter Olaf Scholz zu landen. Tja, Scholz, der mit Piratenklappe als Einäugiger unter den Blindfliegenden reüssiert. Vielleicht sollte der christdemokratische Pascha der Pauschalisierungen umso lauter gegen die Kriminalität poltern. „Drogen sind jede Menge im Umlauf, was passiert, wenn die Polizei die Täter stört, zeigt die Kriminalitätsstatistik …“, so fängt die Schlagzeile an. Allerdings geht es nicht um Görli und Kotti, sondern um die Frage: „Warum Arnsberg und Meschede im HSK [Hochsauerlandkreis] Drogen-Hotspots sind.“

Sollte Merz nicht lieber vor der eigenen Haustür kehren, anstatt Sturzflugangriffe auf Kreuzberg zu fliegen?

Foto: Wikimedia / Olaf Kosinsky / CC BY-SA 3.0

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