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Polen Queeren Aktivist*innen droht Anzeige

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(Quelle: KPH)

Sie alle haben eine Charta unterzeichnet, die von Ordo Iuris ins Leben gerufen wurde. Ordo Iuris ist eine durch rechtskonservative Jurist*innen gesteuerte Organisation, die laut dem Gunda-Werner-Institut der Heinrich-Böll-Stiftung dem katholischen Opus Dei nahesteht. In dieser Charta werden die Kommunen aufgefordert, „traditionelle Familien“ besonders zu schützen. Die Vorstellung von einer traditionellen Familie beschränkt sich bei Opus Dei auf die Ehe zwischen einem Mann und einer Frau sowie ihren leiblichen Kindern. Mittels ihrer Charta verlangt die Organisation von Politiker*innen, sich nur auf diese Art von Familien zu konzentrieren und Alleinerziehenden, Patchwork-Familien oder gleichgeschlechtlichen Paaren die Unterstützung zu verweigern. Mit ihrer Karte wollen sich die drei Aktivist*innen gegen diese Diskriminierung von queeren Menschen wehren. Für ihr Engagement droht ihnen nun eine Anzeige von Ordo Iuris.

Recht – ohne Gerechtigkeit

Unterstützt wird Ordo Iuris unter anderem von der rechtspopulistischen Partei PiS (deutsch: Recht und Gerechtigkeit), die im letzten Wahlkampf gezielt auf Ressentiments gegenüber LGBT*-Personen gesetzt hat. Im Falle eines Wahlsiegs der Opposition hatte Jarosław Kaczyński, Vorsitzender der Partei und ehemaliger Ministerpräsident des Landes, behauptet, dass Polen es mit einer riesigen LGBT*-Offensive zu tun haben werde: „Wenn die Oppositionskräfte eine gemeinsame Regierung bilden, werden diejenigen, die die moralische und kulturelle Ordnung in unserem Land radikal zerstören wollen, sicherlich dominieren.“ Diesen Tonfall teilen andere Spitzenpolitiker der Partei wie Premierminister Mateusz Morawiecki oder Jarosław Gowin, stellvertretender Ministerpräsident und Minister für Wissenschaft und Hochschulbildung. Gowin sieht LGBT* als „eine Ideologie, die dem gesunden Menschenverstand und den traditionellen polnischen Werten widerspricht“. Obwohl derlei Aussagen gerade aus wissenschaftlicher oder pädagogischer Sicht unhaltbar sind, haben sie reale Auswirkungen auf das Leben von queeren Menschen wie Kuba, Paulina und Paweł.

Juristische Rückendeckung erhalten die drei Aktivist*innen bei der Kampania Przeciw Homofobii (KPH), einer Nichtregierungsorganisation, die sich seit über 15 Jahren gegen Homo- und Transfeindlichkeit engagiert. Magdalena Świder, Mitglied im Anwaltsteam von KPH, informiert über den aktuellen Stand der Entwicklung: „Derzeit haben sich über 100 Gemeinden in Polen symbolisch zu ‚LGBT*-freien Zonen‘ erklärt, indem sie Resolutionen verabschiedet haben, mit denen LGBT*-Personen implizit oder explizit diskriminiert werden. Ungefähr 30 dieser Gemeinden haben sich einer von Ordo Iuris initiierten ‚Charta der lokalen Regierung zum Recht der Familie‘ angeschlossen.“ Laut Świder lassen derlei Resolutionen keinen Zweifel an den Absichten ihrer Autor*innen: „Die Resolutionen sollen LGBT*-Menschen entmenschlichen und auf ‚Ideologien‘ und Lebensstile reduzieren, welche angeblich die Familie bedrohen. Gleichzeitig hält die Charta Mitarbeiter*innen staatlicher Institutionen von Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsmaßnahmen ab. Auf diese Weise schaffen sie eine Atmosphäre der Zustimmung zu Gewalt gegen LGBT*-Personen.“

Gewalt gegen LGBT* wird kaum wahrgenommen

Aktuell gibt es in Polen keine belastbare Statistik dazu, wie viele Menschen aufgrund ihrer sexuellen Identität oder Orientierung angegriffen wurden. Die polnische Polizei hat zwischen 2014 und 2018 lediglich 32 Straftaten erfasst, bei denen eine homo- oder transfeindliche Motivation ausschlaggebend war. Die Angaben, die vom Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte (engl. ODIHR – Office for Democratic Institutions and Human Rights), einer in Warschau ansässigen Institution der OSZE, zusammengetragen wurden, machen deutlich, dass eine massive Dunkelziffer existiert. Die Zahlen von KPH vermitteln dazu auch einen anderen Eindruck. Demnach haben 73 % der LGBT*-Jugendlichen Angst, in die Schule zu gehen, weil sie sich dort nicht sicher fühlen können. 70 % haben bereits Erfahrungen mit Angriffen gemacht.

Öffentlich bekannt werden jedoch nur besonders gravierende Gewalttaten, wie etwa die Ausschreitungen von vergangenem Jahr gegen den Equality March in Białystok. 2019 fand in der Großstadt im Nordosten Polens zum ersten mal eine Demonstration statt, bei der etwa 1000 Teilnehmer*innen gegen die Diskriminierung von LGBT*-Menschen auf die Straße gingen. Ihnen gegenüber standen mehrere Tausend Gegendemonstrant*innen aus dem rechten und neonazistischen Spektrum. Dutzende Teilnehmer*innen des Equality March wurden angegriffen und die Polizei identifizierte auf Seiten der Rechsextremist*innen über 120 Personen, die sich an den Gewalttaten beteiligt hatten.

Auch jenseits solcher Ereignissen berichtet Magdalena Świder von der Kampania Przeciw Homofobii von einer queerfeindlichen Stimmung, die sich immer wieder in konkreten Gewalttaten äußert: „Bei uns erzählen Menschen, dass sie auf der Straße angegriffen werden, nur weil sie ein Kleidungsstück mit Regenbogen tragen. Mit solchen Gewalttaten soll unsere Community eingeschüchtert werden. Viele meiner Freunde haben Polen deswegen bereits verlassen oder sie denken darüber nach. Unsere Situation hat sich vor den letzten Wahlen definitiv verschlechtert, weil die LGBT*-Community instrumentalisiert wurde, um PiS-Wähler zu mobilisieren.“

Queere Opfer von Gewalt erfahren weniger Sympathie

Bereits Ende letzten Jahres hatte die Organisation Lambda Warszawa darauf aufmerksam gemacht, dass die polnische Gesellschaft für queere Gewaltopfer weniger Empathie empfinde als für heterosexuelle. Grundlage für diese Feststellung von Lambda Warszawa war eine Befragung, die von dem Projekt Call it Hate in zehn europäischen Staaten durchgeführt wurde. Demnach werde homosexuellen Paaren und Transgender am ehesten Mitgefühl entgegengebracht, wenn sie von Neonazis attackiert wurden. Die Empathie sinkt jedoch deutlich bei politisch motivierten Übergriffen gegen LGBT*-Personen im Nachtleben oder gegen Transgender, die ihr Geld mit Sexarbeit verdienen. „Sobald die Befragten den Opfern ein gewisses Maß an Schuld zuschreiben können, nimmt die Empathie ab“ meint Piotr Godzisz, Forschungsleiter bei Lambda Warschau. Er sieht dies als einen Hinweis auf Victim Blaming. „Wenn das Opfer als schwächer als der Täter angesehen wird, wie im Fall der Angriffe durch Rechtsextremist*innen oder bei lesbischen Opfer, werde die Empathie dagegen stärker.“

Reaktionen von deutschen Partnerstädten und der EU

Mittlerweile haben sich auch die Europäische Union und Partnerstädte jener Kommunen, die sich zu LGBT*-freien Zonen erklärt haben, zur Situation von queeren Menschen in Polen geäußert. So hatte die französischen Gemeinde St. Jean-de-Braye ihre Städtepartnerschaft mit dem polnischen Tuchow aufgekündigt, um gegen die dortige Diskriminierung queeren Lebens zu protestieren. Auch in zahlreichen deutschen Städte – darunter Weimar (Thüringen), Paderborn (Nordrhein-Westfalen) oder Illingen (Baden-Württemberg) – haben die Vorgänge im Nachbarland zu politischen Debatten geführt. Während einzelne Städte über ein Ende der bisherigen Zusammenarbeit nachdenken, setzt man in anderen Kommunen eher auf den Ausbau von Jugendaustauschprogrammen, um den Dialog mit progressiven Kräften in Polen zu stärken. Auch das Europäische Parlament hat bereits dafür gestimmt, die Einrichtung von LGBT*-freien Zonen zu verurteilen und die polnische Regierung dazu aufgefordert, diese diskriminierende Praxis einzustellen.

Im Schatten der Coronapandemie setzt sich die Diskriminierung queerer Menschen weiter fort. Kürzlich hat Polen die Grenzen zu seinen Nachbarländern für Ausländer*innen geschlossen, um eine weitere Ausbreitung des Virus zu verhindern. Ausnahmen gelten für ausländische Ehepartner*innen und für Menschen mit Daueraufenthaltsgenehmigung, nicht jedoch für gleichgeschlechtliche Paare und ihre Kinder. Kürzlich konnte eine Polin mit ihrer spanischen Ehepartnerin und dem gemeinsamen Kind nicht mehr einreisen, weil ihre Partnerschaft vom polnischen Gesetzgeber nicht anerkannt wird. Die beiden Frauen müssen sich aktuell darauf einstellen, für mehrere Wochen getrennt voneinander zu leben.

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