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Reichsbürgerprozess Bobstadt „Es kann alles oder nichts passieren“

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Der aktueller Zustand des Tatorts, also des Hauses, in dem Ingo K. gewohnt hat. (Quelle: Timo Büchner)

Montag, 12. Juni 2023: Um 9:21 Uhr beginnt der siebte Prozesstag im Sitzungssaal 2. Der Vorsitzende Richter begrüßt den Leiter des Polizeireviers Tauberbischofsheim. Der Zeuge war Einsatzplaner am 20. April 2022. Wegen einer Corona-Erkrankung musste er die Einsatzleitung aber abgeben. Der Plan war, eine Waffe des „Reichsbürgers“ Ingo K. einzuziehen. Vor Ort eskalierte der Einsatz: Der Angeklagte soll geschossen und versucht haben, 14 Polizist*innen zu töten.

Der Zeuge, der ein weißes Polizeihemd trägt, spricht über die Ausgangslage. Er habe Informationen über Ingo K. gesammelt: Die Waffenbehörde habe berichtet, er sei „ablehnend“. Die Stadt Boxberg habe ihn als „nicht kooperativ“ bezeichnet. Mehr noch: K. „schottet sich ab“. Die Stadtverwaltung habe vermutet, dass Ingo K. zur „Reichsbürger“-Szene gehöre. Der Beamte habe die Vorstrafen des Angeklagten überprüft und eine Gefahreneinschätzung seiner Hunde veranlasst. K. wurden sechs Tiere der südafrikanischen Rasse „Boerboel“ zugerechnet. Der Einsatzplaner resümiert: Die „Gefahrenlage“ sei „grundsätzlich zu hoch“ gewesen – weshalb er das SEK angefordert habe. „Da brauche ich Spezialisten“, sagt er. Nachdem Ingo K. die Anrufe und eine Sprachnachricht der Waffenbehörde ignoriert hatte, entschied der Zeuge, den Einsatz durchzuführen.

„Nicht erforderlich“ und „total überzogen“

Der Vorsitzende Richter sagt, die Polizei sei um 5 Uhr am Parkplatz des Sportplatzes im Boxberger Ortsteil Schweigern eingetroffen. Der Zeuge erklärt, der Parkplatz sei „ein bis zwei Minuten“ vom Einsatzort entfernt. Man sei mit den zivilen Fahrzeugen, später – „wenn die Lage bereinigt ist“ – mit den übrigen Fahrzeugen nach Bobstadt gefahren. Der Einsatzplan: Das SEK mache die Lage „statisch“, der Rest halte die Lage „statisch“, sodass der „normale Polizist“ ins Zielobjekt kann. „Es kann alles oder nichts passieren“, berichtet der Zeuge. Der Vorsitzende Richter hakt nach. Der Zeuge präzisiert, es hätte passieren können, man klingle und Ingo K. gebe die Waffe ab – und es hätte passieren können, Ingo K. schieße. Der Vorsitzende Richter zeigt Karten der Einsatzplanung. Eine Karte zeigt die „Kräftesammelstelle“ in Schweigern, zwei Karten das „Zielobjekt“ in Bobstadt.

Der Staatsanwalt fragt den Zeugen, ob er nach dem Einsatz mit dem „Reichsbürger“ Heiko A., dem Vermieter von Ingo K., Kontakt hatte. Der Zeuge erklärt, zwei Mal habe er den Vermieter getroffen. Ein Richter will wissen, ob A. über die Tat gesprochen habe. Der Zeuge bejaht. Heiko A. habe geäußert, der Einsatz sei „total überzogen“ und „nicht erforderlich“ gewesen. Man hätte die Angelegenheit „auch anders lösen können“. Rechtsanwältin Combé fragt, warum die Polizei nicht geklingelt, sondern Gewalt angewandt habe. Der Zeuge antwortet, Klingeln sei nicht zu verantworten gewesen. Rechtsanwalt Seifert sagt, Ingo K. würde frühmorgens mit den Hunden Gassi gehen, und will wissen, warum die Polizei ihn nicht abgepasst habe. Der Zeuge stellt klar, es mache keinen Sinn, Ingo K. abzupassen. Was solle die Polizei machen, wenn er die Herausgabe der Waffe verweigere. Man habe keinen Beschluss zur Festnahme des Mannes, sondern nur einen Beschluss zur Sicherstellung der Waffe gehabt.

Schüsse und Schreie

Nun zeigt der Vorsitzende Richter einen anonymisierten Video-Zusammenschnitt des SEK-Einsatzes. Der Zusammenschnitt, der um 6:08 Uhr beginnt, zeigt Aufnahmen einer Drohne und mehrerer Helmkameras. Man sieht Blaulicht und hört das Martinshorn. Ein Mann ruft mehrfach: „Polizei!“ Der Vorsitzende Richter thematisiert die Signale. Der Zeuge betont, man wollte deutlich machen, dass das ein Einsatz der Polizei und kein Einbruch von Kriminellen sei. Im Video detonieren zwei Knallgranaten. Der Zeuge erklärt, man habe die Granaten geworfen, um Hunde abzuschrecken. Dann zeigt eine Helmkamera, wie ein SEK-Beamter mit einem Trennschleifer einen Maschendrahtzaun aufschneidet. Eine Person schaut aus dem Dachfenster. Sie wird angeleuchtet. Ein SEK-Beamter ruft, sie solle oben bleiben. Die Person schließt das Fenster. Um wen es sich handelt, bleibt unklar.

Inzwischen haben die SEK-Beamt*innen das Grundstück betreten. Auf der Terrasse schneidet ein SEK-Beamter den Rollladen auf. Von oben nach unten, von links nach rechts. Es ist 6:11 Uhr. Plötzlich fallen mehrere Schüsse. Im Rollladen sind Löcher, vor dem Rollladen sind glasige Staubwolken zu sehen. Der SEK-Beamte fällt. Chaotische, hektische Schreie sind zu hören. Während der Beamte in den Polizei-Transporter gebracht wird, fallen Dutzende Schüsse. Teils aus dem Innenraum, teils aus den Waffen des SEK. Aus der Perspektive einer Helmkamera ist gegen Ende des Zusammenschnitts zu sehen, wie sich eine Person mit erhobenen Händen ergibt. Um 6:24 Uhr ruft ein SEK-Beamter: „Zeig mir Deine Hände!“ und „Komm langsam auf mich zu!“ Aus der Drohnenperspektive sind zwei Rauchexplosionen zu sehen. Um 6:45 Uhr beginnt das Gebäude mit einer schnellen Rauchentwicklung zu brennen. Bislang ist unbekannt, warum das Feuer ausgebrochen ist.

„In den Gesichtern gesehen“

Im Anschluss tritt ein Zeuge in hellblauem Polizeihemd in den Saal. Der Polizeioberrat berichtet über die Beschädigungen und Verletzungen im Rahmen des Einsatzes: Der SEK-Beamte Nr. 10, der angeschossen wurde, musste ins Krankenhaus und am Oberschenkel operiert werden. In der ersten OP wurden die Projektile entfernt, in der zweiten die Wunden geschlossen. Der Beamte habe Narben, aber sei „wieder physisch belastbar“. Psychisch habe er die Bluttat „noch nicht abgeschlossen“. Sie „kommt immer wieder hoch“. Der SEK-Beamte Nr. 16 – der „Schildträger“ neben Nr. 10 – wurde mehrfach angeschossen. So traf ein Schuss den Tiefschutz unterhalb des Schildes. Er erlitt ein Hämatom. Der Zeuge sagt, der SEK-Beamte habe berichtet, die Schmerzen seien „durchaus auszuhalten“ gewesen. Nach der Tat habe er „keine psychischen Beeinträchtigungen“. Der Zeuge erzählt, die SEK-Beamt*innen hätten am Abend des Einsatzes über das Erlebte gesprochen. Man habe die Belastung „in den Gesichtern gesehen“.

Um 13:32 Uhr, nach der Mittagspause, spricht ein „Multimedia-Forensiker“ des LKA Baden-Württemberg. Der Sachverständige erklärt, er sei Phonetiker und mache linguistische Datenverarbeitung. Seine Aufgabe war, das Video zu anonymisieren. Namen und Äußerungen zur Einsatztaktik durch Piep-Töne zu ersetzen. Zudem war seine Aufgabe, die Schussgeräusche zu analysieren. Können die Schüsse den Waffen zugeordnet werden? Hierzu habe er das Video in fünf Sequenzen unterteilt: 1. Beschuss (43 Schüsse, darunter mindestens 21 aus dem Innenraum), 2. Beschuss (neun Schüsse aus dem Innenraum), 3. Beschuss (21 Schüsse, darunter mindestens fünf aus dem Innenraum), einzelnes „Schallimpulsgeräusch“ (vermutlich kein Schuss) und 4. Beschuss (neun Schüsse aus dem Innenraum). Es gab insgesamt 83 „potentielle Schussabgaben“. Die Tatwaffe des Schützen klingt „hell und klar“, die Dienstwaffen der SEK-Beamt*innen klingen „dumpf und trocken“. Dennoch sei eine eindeutige Zuordnung schwer gewesen. Um 15:15 Uhr wird der Zeuge entlassen und der siebte Prozesstag beendet.

Lichtblitze und Staubwolken

Dienstag, 13. Juni 2023: Der Vorsitzende Richter eröffnet um 9:41 Uhr den achten Prozesstag. Er begrüßt einen „Multimedia-Forensiker“ des LKA Baden-Württemberg. Der Sachverständige hat diverse Vermerke gemacht: Einer thematisiert die Schüsse auf den SUV. Fotos zeigen Szenen vor, während und nach dem Beschuss des Wagens. Der Sachverständige erklärt, man sehe die Einschläge im Rücklicht und auf der Dachluke. Ein zweiter Vermerk thematisiert die Anonymisierung und Synchronisierung der einzelnen Videos. Das Ergebnis sei der Zusammenschnitt gewesen, berichtet der Sachverständige. Ein dritter Vermerk thematisiert den ersten Beschuss durch den Rollladen. Man sieht die glasige Staubwolke der Schüsse aus dem Innenraum. Die Brutalität des Vorgehens und die Wucht der Schüsse wird deutlich.

Weitere Vermerke thematisieren den „Öffnungsstand“ der Lamellen des Rollladens und die Herkunft der Schüsse in der dritten Sequenz. Gelegentlich stellen Staatsanwält*innen und Rechtsanwält*innen einzelne Detailfragen. Auch Ingo K. stellt Fragen. Zum Beispiel will er wissen, ob ein Ton der Knallgranate, die anfangs geworfen wurde, vorhanden sei. Der Sachverständige bejaht und lässt ein Video abspielen. Im Video ist ein lautes Knallgeräusch zu hören. Die Stimme des Angeklagten ist ruhig, sie wirkt gebrochen und zermürbt. Um 11:44 Uhr wird der Sachverständige entlassen. Dann zeigt der Vorsitzende Richter ein 16-minütiges Drohnenvideo ohne Ton. Gegen Ende des Videos läuft eine Person mit erhobenen Händen aus dem Eingangsbereich des Gebäudes. Wer die Person ist, bleibt unklar.

„Ich war überrascht“

Der Vorsitzende Richter begrüßt nach der Mittagspause eine Direktorin des Polizeipräsidiums Heilbronn. Die Zeugin, die ein weißes Polizeihemd trägt, war die Einsatzleiterin vom 20. April 2022, sie hatte nach der Covid-Erkrankung des Einsatzplaners übernommen. Die Zeugin berichtet, um 5 Uhr habe der Einsatz begonnen und um 5:58 Uhr sei die Abfahrt zum Zielobjekt erfolgt. Zunächst sei ein „Irritationsmittel“ – offenbar die Knallgranaten – eingesetzt worden. Der Vorsitzende Richter sagt, der Plan sei gewesen, den Maschendrahtzaun mit dem Transporter zu durchrammen. Daraufhin erklärt die Zeugin, der Plan musste geändert werden, da ein Auto und ein Radlader hinter dem Zaum standen. Daher wurde der Zaun mit einem Trennschleifer durchgeschnitten. Kurze Zeit später habe sie die Funknachricht erhalten, dass Schüsse gefallen seien.

„Ich war überrascht“, erklärt sie. Das sei „Schlag auf Schlag“ gegangen. Der verletzte SEK-Beamte sei in den Transporter und vom Transporter in den Krankenwagen gebracht worden. Derweil sei die Evakuierung der Bewohner*innen des Gebäudeumfelds erörtert worden. Schließlich sei unklar gewesen, wie viele Schütz*innen im Gebäude waren. Der Vorsitzende Richter spricht den Ausbruch des Feuers an. Die Zeugin berichtet, die Feuerwehr sei angefordert und die Straße gesperrt worden. Rasch habe die Feuerwehr gemeldet, der Dachstuhl stehe in Brand. Während das Gebäude brannte, wählte Ingo K. den Notruf. Der Angeklagte „wollte verhandeln“, berichtet die Zeugin. Er habe den Abzug der SEK-Beamt*innen und die Evakuierung seiner Hunde gefordert.

Später habe Ingo K. das Gebäude gemeinsam mit Max A., dem Sohn des Vermieters, verlassen. Der Vorsitzende Richter stellt fest, Ingo K. habe behauptet, es sei lediglich Munition und kein Sprengmittel im Gebäude. Die Zeugin sagt, es sei unklar gewesen, was tatsächlich im Gebäude lagerte. Sie betont, man sei „vom Schlimmsten ausgegangen“ und habe die Abstände zum Gebäude vergrößert. Es habe mehrere Detonationen, darunter eine „extreme Detonation“, gegeben. „Alles“ habe „gewackelt“. Es sei unklar, was detoniert sei. Ob Munition oder ein Reifen des Radladers. Derweil sei Ingo K. zum Kriminalkommissariat gebracht worden. Um 14:43 Uhr wird die Zeugin entlassen und der achte Prozesstag ist beendet.

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