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Russlands Staatsmedien Fake News seit Jahren

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Menschen im seperatistischen Donezk gehen 2014 auf die Straße. Das Motto: „Rettet die Kinder des Donbass vor der ukrainischen Armee“. In eins mit dem Bürgerkrieg in der Ostukraine lief damals auch die russische Propagandamaschine an.
Menschen im seperatistischen Donezk gehen 2014 auf die Straße. Das Motto: „Rettet die Kinder des Donbass vor der ukrainischen Armee“. In eins mit dem Bürgerkrieg in der Ostukraine lief damals auch die russische Propagandamaschine an. (Quelle: picture alliance / AA | Veli Gurgah)

„Am heutigen Tag erleben wir zwei Wirklichkeiten, die sich diametral entgegenstehen.“  So kommentiert der Kriegsberichterstatter Georgij Medwedew am 9. März 2022 den Kampf um die ostukrainische Stadt Mariupol für den russischen Staatssender Channel One Russia. Auf der einen Seite stehe demnach das Lügenschloss des ukrainischen Präsidenten Selenskyj – denn dieser attestiere der ukrainischen Armee ungebrochene Kampfkraft. Demgegenüber weiß aber Medwedew, der vom Territorium der selbsternannten Volksrepublik Donezk berichtet: „Die Befreiung von Mariupol steht unmittelbar bevor.“

Georgij Medwedew berichtet am 9. März live für Channel One von der Front bei Mariupol. Oben rechts eingeblendet sind mutmaßlich beschossene Gebäude aus der DNR vom 26. und 27. Februar (Quelle: Screenshot).

Aufnahmen von der humanitären Katastrophe, die sich laut westlichen Medien im belagerten Mariupol anbahnt, gehören unterdessen nicht zur „Wirklichkeit“ dieser staatlich verordneten Berichterstattung. Parallel zum Auftritt des Kriegsreporters sehen wir stattdessen angebliche Bilder von zerbombten Gebäuden in der separatistischen Donezker Volksrepublik. Medwedew erzählt, die Zivilbevölkerung von Mariupol werde von „Nazi-Batallionen“, die sich in der Hafenstadt verschanzt hätten, als Schutzschilde missbraucht. Ukrainische Militärs hätten sogar Zivilist:innen erschossen, die zur russischen Frontlinie fliehen wollten. Beweise für diese Behauptung legt er keine vor. Wenige Minuten Sendezeit später erklärt der Politologe Alexander Kosakow, die Regierung in Kyjiw habe seit 8 Jahren für die „Vernichtung des Donbass“ mobilisiert. Ihre politischen Methoden würden „unmittelbar von der Gestapo“ stammen.

Russland stellt „Fake News“ unter Strafe

Dass die Wahrheit im Krieg das erste Opfer ist, mag als eine Binsenweisheit gelten. Jeden bewaffneten Konflikt begleiten verschiedene Perspektiven und Erzählweisen. Doch die „Wirklichkeit“, die die russischen Staatsmedien präsentieren, ist entschieden eindimensional. Die Regierung und das Militär der Ukraine werden im Minutentakt mit Nazis verglichen. Jegliche abweichende Berichterstattung ist in Russland seit Kriegsbeginn  zunehmend eingeschränkt. Zum 4. März 2022 verabschiedete das russische Parlament ein Gesetz, das die Verbreitung von „Fake News“ über den Ukraine-Krieg mit bis zu 15 Jahren Lagerhaft bestraft. Berichte über Angriffe auf ukrainische Zivilist:innen und getötete russische Soldaten sind untersagt. Wer von einem „Krieg“ statt von einer „militärischen Spezialoperation“ spricht, riskiert bereits eine Anklage. Mehrere kremlkritische Medien stellten daraufhin ihre Berichterstattung ein.

Die staatliche Propaganda spielt eine enorme Rolle, um die russische Bevölkerung auf den Kurs von Präsident Putin einzuschwören. Die ideologische Kriegsvorbereitung begann dabei schon nach dem „Euromaidan“ im Jahr 2014. Als pro-europäische Kräfte in Kyjiw den Sieg davongetragen hatten, annektierte Russland die Krim, in der Ostukraine begann der von Russland angeheizte Bürgerkrieg.  Die Journalistin Ekaterina Kotrikadze vom unabhängigen Fernsehsender TV Dozhd resümierte am 3. März 2022 die mediale Eskalation, die seit 2014 von Sendern wie Channel One Russia betrieben worden ist: „Der Weg zu den russischen Kampfhandlungen in der Ukraine ist eine Geschichte von Unwahrheit, die zum Schwindel geworden ist. Sie wurde zu einer großen Lüge, schließlich zu einer ungeheuren Lüge, die zur Staatsdoktrin wurde und jetzt das Schicksal ganzer Völker bestimmt.“

Wenige Stunden später stellte Dozhd den Betrieb vorübergehend ein. Kotrikadze und ihr Ehemann Tichon Dsjadko, der Chefredakteur von Dozhd, haben Russland mittlerweile verlassen. Gegen sie und andere Mitarbeiter:innen liegen zahlreiche Drohungen vor (vgl. Die ZEIT). Doch welche Unwahrheiten verbreitete der Kreml und sein Medienimperium über die Situation in der Ukraine?

Die „Nazis“ und die „Banderowzi“

Zusammen mit der Behauptung, dass der Westen die eigentliche Kriegsschuld trage, gehört der Mythos von den „Ukra-Faschisten“ zu den wirkmächtigsten russischen Narrativen. Ist die „Denazifizierung“ der Ukraine doch selbsterklärtes Ziel der russischen „Spezialoperation“. Der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow, behauptete am ersten Kriegstag in den Staatsmedien, dass sich reguläre ukrainische Truppen bereitwillig ergeben würden. Demnach seien es nur Kampfverbände von ukrainischen Nationalist:innen, die erbitterten Widerstand leisten. Wenige Tage später forderte Putin das ukrainische Militär öffentlichkeitswirksam zum Staatsstreich auf. Der Kampf Russlands gelte lediglich der Bande von „Drogensüchtigen und Neonazis“, die in Kyjiw das Sagen habe.

Igor Konaschenkow, Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, am 24 Februar. Er ist das Sprachrohr der Kreml-Sicht auf die Kriegsgeschehnisse (Quelle: Screenshot).

Die kremltreue Presse tituliert die ukrainische Regierung bereits seit 2014 wahlweise als „Nazis“, als „Militärjunta“ oder als „Banderowzi“. Der letzte Begriff – den auch Putin in der aktuellen Lage nutzt – ist dabei als Anspielung auf die Anhängerschaft von Stepan Bandera zu verstehen. Bandera war ein ukrainischer Nationalist, der für die Abspaltung der Ukraine von der Sowjetunion kämpfte. Im Zuge des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion schloss sich seine „Organisation Ukrainischer Nationalisten“ (OUN) der Wehrmacht an. OUN-Verbände beteiligten sich in der Westukraine an der Judenvernichtung, sie verübten Massaker gegen die polnische Zivilbevölkerung. Bandera selbst geriet in Berlin unterdessen in Ungnade, ab 1941 war er in deutschen Konzentrationslagern interniert. Im Jahr 1959 ermordete ein KGB-Agent Bandera in seinem Exil in München.

Fakt ist, Bandera ist in der heutigen Ukraine weder Persona non grata noch unbestrittener Nationalheld. Im Jahr 2016 benannte der Stadtrat von Kyjiw den „Moskau-Prospekt“ in „Stepan-Bandera-Prospekt“ um. Diese Entscheidung führte zu Diskussionen und mehreren Gerichtsverfahren. Fakt ist auch, dass es in der heutigen Ukraine rechtsextreme Organisationen gibt, die sich in der Tradition der OUN wähnen. Derartige Parteien erzielten bei den letzten Parlamentswahlen indes nur unbedeutende Ergebnisse. Zur ukrainischen Nationalgarde gehört zudem das rechtsextreme Asow-Bataillon, das jedoch nur einen geringen personellen Anteil ukrainischer Kämpfer:innen ausmacht.

„Unsere Sache ist gerecht. Wir werden siegen.“

Dass die russische Presse das Nazi-Narrativ in den Vordergrund rückt, hängt deshalb nicht mit den Fakten, sondern mit Russlands ideologischem Selbstverständnis zusammen. Denn der verlustreiche Sieg über Nazi-Deutschland im „Großen Vaterländischen Krieg“ zählt zu den wirkmächtigsten Narrativen sowjetisch-russischer Identität. Maria Snegovaya erklärt in einem Paper für das „Center for European Policy Analysis”, dass Russland den Sieg gegen Nazi-Deutschland mittlerweile zu einem Sieg über den Westen umgedeutet hat.

Die pro-westliche Regierung der Ukraine lässt sich in den Staatsmedien folglich zu Nazis ummünzen. Selbst die jüdische Abstammung des ukrainischen Präsidenten gerät dabei zur Nebensächlichkeit. Bereits während der Annexion der Krim zeigten die Staatssender russische Renter:innen, die mit antifaschistischen Parolen aus dem Zweiten Weltkrieg auf die Straße gingen. Der O-Ton: Kein Fußbreit den Faschisten galt damals, und es gelte auch mit Bezug zu den Banderwozi in Kyjiw. Hier offenbart sich eine Kontinuität. Denn wenige Tage nach dem Beginn der russischen Invasion schloss der russische Talkmaster Wjatscheslaw Nikonow seine Sendung auf Channel One mit den Worten: „Unsere Sache ist gerecht. Wir werden siegen“ (vgl. New York Times).

Nikonow referierte damit eine Radioansprache aus der Anfangsphase des zweiten Weltkriegs, die einen festen Platz im russischen Kollektivgedächtnis hat. Sie stammt vom sowjetischen Außenminister Wjatscheslaw Molotow, der Nikonows Großvater ist. Die „Spezialoperation“ in der Ukraine lässt sich mit diesem Framing als antifaschistischer Verteidigungsakt ausdeuten. Channel One deutet die russischen Invasionstruppen folglich zu einer „Armee der Befreiung“ um.

Dass die Sowjetunion unter Molotow und Stalin zuvor einen Pakt mit Hitlerdeutschland eingegangen war und sich Teile von Polen einverleibte, bleibt bei Nikonows Ausspruch selbstverständlich unerwähnt. Denn der Hinweis auf diesen Teil der Geschichte oder gar auf sowjetische Kriegsverbrechen in Polen ist im heutigen Russland laut Maria Snegovaya ein Tabu. Dass die meisten Ukraner:innen unter einem enormen Blutzoll gegen Nazi-Deutschland kämpften, spielt in dieser Version der Geschichte ebenfalls keine Rolle. Unbeachtet bleibt auch, dass Präsident Selenskyj von ukrainischer Seite ebenfalls das Narrativ des großen vaterländischen Verteidigungskrieges aktiviert (vgl. Die ZEIT).

Am 1. März 2022 ging das russische Verteidigungsministerium stattdessen mit zynischen Plänen für einen „internationalen Antifaschistischen Kongress“ an die Öffentlichkeit. Er soll im August 2022 stattfinden und sich dem Kampf gegen die „Ideologien von Nazismus und Neonazismus in all seinen Formen“ widmen.

Der gefakte Genozid

Dass die ukrainische Regierung aus Faschisten besteht, mag als Kriegsgrund unterdessen nicht ausreichen. In der ersten Februarhälfte häuften sich in der russischen Presse deshalb die Berichte über einen Genozid an der russischsprachigen Bevölkerung der Ostukraine. Dennis Puschilin, Anführer der separatistischen Volksrepublik Donezk, sprach am 11. Februar 2022 gegenüber der staatlichen Nachrichtenagentur TASS von 130 gefundenen Massengräbern allein auf dem Gebiet seiner Volksrepublik. Auch die Überreste von Frauen und Kindern sollen geborgen worden sein. Als Täter benannte Puschilin die ukrainischen Streitkräfte. Am 18. Ferbuar leiteten russische Behörden offiziell Ermittlungen ein. Russische Staatsmedien verbreiten Bilder, die unmöglich zu verifizieren sind.

Aufnahme eines mutmaßlichen Massengrabs im Donbass, die von der russischen Ermittlungsbehörde Sledcom verbeitet wird (Quelle: Screenshot).

Verifizierbar ist hingegen, dass Puschilin seit spätestens 2015 von einem anhaltenden „Genozid“ spricht. Verifizierbar ist ebenfalls, dass die russische Presse seit Jahren Meldungen über ukrainische Kriegsverbrechen vervielfältigt, die als Fakes entlarvt worden sind. Am berüchtigtsten ist dabei die Geschichte vom „Gekreuzigten Jungen“. Channel One verbreitete ab dem 11. Juli 2014, dass ukrainische Soldaten im damals umkämpften Slowiansk einen Dreijährigen öffentlich gekreuzigt hätten. In dem Fernsehbericht erzählt eine Frau namens Galina Pischnjak, die sich als Augenzeugin ausgibt, wie die Mutter des Jungen von den Soldaten festgehalten worden sei. Die unmenschlichen Ukrainer hätten sie gezwungen, die ganze Zeit zuzusehen. Danach hätten „die Biester“ die Mutter hinter einem Panzer über den Platz gezerrt. Pischnjak bezeichnete die Soldaten als „wiederauferstandene Ur-Enkel der SS Division Galizien“ – eine Einheit der Waffen-SS, die sich hauptsächlich aus freiwilligen Ukrainern zusammensetzte.

Nur: Die unabhängige Nowaja Gaseta befragte bereits am Folgetag Bewohner:innen Slowiansks (vgl. Youtube). Für die schreckliche Tat ließ sich nicht ein:e Zeug:in finden. Andere Journalist:innen konnten zudem zeigen, dass der „Lenin-Platz“, an dem die Tat geschehen sein soll, in Slowiansk überhaupt nicht existiert. Nach Kritik distanzierte sich sogar Channel One teilweise von dem Bericht. Laut BBC Russia sagte die TV-Moderation Irada Senajlowa von Channel One im Dezember 2014 im selben Fernsehprogramm, in dem auch die Meldung verbreitet wurde: „Journalisten hatten und haben keine Beweise für diese Tragödie, aber dies ist die wahre Geschichte einer echten Frau, die der Hölle in Slowiansk entkommen ist.“ Im Jahr 2021 teilten diverse russische Medien ähnliche Meldungen, wonach ein Kind aus der Volksrepublik Donetsk von einer ukrainischen Drone getötet wurde. Diese Berichte wurden ebenfalls als Fake entlarvt.

Galina Pischnjak erzählt Channel One im Juli 2014 von der mutmaßlichen Kreuzigung (Quelle: Screenshot).

Die Absurdität der russischen Propaganda unterstreicht auch die Geschichte von Jelena Serowa. Die russische Kosmonautin reiste im September 2014 auf die internationale Raumstation ISS. Von 2016 bis 2021 saß Serowa als Abgeordnete der Putin-Partei „Einiges Russland“ in der russischen Staatsduma. Im Juli 2019 behauptete sie im Parlament, „mit bloßem Auge“ von der ISS gesehen zu haben, „wie Bomben und Granaten im Donbass und in Luhansk explodierten.“ Die Geschosse sollen von den Ukrainern abgefeuert worden sein und „unbewaffnete Menschen“ getroffen haben. Diese Aussage wiederholte sie vor dem Moskauer Radiosender „Goworit Moskwa“. Der frühere Kosmonaut Yuri Baturin unterstrich unterdessen gegenüber BBC Russia, dass derartige Beobachtungen ohne technische Gerätschaften unmöglich sind. Nicht einmal die chinesische Mauer sei mit bloßem Auge aus dem Erdorbit sichtbar (vgl. Stopfake.org).

An diesen Beispielen verdeutlicht sich, wie verbreitet Desinformation in den russischen Staatsmedien ist. Da der Kreml die Arbeit einer kritischen und unabhängigen russischen Presse sukzessive einschränkt, wird es in Russland zunehmend unmöglich, dieser staatlichen „Wirklichkeit“ entgegenzutreten.

 

 

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