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Wahlkampf 2021 Alles auf Attacke!

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(Quelle: Pixabay)

Wer erinnert sich, wie die politische Landschaft Deutschlands entsetzt auf Trumps Wahlkämpfe in den USA geschaut hatte? Statt um drängende politische Themen ging es um Desinformationen, Lügen und Diffamierungen, und das auf Kosten der gelebten Demokratie und auf Kosten des gesellschaftlichen Zusammenhalts.

Im Jahr 2021 ist all dies nun in Deutschland angekommen. Wir befinden uns im Bundestagswahlkampf zur Wahl im September, es gibt drängende Themen wie den Klimaschutz und soziale (Un-)Gerechtigkeit, im Ausklingen oder zumindest Innehalten der Coronavirus-Pandemie werden die wirtschaftlichen Sorgen drängender, die mangelhafte Digitalisierung der Bildung hat die Pandemie uns allen lebhaft vor Augen geführt, Innovation und Bildungsgerechtigkeit sind weiter weg denn je, rechtsextreme Umtriebe gefährden Menschen, die sich für die Demokratie einsetzen oder die rassistisch oder antisemitisch als „anders“ markiert werden – bis in Polizei und Bundeswehr, also die Institutionen, die doch alle Bürger:innen schützen soll(t)en.

Doch darüber wird nicht gestritten. Stattdessen finden die meisten Wahlkampf-Schlagabtausche in Sozialen Netzwerken statt. Hierbei werden Lügen, Diffamierungen und Plattitüden durchs Netz getrieben – oft vor einer Prüfung auf den Wahrheitsgehalt vor der Weiterverbreitung, auch durch hochrangige politische Entscheidungsträger:innen oder solchen, die es zumindest sein oder werden wollen. Als Vorbild für digitale Medienkompetenz dient hier offensichtlich niemand. Der Demokratie und der Debattenkultur schadet es deutlich.

Und es gibt so viele Empörungsvorfälle, dass kaum jemand mehr mit der Dokumentation hinterherkommt. Dass die rechtsradikale AfD mit Realitätsverzerrungen oder bewussten Lügen Wahlkampf macht, ist jetzt schon so selbstverständlich, dass es kaum noch Thema ist – höchstens, wenn sie und die angeschlossene rechtsradikale „Alternativmedien“ als Stichwortgeber für breitere Kreise dienen. Mit der Schreckgespenst-Narration eines „Klimalockdowns“, den „die Grünen“ angeblich nach der Bundestagswahl planten, kam die AfD beispielsweise nicht durch, der blieb in rechtsaußeninteressierten Kreisen. Wenn aber Misogynie, Verbotsängste oder eine knackige Täter-Opfer-Umkehr involviert sind, gelingt es derzeit recht leicht, einen Hass-Sturm zu entfachen, den auch konservative Kreise mittragen. „Die Grünen“ bekommen dabei offenkundig den Status des Endgegners zugeschrieben, bei dem auch die CDU sich offenbar nicht mehr zutraut, ihn mit politischen Argumenten zu schlagen und so sind die Mittel des Wahlkampfes entpolitisierte Diffamierungen, Beschimpfungen, Desinformationen.

Strohmann-Wahlkampf

Berichtet haben wir über die Wahlbetrugs-Narrative und die misogynen Angriffe auf Annalena Baerbock und ihre Mitstreiter:innen. Eine Analyse des CDU-Wahlkampfes auf Spiegel.de zeigt das Niveau weiter: Eine Grünen-interne Debatte über den inzwischen abgewählten Wahlkampfslogan „Deutschland. Alles ist drin“ wird bei CSU-Generalsekretär Markus Blume zu einem „gestörten Verhältnis zum Vaterland“, dass „toxisch für Deutschland“ sei; außerdem seien die Grünen eine „linksideologische Partei“ und habe somit außerdem ein gestörtes Verhältnis zu „Staat und Eigentum“. CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak sagte der Neuen Zürcher Zeitung, die Grünen wollten „eine linke Republik” und „unberechenbar alles auf den Kopf stellen” – dabei regiert die CDU bereits in Baden-Württemberg und Hessen mit den Grünen, bisher ohne Chaos. Wenn die Grünen im Wahlprogramm schreiben, man wolle „Kurzstreckenflüge bis 2030 überflüssig machen, indem wir die Bahn massiv ausbauen”, macht Friedrich Merz daraus die „Abschaffung“ von Kurzstreckenflügen, mit der „die Verbotsliste der Grünen“ immer länger werde. Mit den Grünen kehre Deutschland zurück ins Mittelalter, der Sozialismus werde wieder eingeführt – so geht ein Strohmann-Wahlkampf, in dem für die Diffamierung einer Partei Positionen unterstellt werden, die diese gar nicht vertritt. Das haben die US-Republikaner in der Tat vorgemacht. Und damit klingt die CDU wie die rechtspopulistische bis rechtsradikale Blase online, die seit Jahren in diesem Duktus gegen die Grünen feuert – bloß mit sehr viel weniger Reichweite und vermeintlicher Glaubwürdigkeit.

Manche Vorfälle schwappen aus des Sozialen Medien zurück in die angestammten Medien. In der vergangenen Woche stellt die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft” (INSM) Annalena Baerbock in großflächigen Werbeanzeigen als Verkünderin einer „Verbotspartei“ dar, die „den Deutschen“ sehr viel nehmen wolle, was Spaß mache (Autofahren, Fliegen, Freihandel) – stattdessen gäbe es hohe Steuern, Kinderfeindlichkeit und diktatorisches Staatsgebahren. Schreibt ein Wirtschafts-Thinktank. Mit der Aufmachung als Moses mit den Gebotstafeln und den Claims „Wir brauchen keine Staatsreligion“ und „Grüne Verbote führen uns nicht ins gelobte Land“ gelang es der INSM noch dazu quasi im Vorbeigehen, Juden:Jüdinnen zu beleidigen. Die Anzeige wurde im Print und in den Online-Auftritten diverser etablierter Medien verbreitet – auf Ablehnung traf sie bei der Anzeigenabnahme kaum, was auch etwas über Abstumpfungsgrade und /oder finanzielle Nöte der Medien sagt (vgl. ZEIT, Faktenfinder).

Sreenshot von der Website der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft”

Am Wochenende nun ließ sich das Prinzip noch einmal bei Carolin Emcke nachvollziehen: Die Publizistin und Rechtsextremismus-Expertin hält eine Rede beim Parteitag der Grünen, die vor der Gefährlichkeit und Anpassungsfähigkeit von Verschwörungsideologien als Welterklärungsmodell warnt, und dass der Hass schnell von einer auf die nächste Gruppe übertragen werden kann, wenn es der politischen Agenda passt. Dabei werden als etabliertes Beispiel der Hass auf Jüdinnen:Juden genannt und davor gewarnt, dass künftig auch Klimaforscher:innen ein Ziel von Hassattacken werden können. Es folgt ein „Ha, Gutmenschen sind nicht perfekt“-Reflex, eine beliebte Täter-Opfer-Umkehr, bei konservativen Medien und Politikern: Schau, die Vorzeigedemokratin, die bei der Vorzeigedemokrat:innen-Partei der Grünen spricht, ist sie nicht selbst eine Antisemitin, weil sie Juden:Jüdinnen und Klimaforscher:innen in einem Satz gesagt hat? Erstaunlich, wie gern sich Menschen hier zusammentun, um ihr mangelhaftes Textverständnis in eine Desinformationkampagne zu wenden. Denn die propagierte Gleichsetzung von Angriffen auf Klimaforschung und Verfolgung von Jüdinnen:Juden im Dritten Reich hat nicht stattgefunden. Trotzdem wurde sie durch soziale Netzwerke getrieben (mehr zu Details bei Volksverpetzer), im Stil der politischen Desinformation, vor dem Carolin Emcke gewarnt hat (die ganze Rede von Emcke hat Spiegel.de dokumentiert).

Und wem auffiel, dass diese Argumentation nicht richtig stimmig war, aber den Angriff trotzdem stärken wollte, der fand eine neue Volte. Im Magazin Cicero etwa wurde das zu: Emcke sage, alle Elitenkritik sei Antisemitismus (sagt sie nicht), damit wolle sie die Grünen unkritisierbar machen (offenbar, weil sie hier als „Elite“ wahrgenommen werden) – was wohl als Attacke auf das Demokratieverständnis der Grünen an sich gemeint ist und das eigene Diskursunverstädnis belegt. Im Tagesspiegel vergleicht Harald Martenstein Carolin Emcke mit „Jana aus Kassel“ – die sei für die Gleichsetzung ihrer Person mit Sophie Scholl als Verharmloserin des Holocaust medial verurteilt worden, das müsse mit Emcke jetzt auch geschehen, die ebenfalls Antisemitismus als „billiges Werkzeug“ benutze. Wer diese Argumentation ebenfalls teilt? Rechtsextreme Portale wie „Jouwatch“ zum Beispiel.

CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak twitterte empört:

Screenshots des Tweets von Paul Ziemiak

Klartext ist aber: Es war eine Empörungswelle, deren Grund in der Realität nie stattgefunden hat. Eine Entschuldigung der CDU fand nicht statt.

Ein entpolitisierter Wahlkampf in dieser Tonalität, diesem negativen Stil der Diffamierung und Dämonisierung, stört und zerstört auf Dauer einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs, den wir brauchen, um uns auf Kompromisse und Bündnisse einigen zu können. Die Parteien, die sich demokratisch nennen, täten gut daran, zu inhaltlichen und gehaltvollen Debatten zurückzukehren, statt die Politik der Zukunft im Stakkato-Empörungs-Format sozialer Medien zu gestalten. Noch hätten sie drei Monate Zeit, nicht Politikverdrossenheit zu schüren, sondern konstruktiven Streit wiederzubeleben.

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