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Neue Broschüre Thüringen als Wohlfühlort der extrem rechten Szene

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(Quelle: Kira Ayyadi)

 

Im Jahr 2020 wurden in Thüringen insgesamt 2.095 Fälle politisch motivierter Kriminalität (PMK) registriert. Zweidrittel davon wurden in die Kategorie PMK-rechts eingeordnet. Insgesamt 124 Personen wurden im vergangenen Jahr in Thüringen Opfer politisch motivierter Gewaltkriminalität, darunter 63 Personen mit nichtdeutscher Herkunft. Doch die Angriffe seien nur die Spitze des Eisberges, so Franz Zobel von der Beratungsstelle ezra: „Schwarze Menschen und POC werden täglich mit Rassismus konfrontiert“, am Dienstag, den 22. Mai in Erfurt bei der Vorstellung der neuen Broschüre „Thüringer Zustände 2020“. 

Aus unterschiedlichen Perspektiven der Betroffenen, der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft beleuchtet die Publikation, wie sich Rechtsextremismus, Antisemitismus, Rassismus, Diskriminierung und Hassgewalt im Freistaat Thüringen in den letzten Jahren entwickelt haben. Herausgegeben wird die Publikation von ezra – Beratung für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen, von MOBIT – Mobile Beratung in Thüringen – für Demokratie – gegen Rechtsextremismus, vom KomRex – Zentrum für Rechtsextremismusforschung, Demokratiebildung und gesellschaftliche Integration der Friedrich-Schiller-Universität Jena und vom IDZ – Institut für Demokratie und ZivilgesellschaftEine zentrale Erkenntnis der „Thüringer Zustände“ ist, dass rassistische, völkische, nationalistische und autoritäre Einstellungen flächendeckend in Thüringen verbreitet sind und das erkläre auch die großen Wahlerfolge der AfD.

Wie konnte es zu dieser flächendeckenden Verbreitung rechtsextremer Einstellungen kommen? Romy Arnold von Mobit erklärt: „Die extreme Rechte kann sich hier professionalisieren“. Zum einen leben hier viele zentrale Figuren und Kader der Neonazi-Szene. Es gibt hier eine extrem hohe Infrastruktur an rechten Immobilien, also Neonazi-Häuser, die immer wieder Anziehungspunkte und Rückzugsorte für die Szene sind. Dass Thüringen teilweise eine Art Wohlfühlort für Neonazis ist, sieht man auch daran, dass immer mehr Szenegrößen nach Thüringen ziehen, was die Bedeutung des Bundeslandes für die extreme Rechte deutschlandweit hervorhebt.

In der Broschüre wird erläutert, dass neonazistische Parteien zwar an Bedeutungsverlust leiden, sich die Aktivitäten jedoch in den subkulturellen Bereich verlagern. Insbesondere Rechtsrock und Kampfsport nehmen in Thüringen eine zentrale Rolle ein. Für die Organisation und Durchführung der verschiedenen Aktivitäten waren Szene-Immobilien auch 2020 von Bedeutung, wenn auch aufgrund der Einschränkungen durch die Pandemie keine klassischen Veranstaltungen stattfinden konnten.

Durch die Proteste gegen die Corona-Schutzmaßnahmen bildete sich eine rechte Mischszene

Romy Arnold betont, dass die Szene extrem anpassungsfähig ist. „Sie kann schnell auf neue Gegebenheiten reagieren, wie das Beispiel der Corona-Pandemie zeigt.“ Die Pandemie bot 2020 neue ideologische Anknüpfungspunkte für die Szene: Im Kontext der Proteste gegen die Corona-Schutzmaßnahmen bildete sich eine rechte Mischszene heraus, die sich im Jahresverlauf sichtbar radikalisierte. Vor allem die thüringenweit stattfindenden Protestaktionen sorgten dafür, dass die Zahl extrem rechter Aktionen im Freistaat trotz der Corona-Einschränkungen 2020 auf dem hohen Niveau der Vorjahre blieb. 

Axel Salheiser vom IDZ machte am Dienstag deutlich, dass „Diskriminierung, Hasskriminalität und Hate Speech auch in Thüringen virulente Probleme sind.“ Auch die Bedrohung durch den Antisemitismus sei akut. Das IDZ habe vor allem seit Beginn der Pandemie eine Zunahme an Verschwörungserzählungen und Antisemitismus wahrgenommen, der sich vor allem auf Shoa-Relativierung bezog. Der Broschüre zufolge kommt es in Thüringen zu etlichen antisemitischen Vorfällen. Antisemitismus äußert sich in Thüringen häufig in der Zerstörung, Beschädigung oder Schändung von Gedenkorten, -zeichen oder -initiativen sowie der absichtlichen Störung von Gedenkfeiern, die an die nationalsozialistischen Verbrechen erinnern. Viele antisemitische Vorfälle liegen jedoch unterhalb einer gewissen Wahrnehmungsschwelle.

AfD-Landesverband sei rechtsextrem

Wenn man die extreme Rechte in Thüringen analysiert, muss man natürlich auch den AfD-Landesverband anschauen. Dr. Danny Michelsen von KomRex kommt zu einem klaren Fazit: „Es ist eine Tatsache, dass es sich bei der Thüringer AfD unter Führung von Björn Höcke um eine rechtsextreme Partei handelt.“ Als Wähler:in müsse man nicht lange nach völkisch-nationalen Inhalten im Landesverband suchen. Umso besorgniserregender ist, dass AfD in Thüringen scheinbar etabliert habe. „Niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass das Wählerpotential erschöpft sei“, so Michelsen.  

Franz Zobel, von der Beratungsstelle für Betroffene rechter Gewalt, ezra, spricht davon, dass es in Thüringen regelrechte „Angsträume“, teilweise ganze Stadtteile, gäbe, in die sich Menschen nicht mehr hinein trauen. „Erfurt ist ein Brennpunkt was das angeht.“ Viele Menschen erleben hier tagtäglich Rassismus, Antisemitismus und Homofeindlichkeit, verbal aber auch durch physische Angriffe. Das „Thüringer Justizproblem“, das in einem Unterkapitel der „Thüringer Zustände 2020“ behandelt wird, führt bei den Betroffenen häufig zu Resignation und Misstrauen gegenüber Ermittlungsbehörden und Justiz, wodurch die Bereitschaft zur Strafanzeige sinkt. In den vergangenen Jahren wurden die massiven Probleme der Thüringer Justiz mit rechtsmotivierten Gewaltstraftaten offensichtlich: Haftbefehle werden nicht beantragt, Verfahren über Jahre verschleppt oder ganz eingestellt. Wenn es doch zu Verurteilungen kommt, sind die Strafen häufig mild, wobei die rechte Tatmotivation zugleich nur selten berücksichtigt wird. Bisher fehle eine Gesamtstrategie, um Rechtsextremismus, Antisemitismus und rechte Ideologie angemessen zu bekämpfen, so Zobel.

Die Broschüre „Thüringer Zustände“ soll künftig einmal im Jahr erscheinen. Der Bericht soll als eine Art Gegenpol zu behördlichen Publikationen über Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus verstanden werden. „Das ist eine kritische Analyse von Aspekten, die auf staatlicher Ebene viel zu wenig berücksichtigt werden“, sagt Axel Salheiser vom IDZ.

Die „Thüringer Zustände 2020“ können Sie hier nachlesen.

 

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