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Warum konnte sich der Hass in Thüringen kultivieren?

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Ein Rechtsextremer mit einem typischen Neonazi-Symbol auf dem Hinterkopf (Symbolbild) (Quelle: dpa)

ezra„, die mobile Beratung für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen, hat 2016 160 Fälle rechter und rassistischer Gewalttaten registriert. Dies entspricht einem Anstieg um mehr als 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Direkt betroffen von den Angriffen sind mindestens 277 Menschen. Besonders erschreckend: immer mehr Kinder und Frauen werden Opfer solcher Übergriffe. Christina Büttner arbeitet bei „ezra“. Ich treffe mich mit ihr in Jena, der Stadt, in der sich die Terrorist_innen des NSU radikalisiert haben. Ich möchte von ihr etwas über die aktuelle Situation in Thüringen erfahren und will wissen, warum die Gewalt hier im Vergleich zum Westen so ausufern kann. Christina Büttner erzählt mir zunächst von ihrem Berufsalltag in der mobilen Beratung, wie der erste Kontakt abläuft, das erste Treffen und welche Hilfestellungen „ezra“ anbietet. Sie berichtet mir davon, dass Betroffene rassistischer Gewalt Übergriffe und Anfeindungen im Osten schlimmer wahrnehmen als im Westen. Betroffene von Rassismus sagen ihr, dass sie sich im Westen anders bewegen könnten, als dies im Osten möglich sei.

Der Rechtsextremismus ist nur die Spitze des Eisbergs – „Rassismus ist in die Gesellschaft eingesickert.“

Das sei kein neues Phänomen, aber seit dem Erstarken von AfD und Pegida 2014 sei es noch extremer geworden. Mittlerweile sind ganze Familien und gar ganze Ortschaften in Thüringen in der Rechtsextremen-Szene aktiv. Sie berichtet mir von vielen schockierenden Einzelfällen rassistischer Gewalttaten aus ihrer täglichen Arbeit. Unter anderem davon, dass eine Mutter und ein Vater vor den Augen ihren Kindern, darunter ein Neugeborenes, auf offener Straße angegriffen wurden, oder dass ein Rentner einen Einkaufswagen in den Bauch einer Schwangeren gerammt hat, und niemand sei eingeschritten.

Wie kann es kommen, dass sich der Hass im Osten derart fest manifestieren konnte? In Thüringen existiert seit geraumer Zeit eine stark verwurzelte Neonazi-Szene. Mittlerweile sind ganze Familien und gar ganze Ortschaften in der Szene aktiv. Während eine rassistische Alltagskultur besonders in den ländlichen Gebieten boomt, bricht hier der Widerstand weg. Antifaschistische Aktivist_innen gehen lieber in große Städte oder ziehen sich aus der Szene zurück. Immer wieder werden auch die Aktivist_innen selbst Opfer rechter Gewalttäter_innen. Oftmals geht dies soweit, dass die Antifaschist_innen keine andere Möglichkeit mehr sehen, als aus ihren Ortschaften wegzuziehen, da sie Angst um Leib und Leben haben, berichtet mir Christina Büttner.

Rechtsrock- und Neonazi-Konzerte in Thüringen

Ein weiterer wichtiger Punkt für den Hass in Thüringen sind die Rechtsrock- und Neonazi-Konzerte. Innerhalb der rechtsextremen Szene genießt Thüringen den Ruf, dass man hier gut Konzerte veranstalten könne, ohne mit viel Gegenwind rechnen zu müssen. In keinem anderen Bundesland finden derart viele Neonazi-Konzerte statt wie hier. Die bis zu 4.000 Teilnehmer_innen kommen aus dem ganzen Bundesgebiet, aus der Schweiz und Österreich. 2017 werden gar noch mehr Besucher_innen erwartet. Bei diesen Events werden Kontakte geknüpft und Pläne geschmiedet.

„Netzwerke aus ehemaligen NSU-Unterstützungsstrukturen, sind hier so stabil, etabliert und organisiert wie nie zuvor“, erklärt mir Matthias Quent vom „Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft“ in Jena, einer Thüringer Dokumentations- und Forschungsstelle gegen Menschenfeindlichkeit, die sich als eine Konsequenz des NSU-Untersuchungsausschusses gegründet hat. Auch ihn treffe ich in Jena. Matthias Quent fordert von der Polizei, dass sie Druck auf die Behörden ausüben sollen, sodass das Ordnungsrecht der Konzerte anders ausgelegt wird und solche Netzwerk-Veranstaltungen unterbunden werden können.

Matthias Quent: „In strukturschwachen Regionen, dort wo sich der Staat zurückgezogen hat, inszenieren sich Rechtsextreme als Kümmerer, beispielsweise in der Jugendarbeit.“

Warum funktioniert das völkische so gut im Osten?

Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte, Geflüchtete und Helferinnen und Helfer, sind mittlerweile in Thüringen keine Seltenheit mehr. Sowohl Matthias Quent als auch Christina Büttner berichten mir von einer „Radikalisierung der Mitte“, das Sagbarwerden von rechtsextremen Ideologie- Fragmenten. Ausgelöst sehen beide dies durch das Erstarken der Rechtspopulist_innen. Wobei dies kein thüringisches Alleinstellungsmerkmal ist, obgleich der völkisch-nationale Björn Höcke hier die AfD prägt. Möglicherweise wäre die AfD auch im Westen offen völkisch, wenn dies dort auf Nachfrage stoßen würde. Matthias Quent vermutet, dass im Westen eine selbstbewusstere Zivilgesellschaft agiere, für die in Teilen Demokratie etwas anderes sei, als im Osten. „Dass Demokratie eben auch mit Menschenwürde und Menschenrechten eng verbunden ist, sei im Osten nicht so tief verankert.“

Homogenität ist im Osten Alltag

Matthias Quent, der seit Jahren auf diesem Gebiet forscht, glaubt, dass der spezifisch völkische Homogenitätsbezug im Osten größer sei als im Westen. Mit 2,8 Prozent, ist Thüringen das Bundesland mit dem niedrigsten Migrant_innen-Anteil. „Zynisch kann man eigentlich sagen, Homogenität ist hier Alltag. Es gibt keine Erfahrung mit Diversität, gerade in ländlichen Regionen. Möglicherweise assoziiert dies auch, dass die Menschen in Thüringen meinen, darauf einen Anspruch zu haben und gar dass dies etwas Gutes sei, weil man eine heterogene Gesellschaft eben nicht kennt.“

Die Erfolgsgeschichte der Gewalt in Thüringen

Die gefestigte Debattenkultur der Zivilgesellschaft in Westdeutschland zeigt den Rechtsextremen klar auf, dass sie am Rande der Gesellschaft stehen und eben nicht die Mehrheit darstellen. Rechte Parolen sind hier in der Öffentlichkeit meist tabu. In Ostdeutschland, auch in Thüringen, hat sich das mancherorts geändert. Allerdings wissen wir aus Studien, dass rassistische Einstellungen im Westen nicht geringer ausgeprägt sind als in Ostdeutschland, sich hier aber anders äußern. In den neuen Bundesländern ist die Gewaltaffinität besonders hoch. Hier gibt es eine Kontinuität von rechtsextremen Gewaltgruppen beziehungsweise eine Kultur der Gewalt. In bestimmten Regionen im Osten hat man Erfolgserlebnisse mit rechter Gewalt gehabt, erklärt mir Matthias Quent. „Man zündet dort die Heime an, wird von Unterstützer_innen umjubelt und als Konsequenz schafft die Bundesregierung das Asylrecht ab. Davon hat die Szene gelernt und daraus hat sich auch der NSU gegründet. Diese Erfolgsgeschichten spielen auch heute noch eine wesentliche Rolle.“

Aussichten in die Zukunft

Vermehrt rassistische Übergriffe, das Wegbrechen des Widerstandes auf dem Land, Thüringen als wachsende Metropole für Neonazi-Konzerte und eine AfD die nach derzeitigen Umfragen bei 19 Prozent liegt – Alles keine schönen Aussichten, aber wie kann es in Thüringen weiter gehen? Christina Büttner sieht einen kleinen Lichtblick darin, dass Thüringen durch die Geflüchteten ein wenig heterogener wird. Sie hat die Hoffnung, dass durch den persönlichen Kontakt mit Geflüchteten das starre Weltbild einiger aufgelockert werden wird. Matthias Quent wiederum fordert zu mehr Gelassenheit auf. Er merkt an, dass Rassismus in Thüringen immer schon existierte, es jedoch lange Zeit vonseiten der Politik keinen Handlungsdruck gab. Erst seit der Enttarnung des NSU haben wir auch in den Medien eine breite Debatte über das Thema. Und genau das sei es, was eine Zivilgesellschaft braucht, um der Menschenfeindlichkeit der Rassist_innen etwas entgegen zu setzen – eine Debattenkultur.

 

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