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Was tun? Wie kann ich bei Antisemitismus im eigenen politischen Umfeld reagieren?

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(Quelle: Unsplash)

Klar ist die queerfeministische Szene „intersektional“. Natürlich ist sie besorgt um marginalisierte Menschen. Selbstverständlich sind Queerfeminist*innen schnell und vehement dabei, Opfer gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu verteidigen. Außer, es handelt sich um Jüdinnen*Juden.

Aktuelle Beispiele: Die feministische Buchhandlung „SheSaid“ ruft auf Instagram zu einer Spendenaktion auf. Die Einnahmen aus dem Verkauf einer Auswahl von Büchern, die sich mit Antisemitismus und dem sogenannten Nahostkonflikt beschäftigen, sollen sollen an die antirassistische Organisation KOP gehen, die sich gegen die Repression von Migrant*innen einsetzt. Kritik einiger Autor*innen, dass KOP sich seit dem 7. Oktober einseitig pro-palästinensisch positioniere und sich mit PFLP-nahen Organisationen solidarisiere und deshalb die Hälfte der Spendengelder an OFEK gehen soll, eine Organisation, die Opfer antisemitischer Gewalt betreut, wird von der Belegschaft abgelehnt. Erst nach einigen Wochen und vehementer Kritik ringtsich „SheSaid“ zu einem Statement durch, dass der Kampf gegen Antisemitismus auch von gesellschaftlicher Notwendigkeit sei.

Zahlreiche namhafte Feminist*innen, gerade im internationalen Raum, verteilen in sozialen Medien antiisraelische Inhalte, bis hin zu antisemitischen Verschwörungsnarrativen – die Feuerpause und die Rückgabe israelischer Geiseln sei mit Absicht auf den  24. November. gelegt worden, damit Menschen weniger auf Israel schauen, sondern mehr Geld in Black Friday-Einkäufe investieren. Auch, dass große Teile der queerfeministischen Community es am 25. November, dem internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen und Mädchen, nicht geschafft haben zu benennen, dass die Hamas am 7. Oktober explizit und bewusst misogyne Gewalt als Kriegswaffe eingesetzt hat, zeigt, dass das Leid jüdischer FLINTA* (Frauen, Lesben, Inter*Personen, Nichtbinäre, Trans*Personen, Agender) für Teile sich queer und feministisch begreifender Gruppen nicht so relevant erscheint.

Diese Blindheit gegenüber Antisemitismus geht regelmäßig mit einer so affekthaften wie verkürzten Palästina-Solidarität einher, die unterfüttert ist mit antisemitischen Ressentiments, israelfeindlicher Desinformation und einem sehr bruchstückhaften Verständnis von Unterdrückung – aber dafür viel Empörung und moralischer Überlegenheit. Diese Diskussionen verlaufen vor allem in digitalen Räumen, da diese in ihrer Struktur überemotionalisierten, affekthaften Debatten und ungerechtfertigten Vorwürfen eher Raum bieten und Desinformationen leichter verbreitet und geteilt werden können. Beispiele sind Telegram-Chatgruppen, Twitter-Threads oder Diskussionen unter Instagram-Postings. Dies liegt auch daran, dass anstatt einer gemeinsam erarbeiteten und diskutierten historisch-materialistischer Analyse, wie sie beispielsweise in akademischen Räumen, wie  Hochschulseminaren, autonomen Tutorien, oder antifaschistischen Zusammenhängen, bei Vorträgen, Lesekreisen oder in Plena entsteht, erfolgt inzwischen Gesellschaftskritik viel anhand leicht konsumierbarer und deswegen sehr verkürzter Social Media-Inhalte. Zehn Instagram-Kacheln oder ein zweiminütiges TikTok reichen, um sich eine politische Position zu bilden – wer braucht da schon historisches oder sozialpsychologisches Wissen über Israel und Antisemitismus?

Diskussionen? Nein danke!

Die letzten Wochen haben verstärkt gezeigt: Der ohnehin kaum aufgearbeitete Antisemitismus in progressiven Strukturen wird offener als je zuvor zur Schau getragen, sowohl im Internet als auch auf der Straße. Vor allem im digitalen Raum lässt sich dem Hass auf Israel nicht entkommen. Diese nervenzehrenden und leider oft wenig erfolgreichen Online-Diskussionen beginnen mit einer Aussage, einem geteilten Artikel: Israel begehe „Genozid“, töte palästinensische Kinder, sei ein „Apartheidsregime“. Oft ist unklar, ob diese Aussagen eine Mischung aus Unwissenheit und jener antisemitischen Desinformationspropaganda sind, die gerade sämtliche Social Media-Plattformen überschwemmt, oder der Ausdruck einer tatsächlichen israelfeindlichen Agenda.

Die Grenze zwischen aus Unwissenheit verbreiteter Desinformation und der Relativierung bis Verherrlichung von antisemitischem Terror ist jedoch oft fließend. Die vom iranischen Mullahregime finanzierte Terrorgruppe Hamas, deren Mitglieder über tausend Menschen ermordet haben, die Frauen vergewaltigt und die geschändeten Leichen in Videos zur Schau gestellt haben, um Israel zu demütigen, sind hier keine antisemitische, misogyne Mörderbande mehr, sondern Ausdruck antikolonialistischer Befreiungskämpfe. Theoretisch unterfüttert wird dies durch Theoretiker*innen wie die jüdische Antizionist*in Judith Butler oder die Queertheoretikerin Jasbir Puar, die die intellektuelle Meisterleistung begeht, Suizidanschläge zu „queeren“. Populär sind auch Gruppierungen wie Amnesty International oder Jewish Voice for Peace, die beide vielfach aufgrund ihrer israelfeindlichen Einstellungen kritisiert worden sind. Eine in vielen identitätspolitischen Diskursen ohnehin präsente „Israelkritik“ wird momentan mit antisemitischen Verschwörungsnarrativen unterfüttert, die das bereits bestehende Ressentiment bestätigen und deshalb auf fruchtbaren Boden fallen.

Israelsolidarische Stimmen beginnen dann zu intervenieren, in der Regel anhand grundlegender politischer Textarbeit: Wieso der Begriff „Apartheid“ eine Relativierung des südafrikanischen Apartheidsregimes ist. Wieso „Genozid“ nicht passt. Warum den Zahlen der Hamas kein Glauben geschenkt werden sollte. Wieso die Bilder, Videos und Info-Slides, die gerade TikTok, Twitter und Instagram überschwemmen, häufig Propaganda sind, die gezielt produziert wurde, um Wut gegen Israel und Mitleid mit Palästinenser*innen zu evozieren – und somit konkret davon ablenken soll, dass die Hamas die Körper der palästinensische Bevölkerung als Schutzschild und für Propagandabilder missbraucht. Dass wer „Free Gaza“ ruft, „From Hamas“ dranhängen sollte.

Darauf folgt weniger eine dem Thema angemessen nuancierte Diskussion, die Widersprüche aushält, als vehement vorgetragene Vorwürfe: „Du verteidigst ein rechtsradikales Regime, wenn du Israel verteidigst!“ und „Bin ich jetzt Antisemit*in, nur weil ich Israel kritisiere?“ und „Dir sind tote palästinensische Kinder wohl egal!“ und „Du bist Rassist*in, wenn du den weißen Siedlerstaat Israel unterstützt.“ Jedoch erweist es sich oft als erfolglos, diese Anfeindungen als haltlos zu widerlegen, zu erklären, dass die Quellen antisemitische Ressentiments unterfüttern und bestätigen, oder auch nur Ambiguitätstoleranzen zu benennen wie: „Es ist möglich, eine rechte israelische Regierung zu kritisieren, die die Angriffe der Hamas nutzen wird, um Repressionen gegen die Demokratiebewegung vor Ort, Palästinenser*innen und arabische Israelis zu legitimieren, als auch anzuerkennen, dass Israel auf militärische Selbstverteidigung angewiesen ist. Und es ist eine unglaubliche Tragik, dass dies mit dem Leid, Trauma und Tod tausender Palästinenser*innen einhergeht. Doch dafür ist primär die Hamas zu verantworten.“ Dies liegt daran, dass Diskussionen um den Nahostkonflikt häufig ausgesprochen emotional aufgeladen sind und aus einer moralischen Hoheitsposition heraus geführt werden. Eine sachliche Gegenargumentation ist schwierig. Gegen Bilder und Begriffe wie „Genozid“ und „tote Kinder“, von Propagandakanälen gezielt wegen ihrer emotionalen Wirkmächtigkeit instrumentalisiert, lässt sich nun mal schwer argumentieren. Vorwürfe wie „Du verteidigst Apartheid“ oder „Dir sind tote Kinder egal“ sollen eine Diskussion von Anfang an im Keim ersticken.

Mit einer Person, die Israel für das Massaker am 07. Oktober verantwortlich macht, lässt sich schwerlich diskutieren.

 Frustration Betroffener

Für nicht-antizionistische, jüdische queere Aktivist*innen ist diese Entwicklung besonders zermürbend. Rosa Jellinek, aktiv bei Keshet Deutschland, einem queer-jüdischen Verein und bei OY VEY!, einem Projekt, das antisemitische Verschwörungsnarrative aufdeckt, spricht mit Belltower.News über ihre Erfahrungen nach dem 7.Oktober: „Die Reaktion auf israelsolidarische Stimmen habe ich stellenweise sehr unterstützend wahrgenommen; beispielsweise auf das Statement von  Keshet Deutschland kam eigentlich nur positive Rückmeldung. Teils habe ich aber auch gesehen, dass es zu Hass führen konnte, wenn sich queerfeindliche Organisationen israelsolidarisch geäußert haben.“

Es sei anstrengend und zehrend, Nicht-Betroffenen „erklären zu müssen, warum Israel kein ‘white colonizer project‘ und die Hamas keine Widerstandsorganisation ist“, meint Jellinek müde. Generell hätte es schon vor dem 7. Oktober in intersektionalen queerfeministischen Räumen Ausschlussmechanismen gegeben, die Jüdinnen*Juden Sichtbarkeit und Teilhabe verwehrt hätten.

Da in intersektionalen, queerfeministischen Gruppen häufig Antisemitismus und Rassismus gegeneinander ausgespielt würden – quasi: Wer Israel verteidigt, unterstützt automatisch Rassismus – sei besonders für BPoC, die sich gegen israelbezogenen Antisemitismus einsetzen, eine belastende Situation. Eine Aktivistin aus Frankfurt gibt im Gespräch mit Belltower.News an, dass es eine schlimme Erfahrung gewesen sei, vermittelt zu bekommen, „dass ‚richtige’ BPoCs eine bestimmte Haltung haben müssten und ihnen sogar der Zugang [zu einer queerfeministischen BPoC-Chatgruppe] verwehrt wurde.“ Die Berliner Autorin Elisa Aseva berichtet auf Instagram davon, im Rahmen einer kritischen Intervention gegen die Veranstaltung „Leftists and Islamists working together?“ als Rassistin und Faschistin bezeichnet worden zu sein – was übrigens einiges über den mangelnden Rassismusbegriff der Anwesenden aussagt. Es wird also eine Unvereinbarkeit zwischen der Unterstützung von Israel und Antirassismus/nichtweißer migrantischer Herkunft aufgemacht. Dies suggeriert, dass Aktivismus gegen israelbezogenen Antisemitismus und der Kampf gegen Rassismus nicht vereinbar seien. Dies ist leider kein Einzelfall, sondern eine immer wiederkehrende Behauptung intersektionaler Zusammenhänge.

Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass momentan sowohl von bürgerlicher, als auch rechtsantideutscher Seite der Nahost-Konflikt genutzt wird, um den eigenen rassistischen Ressentiments freie Bahn zu lassen und Menschen mit arabisch-muslimischen Hintergrund und der gesamten palästinensischen Zivilbevölkerung automatisch Judenhass zu attestieren. Der Kampf gegen Antisemitismus und der Kampf gegen Rassismus sollten nie gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Gerade in Zeiten, in denen Deutsche ihren eigenen Antisemitismus auf Migrant*innen externalisieren, von „importierten Antisemitismus“ sprechen, und eine vermeintliche Israelsolidarität nutzen, um rassistische Abschiebediskurse zu befeuern, ist eine deutliche Positionierung gegen Rassismus unverzichtbar. Diese beiden Kämpfe gegeneinander auszuspielen nutzt letztendlich nur reaktionären Kräften: Islamistischen Strukturen, Rechtspopulist*innen und Neonazis.

Leid anerkennen, Antisemitismus bekämpfen

Die aktuelle politische Lage ist überfordernd und schrecklich – was von antisemitischen Akteur*innen gezielt ausgenutzt wird. Denn in politischen Krisenzeiten suchen Menschen nach Halt und Sicherheit, und dieser wird häufiger in einfachen Antworten gefunden als in einer intensiven Auseinandersetzung mit politischer Theorie und Sozialpsychologie – auch, weil letzteres verlangt, die eigenen internalisierten Ressentiments zu hinterfragen.

Helfen könnte grundsätzliche Aufklärung über Antisemitismus, meint Rosa Jellinek: „Bildung über die Geschichte der Region und des Judentums, über Antisemitismus und wo er herkommt. Es fängt ja schon dabei an, dass viele israelbezogenen Antisemitismus gar nicht als solchen anerkennen.“ Ein Werkzeug  ist der 3D-Test, der aufzeigt, wann „Israelkritik“ antisemitisch ist: wenn eine Dämonisierung, Delegitimierung oder Doppelstandards im Bezug auf Israel stattfinden.

Gerade bei im virtuellen Raum geführten Diskussionen ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, dass diese bei den aggressiven Akteur*innen selten direkt Früchte tragen. Wer in regelmäßigen Abständen israelfeindliche Propaganda teilt, will auch nicht überzeugt werden. Dies führt auch dazu, dass sachliche Argumente die intendierte Empfänger*in nicht erreichen. Gleichzeitig ist jedoch für Deradikalisierung gerade der emotionale und psychologische Zugang zwingend notwendig. Diesen zu schaffen, ist in virtuellen Räumen wie aufgeheizten Instagram-Diskussionen jedoch fast unmöglich. Vor allem für Jüdinnen*Juden sind diese Gespräche zusätzlich belastend, da es um die Verteidigung der eigenen Existenz geht. Jellinek appelliert an Solidarität: „Es braucht vor allem Menschen, die nicht von Antisemitismus betroffen sind, die gerade in der aktuellen Zeit die Diskussionen führen, für die viele Jüdinnen*Juden zur Zeit keine Kraft haben.“

Zum Glück gibt es auch positive Beispiele, zum Beispiel diese queerfeministische Gruppe aus Stuttgart.

Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass diese Diskussionen vor allem für die stillen Mitlesenden geführt werden: um Desinformationen nicht unerwidert stehen zu lassen, um Menschen, die sich noch nicht adäquat mit dem Thema auskennen, nicht den Desinformationen auszuliefern, und vor allem um von Antisemitismus Betroffenen Solidarität zu vermitteln. Niemand sollte erwarten, bei einer unter den Augen der digitalen Halböffentlichkeit geführten Diskussion einen Satz zu lesen wie „Ja, du hast Recht, ich werde meine Position nochmal überdenken.“

Viele proisraelische Aktivist*innen haben sich inzwischen in separate Räume und Gruppen zurückgezogen. Es erinnert an die politischen Debatten von vor 20 Jahren im Rahmen der Zweiten Intifada, die ebenfalls zu einer Spaltung linksradikaler Strukturen geführt hat. Sie sind zu müde, die immer gleichen Diskussionen immer wieder führen zu müssen, immer wieder die gleichen Vorwürfe zu ertragen – und somit keinen Raum mehr für tatsächliche politische Organisation gegen Antisemitismus zu haben. Diese Neugestaltung ist zwar anstrengend, aber die letzten Wochen haben gezeigt: gerade in den eigenen, progressiven Strukturen ist der Kampf gegen Antisemitismus zwingend notwendig – schlicht aus Solidarität mit Jüdinnen*Juden. Rosa Jellinek fordert: „Ich wünsche mir, dass mehr nach den Bedürfnissen jüdischer Menschen gefragt wird, also zum Beispiel direkt zu fragen: ‚Wie gehts euch, wie können wir euch unterstützen?‘. Ein Beispiel wäre, die eigenen Räumlichkeiten für Safe Spaces anzubieten. Also Solidarität wirklich praktisch zu machen.“

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Was tun? Action-Kit gegen israelbezogenen Antisemitismus

Erste Hilfe für Lehrkräfte, Mitarbeiter*innen der Verwaltung, Personen, die in der Öffentlichkeit stehen, sowie andere Interessierte gegen israelbezogenen Antisemitismus.

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