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Armenien Mehr als ein Stück Land – Zum Konflikt In Berg-Karabach

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Berg-Karabach (Symbolbild) (Quelle: Erich Klein, Peter Waldenberger / CC BY-SA 4.0)

In diesem Gespräch mit den Armenier*innen Amalya Tonapetyan (AT) und Mher Erik Avetisyan (MA) geht es um den Konflikt, die Relevanz genozidialen Traumas, falsche Symmetrien und die deutsch-türkische Beziehung.

Machen wir zunächst eine kurze Vorstellung: Wer seid ihr, was macht ihr beruflich und wie seid ihr in der armenischen Community in Deutschland eingebettet?

AT: Mein Name ist Amalya, ich bin 27 Jahre alt und arbeite seit geraumer Zeit für eine politische Stiftung an unterschiedlichen Standorten. Ich habe Staatswissenschaften in Erfurt studiert und mache nun nebenberuflich meinen Master in European Studies in Leipzig. Mit der armenischen Community habe ich vor allem eher auf der privaten Ebene zu tun. In jeder größeren Stadt in Deutschland gibt es eine armenische Gemeinde und so kennt man sich. Während der Proteste sind diese privaten Netzwerke politischer und aktiver geworden.

MA: Ich bin Mher, 25 Jahre alt, und studiere an der FAU im Master Politik und öffentliches Recht. Die letzten Monate habe ich mein Praktikum beim Nürnberger Menschenrechtszentrum gemacht. Das Thema Menschenrechte ist mir ein großes persönliches Anliegen. Mit den Netzwerken ist es für mich wie bei Amalya: Man kennt sich bundes- und europaweit und diese Netzwerke sind jetzt während des Konflikts nur umso stärker geworden, da wir versuchen viele Demos und Aktionen zu initiieren.

Der Krieg in Artsakh geht jetzt seit vier Wochen. Was war der Auslöser und was sind die wichtigsten chronologischen Eckpunkte des Konflikts?

AT: In diesem Konflikt könnte man jetzt in der vorchristlichen Zeit ansetzen, aber dafür gibt es Bücher, die man zu Rate ziehen kann. In der modernen Frage des Konflikts geht es vor allem um die willkürlichen Grenzziehungen durch die UDSSR. Man hört immer wieder das Argument, dass Berg-Karabach völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört. Das Selbstbestimmungsrecht und Selbstbestimmungsbestreben der Völker ist aber älter als die UDSSR. Es leben auch nicht sogenannte „armenisch-stämmige“ oder „ethnisch armenische Menschen“, sondern ganz einfach Armenier in Berg-Karabach, genau wie in Armenien. Schon immer. Sie wollten schon immer unabhängig werden, da sie ständig Pogromen und Ausgrenzung ausgesetzt waren, vom Völkermord in der Türkei und den vorhergehenden Pogromen bis zu den Vertreibungen durch Aserbaidschan. Das ist die Basis, die ein Übereinkommen dieser beiden Völker schwer macht. Ich würde den Beginn des Konflikts also in der Zeit des Zerfalls der UDSSR und der Unklarheiten dieser Ära sehen. In den 1990er Jahren hatte der Konflikt seinen Höhepunkt: 30.000 Menschen wurden getötet, auf beiden Seiten. Das wollen wir betonen. Von beiden Seiten wurden Menschen vertrieben. Eine ehrliche Aufarbeitung steht heute noch aus und wird von Aserbaidschan verneint.

MA: Ich will zu der Völkerrechtsdebatte hinzufügen: Das Völkerrecht gilt zwar global, wird in seiner Umsetzung aber den Ländern anvertraut. Es gibt also keine juristische Hierarchie zur rechtsbindenden Durchsetzung. Es gibt die UN und die Sicherheitskonferenz, die jetzt zum Beispiel einen Waffenstillstand gefordert haben, doch der wird wiederholt von aserbaidschanischer Seite gebrochen. Zudem gibt es eine klare Einteilung im Konflikt zwischen Angreifer und Verteidiger. Die aserbaidschanische Seite will angreifen, die armenische will sich vor der nächsten ethnischen Säuberung verteidigen. Ethnische Säuberungen, die es auch während der UDSSR gab. Ein wichtiger Name, der hier fallen muss, ist auch der der Türkei. Ein Blick in die Geschichtsbücher zeigt, dass das, was wir heute erleben schon zwei, drei Mal passiert ist – und jedes Mal hatte die Türkei ihre Finger im Spiel. Das bedeutet für mich, dass diese Armenophobie in erster Linie nicht aserbaidschanischen, sondern türkischen Ursprungs ist. Warum mobilisiert man jetzt die Bevölkerung in Aserbaidschan und der Türkei nach 30 Jahren wieder zur Armenophobie? Weil der aserbaidschanische Präsident Aliyev seine Macht erhalten will. Das kann man in vielen Ländern beobachten: Wer innenpolitisch gerade keine Stabilität hat, versucht Stabilität und Rückhalt durch Propaganda und außenpolitische Kriegsgebärden zu erhalten. Das sehen wir in der Türkei durch ihren Panturkismus und in Aserbaidschan durch Aliyev.

Die Türkei ist seit Jahren ununterbrochen an kriegerischen Konflikten beteiligt, ob in Libyen, im Mittelmeer, oder gegen ethnische Minderheiten im eigenen Land und außerhalb der Türkei. Gerade im Krieg in Armenien und gegen die Kurden betont die türkische Seite ihre panturkische Verpflichtung sich für die türkmenischen „Geschwister“ in Kurdistan und die aserbaidschanischen „Geschwister“ in Artsatkh einzusetzen. Was hat Panturkismus, also die Ideologie des territorialen Großreichsanspruchs aller Turkvölker, in diesem Konflikt zu bedeuten?

AT: Zunächst einmal muss gesagt werden, dass der Konflikt nie eingefroren war. Es gab durchgehend Schusswechsel und ständig die Gefahr einer Eskalation. Der Konflikt fand bisher jedoch nur zwischen Armenien und Aserbaidschan statt. Was jetzt anders ist, ist, dass die Türkei offen mitmischt und sich an die Seite seines Bruderstaats Aserbaidschan stellt. Was löst also dieser mediale und reale Panturkismus in uns aus? Es erinnert an das, was unseren Vorfahren beim Genozid des Osmanischen Reiches an den Armeniern 1915 und lange davor schon in Form von Pogromen und Vertreibung geschehen ist. Ohne das türkische Drängen wäre der Krieg heute in diesem Ausmaß nicht möglich. All das reißt neue Wunden auf. Für Aserbaidschan geht es um ein Gebiet, für uns geht es um unsere Existenz, das Überleben von gerade mal 3 Millionen Armeniern. Das ist der Grund, wieso wir solche Einheit zeigen. Kaum jemand von uns ist nicht vom Genozid 1915 betroffen, kaum jemand ist nicht traumatisiert. Wir wissen, die Türkei wird nicht aufhören und dagegen leisten wir Widerstand. Was auch an damals erinnert: Die deutsche Neutralität, oder gar Beteiligung am Konflikt. Die Bundesregierung bewilligt der Türkei weiterhin Waffen, was nicht nur angesichts des Bergkarabach-Konflikts erschreckend ist, sondern auch angesichts vieler weiterer Kriege, die die Türkei maßgeblich beeinflusst. Ich glaube es ist eines noch nicht angekommen: Panturkismus betrifft nicht nur Armenier, nicht nur sie müssen Vertreibung fürchten. Es betrifft genauso Kurden, Yeziden und andere Minderheiten. Es ist eine Ideologie, die Völkermord beabsichtigt.

MA: Meine Familie ist auch von dem Völkermord von 1915 betroffen, sie stammt ursprünglich aus den Gebieten Van und Mus in der Türkei und seit ich ein Jugendlicher war habe ich mich mit dieser grausamen Vergangenheit beschäftigt. Das war für mich aber immer Geschichte, ich dachte nie, dass es sich so wiederholt. Ich habe viele Freunde, zum Beispiel syrische Freunde, die von Krieg betroffen sind, aber ich dachte nie, dass ich jetzt im Freundeskreis der bin, der von Krieg in der Heimat berichtet. Da ich auch in der Universität so viel zu Menschenrechten gelernt habe, frage ich mich auch, was ich da gelernt habe, weil sie durch die internationale Gemeinschaft keine Anwendung findet. Was muss man der Bundesregierung oder der EU noch zeigen, damit Partei ergriffen wird? All das passiert vor den Toren Europas und immer noch stehen wirtschaftliche und geopolitische Interessen vor demokratischen Prinzipien. Erdogan ist für mich die Spitze dieses ganzen Krieges, weit über Armenien hinaus, etwa im Kontext der Besetzung kurdischer Gebiete in Syrien durch Erdogan. Die Umwandlung der uralten Hagia Sofia in eine Moschee steht symbolisch für seine aktuellen Bestrebungen – auch das macht er, um Rückhalt der Bevölkerung zu bekommen. In Zypern hat sich diese Expansionspolitik auch gezeigt. Das macht klar: Die Türkei ist alles andere als friedensfördernd, sie ist konfliktfördernd. Propaganda von Staatsmedien wie TRT spielt da ebenfalls eine Rolle und diese reicht über die türkischen Grenzen hinaus. Die EU und der Westen schweigen indes. Stoltenberg hat im Oktober Ankara besucht und die militärische Allianz hoch gelobt. Da war ich schockiert. Seitdem kann ich die NATO nicht ernstnehmen.

Deutschland ist wiederholt Vetokraft in europäischen Verhandlungen über Sanktionen gegen die Türkei gewesen. Was ist es, was Deutschland so tatenlos gegenüber der Türkei macht?

AT: Es gibt eine Reihe von Gründen für die Zurückhaltung Deutschlands. Einer dieser Gründe ist wohl folgender: Deutschland ist ein Land, in dem unglaublich viele verschiedene migrantische Gruppen vertreten sind. Die türkische Gemeinde stellt die größte dar und nimmt politisch eine Machtposition ein. Ob zu Themen wie Migration oder Integration: Überall nehmen türkische Personen und Organisationen Schlüsselrollen ein. Diese große türkische Gemeinde ist nicht losgelöst von der Türkei: Viele Islamverbände sind mit türkischen Parteien und Institutionen verbandelt und damit wird der Geschichtsrevisionismus der Türkei nahtlos in Deutschland weitergeführt. Somit wird eine Gruppe indoktriniert, mit der ein Diskurs nicht möglich ist, schon gar nicht zum Thema Armenien. Deutschland befürchtet also die Reaktion der eigenen türkischen Bevölkerung im Falle einer klaren Haltung Deutschlands gegen den türkischen Machthabern. Die Abstinenz höchster Vertreter während der Verabschiedung der Armenien-Resolution 2016, steht symbolisch dafür. Deutschland sollte realisieren, dass es der stärkere Verhandlungspartner ist. Die bisherige Appeasement-Politik Deutschlands kostet nicht nur armenische Leben. Und leider spüren wir bereits den Druck der großen türkischen Gemeinde in Deutschland und Europa. Die Fälle der bewaffneten Angriffe auf Armenier häufen sich. In deutschen Großstädten werden Deutsch-Armenier aufgrund ihrer Herkunft bedroht.

MA: Dem kann ich mich nur anschließen. Die Türkei hat durch die türkische Gemeinde einen großen Einfluss in der EU und vor allem in Deutschland, das ist vermutlich ein wichtiger Beweggrund für das Verhalten Deutschlands. Dennoch darf Deutschland nicht vergessen: Das ist ein Krieg vor den Toren Europas, in dem Islamisten und Fundamentalisten zu bekämpfen sind. Es geht Aserbaidschan und der Türkei nicht nur um Artsakh, sondern um ganz Armenien. Es wird ja offen propagiert: Man will eine gemeinsame Grenze zwischen Aserbaidschan und der Türkei. Ausgesprochenes Ziel des Panturkismus ist eben ein Gebiet zu beanspruchen, das bis nach Zentralasien geht. Es gibt jenseits Deutschlands in der EU auch Stimmen, die diese Gefahr ernst nehmen, wie zum Beispiel Frankreich, Griechenland und Zypern.

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Die Berichterstattung in Deutschland betont immer gerne „Fehler auf beiden Seiten“ und stellt den Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan als symmetrisch dar. Dabei könnten die Länder nicht asymmetrischer sein: In Aserbaidschan leben 10 Millionen Menschen bei 50 Milliarden $ BIP, In Armenien leben 2,9 Millionen bei einem pro-Kopf BIP von 12 Milliarden $. Was sind weitere Punkte, die diesen Konflikt asymmetrisch machen?

AT: Die Verhältnisse könnten nicht asymmetrischer sein. Im Falle eines kompletten Krieges gegen Armenien, würden die Türkei und Aserbaidschan uns militärisch und zahlenmäßig überrollen. Die Militärausgaben Aserbaidschans übersteigen den staatlichen Haushalt Armeniens. Armenien hat auch zum Beispiel nicht die natürlichen Ressourcen, wie Öl, die Aserbaidschan hat und damit auch Einfluss und wirtschaftspolitische Relevanz. Zwar ist oft die Rede davon, dass Armenien ja mit Russland einen starken Partner hätte, aber auch das ist an Bedingungen gebunden. Wir hatten 2018 in Armenien die samtene Revolution, in der Korruption und Oligarchie bekämpft wurde. Das waren klar Männer Putins. Wir sind also in einer Situation, wo wir uns fragen müssen: Bedeutet eine Demokratisierung Armeniens ein Verlust der Schutzmacht Russlands und letztendlich die Schutzlosigkeit vor einem Genozid? Armenien hat keinen echten Schutz, während die Türkei zu 100% hinter Aserbaidschan steht.

MA: Die Unterstützung der EU wäre gerade so wichtig, doch sie kommt nicht. Es stehen sich Demokratie und Autokratie gegenüber, und vor allem die Entscheidung zwischen Sicherheit oder Überleben. Aber auch eine offene Gesellschaft in Armenien gegen eine aufgehetzte und einer starken staatlichen Propaganda unterliegende aserbaidschanische Gesellschaft. Das sind die Asymmetrien.

Mal ein anderes Thema: AfD Abgeordnete sind vor zwei Wochen nach Armenien geflogen, um sich dort ein Bild von der Lage zu machen. Können rassistische Medien eine ernsthafte Solidarität für Armenien darstellen?

AT: Die Unterstützung Artsakhs und Armeniens sollte aus den richtigen politischen Gründen erfolgen. Die AfD betreibt in Berg-Karabach Innenpolitik, aber das hat auch mit dem Versäumnis etablierter Parteien zu tun, die sich bis heute nicht zum Konflikt in Berg-Karabach informieren und Angst davor haben, sich zu positionieren. Wir distanzieren uns alles in allem von völkischem Gedankengut, und lehnen eine Instrumentalisierung christlicher Gemeinden aus Mittelost ab. Generell sehen wir leider, dass viele, die gerade Artsakh und Armenien unterstützen, nicht in ihrer Solidarität für Armenien und Armenier vereint sind, sondern in ihrer Ablehnung gegenüber Anders-Gläubigen, Türken oder Aserbaidschanern, und dafür stehen wir nicht.

Das Bild wird unter der Lizenz CC BY-SA 4.0 veröffentlicht.

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