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Die Instrumentalisierung einer Tragödie Zum Mordfall von Kirchweyhe

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Der Bahnhof von Kirchweyhe (Quelle: Wikimedia Commons(CC-Lizenz)/Monster4711)

In der Nacht auf den 10. März trägt sich im niedersächsischen Kirchweyhe, einem Ortsteil von Weyhe, an einer Bushaltestelle ein unfassbares Unglück zu: Auf der Heimfahrt von einem Discobesuch geraten zwei Gruppen in einem Bus aneinander. Nach dem bisherigen Ermittlungsstand will der 25-jährige Daniel S. schlichtend eingreifen – und wird nach dem Halt des Busses zum Opfer einer äußerst brutalen Attacke. Cihan A. tritt ihm so heftig gegen den Oberkörper, dass er gegen einen der wartenden Busse geschleudert wird und mit dem Kopf ungebremst auf dem Asphalt der Straße aufprallt. Regungslos liegt Daniel S. am Boden, doch Cihan A. tritt weiter auf ihn ein. Daniel S. wird mit lebensgefährlichen Kopfverletzungen ins Krankenhaus eingeliefert, am Donnerstag erliegt er den Folgen des Angriffs.

Taten wie diese lösen bei uns oft entsetzte Sprachlosigkeit aus – es scheint schwer, der unfassbaren Brutalität Worte entgegen zu setzen. Aber es ist genau diese Sprach- und Hilflosigkeit, in die Rechtsextreme drängen. Sie nutzen den Moment des Schocks, um ihre menschenverachtende Propaganda unters Volk zu bringen, indem sie die Tat für ihre Zwecke instrumentalisieren. Das ist beileibe keine neue Taktik, doch im Fall von Daniel S. zeigte sie sich wieder einmal in erschreckender Klarheit.

Aufrufe zur Lynchjustiz

Der Täter Cihan A. hat einen sogenannten Migrationshintergrund. Eine Tatsache, die etwa den NPD-Parteivorsitzenden Holger Apfel dazu bringt, auf seiner Facebook-Seite in nur schwer erträglicher Form zu hetzen. So schreibt er: „Die Hätschelkinder der Ausländer-Lobby haben wieder zugeschlagen.“ Und weiter: „In Kirchweyhe wurde ein junger Deutscher von einer Horde wild gewordener Türken ins Koma getreten …“ Wie der Prozess in diesem Staat mit seiner „Kuscheljustiz“ ausgehe, sei schon jetzt absehbar. Noch aufschlussreicher sind die Kommentare unter diesem Posting: Da heißt es „Ich sage nur frühjahrsputz!die pest muss ausgeräuchert werden!“ oder „Wir sind Fremde im eigenen Land!!!“ Nur zwei Kommentare aus einer ganzen Flut offen rassistischer Kommentare, die teilweise mal mehr, mal minder offen zur Lynchjustiz aufrufen.

Nicht nur Holger Apfel heizte den digitalen Mob an: Auch die „Bild“-Zeitung spielt in der Diskussion eine unrühmliche Rolle. Unter der Überschrift „Daniel von Schlägerbande ins Koma getreten!“ heißt es in dem Artikel von Astrid Sievert: „Unter Hochdruck ermittelt die Polizei gegen sechs der brutalen Schläger. Alles Südländer.“ Dass solch eine Berichterstattung der NPD zupass kommt, ist mehr als eine Vermutung: Die NPD teilt diese und weitere „Bild“-Artikel fleißig – kein Wunder bei der Beschreibung „Alles Südländer“. Einschlägige rechtsextreme Medien werden noch deutlicher: Das menschenverachtende Blog „Messerattacken“ spricht von einem „türkischen Kopftreter-Rudel“, das Hetz-Blog „Politically Incorrekt“ von einer „türkischen Schlägerbande“ und das neurechte Online-Magazin „Blaue Narzisse“ von einer „türkischen Horde“. Auf der Online-Seite der neurechten „Sezession“ ist gar von einem „Muster der Gewalt vorwiegend orientalischer Jugendlicher gegen junge Deutsche“ die Rede. So wird der tragische Tod von Daniel S. vor allem im Internet von rechtsextremen Akteuren quer durch die Bank instrumentalisiert, um die eigene Propaganda zu verbreiten. Das zeigt ein weiterer Beitrag von Holger Apfel, dieses Mal auf der Seite der „Deutschen Stimme“: „Aggressiv, gewalttätig, dreist und mit einem maßlosen Geltungsbedürfnis ausgestattet, treten testosterongesteuerte Jung-Muselmanen immer stärker im Alltag auf. Kein Wunder, wissen sie doch Staat, Behörden, Medien und Gutmenschen-Mafia auf ihrer Seite.“ Gerade diese Hetze Apfels zeigt, dass es den Rechtsextremen in solchen Fällen nicht um die Opfer geht, sondern nur um die Verbreitung ihrer Hassbotschaften

Eine Welle des Hasses

Doch nicht nur online wird von den Rechtsextremen agitiert: So versuchten sie, zwei Mahnwachen anzumelden, die allerdings von der Gemeinde untersagt wurden. Hierzu erklärte der Weyher Gemeinderat Andreas Bovenschulte gegenüber Radio Bremen: „Nach reiflicher Überlegung hat sich die Gemeinde dafür entschieden, die beiden aus der rechten Szene angemeldeten Veranstaltungen zu verbieten. Der Grund dafür ist: Im Vorfeld der Veranstaltung hat es eine Welle des Hasses und des Aufrufes zu Straftaten im Internet gegeben. Uns ist das Risiko, dass es zu systematischen Straftaten im Zusammenhang mit der Durchführung der Veranstaltung kommt, zu groß.“

Stattdessen wurden die Trauerkundgebungen im Ort genutzt, um auch ein Zeichen gegen Rassismus zu setzen. So folgten 1.500 Bürgerinnen und Bürger von Weyhe dem Aufruf des „Runden Tisches gegen Rechts und für Integration“ zu einer Mahnwache am Tatort. Hier betonte Bürgermeister Frank Lemmermann (SPD), die Herkunft des Täters spiele keine Rolle: „Es trifft zu, dass der Haupttäter türkische Wurzeln hat, aber es hätten auch andere junge Männer sein können.“ Für seine besonnene Haltung erntete Lemmermann bereits im Vorfeld Drohungen aus der rechtsextremen Szene und steht seither unter Polizeischutz.

Einfache Antworten auf komplexe Fragen

Tatsächlich ist es ein gutes Signal, dass sich so viele Menschen an dieser Gedenkveranstaltung beteiligten und auch einen Tag später noch einmal 300 Bürgerinnen und Bürger kamen, um sich einem möglichen Aufmarsch von Rechtsextremen entgegen zu stellen. Dieses Verhalten setzt einen Kontrapunkt zu der unfassbaren Hetze im Netz – die hier bereits zitierten Zitate sind dabei nur Ausschnitte einer Flut von Kommentaren, die Fassungslosigkeit auslösen: Der in Worte gefasste Hass ist nur schwer erträglich.

Dabei sollte einen diese Form der Hetze kaum noch überraschen: Zu bekannt ist das Muster, nachdem Rechtsextreme schreckliche Taten für ihre Zwecke instrumentalisieren. Nicht anders passiert es bei ihren Kampagnen gegen Kindesmissbrauch – regelmäßig geht etwa die NPD mit ihrer populistischen Forderung nach der „Todesstrafe für Kinderschänder“ auf Stimmenfang. Auch hier wird ein hoch emotionales Thema benutzt, um spätestens im zweiten Schritt rassistische Botschaften zu verbreiten. Die Grundtaktik ist in allen Fällen gleich: Rechtsextreme bieten vermeintlich einfache Antworten auf komplexe Fragen. Tatsächlich ist die Bereitschaft, diese einfachen Antworten zu akzeptieren, nach schrecklichen  Taten wie Kindesmissbrauch oder dem Tod von Daniel S. anscheinen groß. Nicht anders lässt sich die breite Zustimmung zu entsprechenden rechtsextremen Online-Kampagnen erklären. Auch im Fall von Daniel S. klickten anscheinend viele Userinnen und User auf „Gefällt mir“ unter Postings, deren rassistischer Kern mehr als offensichtlich war. Umso wichtiger ist es, den Hetzkampagnen einen besonnenen Kontrapunkt entgegen zu setzen und nicht in die hysterische Stimmungsmache miteinzusteigen – on- wie offline.

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