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Gedenkstätten Das schwierige Opfergedenken in Kriegszeiten

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Skultpur "Der sterbende Häftling" von Françoise Salmon auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Neuengamme in Hamburg. (Quelle: Denis Simonet / Flickr.com / CC BY 2.0)

Marco Kühnert studierte Geschichte, Politik und Philosophie an der Universität Hamburg. Er begleitete Anfang 2004 zahlreiche Gruppen museumspädagogisch durch die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ und wurde im Anschluss freier Mitarbeiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme in Hamburg. Er entwickelte dort u.a. Projekte und Studientage zum Schicksal sowjetischer Kriegsgefangener und führt Veranstaltungen in den Bereichen Jugendpädagogik und Erwachsenenbildung durch. Im Juni und im Oktober 2021 sprach er in der Gedenkstätte Lager Sandbostel zum Thema: „Die ‚Russen‘ in den Konzentrationslagern = ‚Sowjetische‘ KZ-Häftlinge?“

Mit ihm sprach Rosa Fava, Leiterin der ju:an-Praxisstelle antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit der Amadeu Antonio Stiftung.

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat für einige Zeit das Politische der so genannten Erinnerungskultur an die Oberfläche gebracht: Zum 8. und 9. Mai gab es viele Befürchtungen, das Gedenken an die Opfer des Zweiten Weltkriegs würde vor allem von russischen Nationalist:innen „instrumentalisiert“ werden und es könnte zu gewalttägigen Aktionen kommen. Erinnern und Gedenken ist aber immer mit aktuellen Sinngebungen verbunden, und das wurde schon früh deutlich: Mitte April war die KZ-Gedenkstätte Neuengamme in den Schlagzeilen der Hamburger Medien, weil die ukrainische Generalkonsulin Kritik an der Gestaltung von Gedenkfeiern übte. Worum ging es genau?

Marco Kühnert: Es ging um die Teilnahme von russischen, ukrainischen und belarussischen Personen, die allesamt keine staatlichen Repräsentant:innen sind, an den Gedenkfeiern zum Kriegsende in Hamburg am 3. Mai. Bei diesen handelte es sich um Menschen, die teils als Freiwillige in der Gedenkstätte aktiv sind, teils um Leute, die seit Kriegsbeginn im Februar in der russischen/belarussischen Diaspora leben, teils um Angehörige von Häftlingen des KZ Neuengamme. Diese sollten bei den Feiern sprechen, und es war von vornherein klar, dass alle sich deutlich gegen den russischen Angriffskrieg aussprechen würden. Die ukrainische Generalkonsulin in Hamburg, Iryna Tybinka, hat den Weg eines öffentlichen Statements gewählt, um sich gegen das gemeinsame Gedenken auszusprechen. Sie war wohl in Sorge, es sei zu „versöhnlerisch“ ausgerichtet.

Die Sprecherin der Gedenkstätte hat sich ebenfalls öffentlich geäußert, was nicht nur von Hamburger Medien, sondern unter anderem auch in der FAZ thematisiert wurde. Sie hat darauf hingewiesen, dass der Programmpunkt inhaltlich solide vorstrukturiert sei und niemand vorhabe, eine unangebrachte „Versöhnungsgeste“ daraus zu machen. Dies hat der Generalkonsulin nicht ausgereicht, die den Besuch abgesagt und einen subalternen Vertreter gesandt hat. Die geplanten Ansprachen wurden letztlich lediglich verlesen.

Generalkonsulin Iryna Tybinka hat auch eine alte Frage wieder aufgegriffen, nämlich die nach der Errichtung eines eigenständigen Denkmals für die KZ-Opfer aus der Ukraine. Bislang wird, bei vielen Differenzierungen in der Ausstellung, am Internationalen Mahnmal von 1965 der Opfer der Sowjetunion mit einem Gedenkstein gedacht. In den Medien wurde dabei fälschlicherweise die ukrainische als größte Häftlingsgruppe in Neuengamme bezeichnet; dies waren aber die polnischen Gefangenen. Die Ukrainer:innen waren die größte Gruppe innerhalb der der sowjetischen Häftlinge. Deren genaue Herkunft ist nicht einfach zu bestimmen; die SS hat alle gleichermaßen mit einem „R“ wie „Russisch“ gekennzeichnet. Es werden wohl etwa 12.000 Ukrainer:innen und 11.000 Russ:innen gewesen sein.

 Wie bewertest du selbst die Ausrichtung der Feiern, die Intervention der Generalkonsulin und die Reaktion der Gedenkstätte?

Die Ausrichtung der Feiern war gar nicht viel anders als sonst: Gedenkreden, Kranzniederlegungen, das „Moorsoldaten“-Lied, Zeitzeugeninterviews; wobei viele ehemalige Häftlinge auch aus Russland und der Ukraine wegen Krankheit und hohen Alters nicht mehr kommen können. Das einzige, was anders war, war, dass auch die KZ-Gedenkstätte Neuengamme wie viele andere staatliche Repräsentant:innen aus Russland und Belarus explizit als „nicht willkommen“ erklärt hat. Oft war bislang etwa das russische Generalkonsulat anwesend; dass eine belarussische diplomatische Vertretung jemals gekommen wäre, kann ich jedoch nicht erinnern. Das kann daran liegen, dass nach unserer Kenntnis die Zahl belarussischer Häftlinge im KZ Neuengamme im niedrigen zweistelligen Bereich lag. Die Gedenkstätte hat, wie andere auch, explizit betont, dass der russischen Opfer des Lagers selbstverständlich gedacht wird und dass russische Personen, seien es Überlebende, Angehörige, andere Menschen russischer Herkunft, wie immer willkommen sind. In Hamburg sind Menschen aus Russland eine der größten migrantischen Gruppen.

Ich war schon überrascht, dass die Generalkonsulin diesen Menschen eine Art Sprechverbot auferlegen wollte. Dass sie nicht zufrieden war, als geklärt war, dass es nicht um „Versöhnungskitsch“ gehen würde. Aus meiner Sicht war es von vornherein falsch, den Weg über die Öffentlichkeit zu gehen und nicht beim Stiftungsvorstand oder der Gedenkstättenleitung direkt anzufragen, was genau geplant sei. Ich verstehe das so, dass es ihr auch um die mediale Öffentlichkeit ging.

Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar herrscht sicherlich große Unruhe im Feld der Arbeit an KZ-Gedenkstätten: Die Vorbereitungen für die Feiern zu Befreiung, Kriegsende und Beendigung des Holocaust durch die Alliierten waren im Gange, der Überfall veränderte die Situation, und es musste umgedacht werden. Wie hast du diese Zeit erlebt?

Der größte Diskussionspunkt war durchaus die Ausladung der staatlichen Repräsentant:innen Russlands und aus Belarus. Die Beiträge waren für mich dabei so überraschend wie in anderen Themenfeldern rund um den Krieg. Leute, die lange ganz grundsätzlich kritisiert hatten, dass überhaupt staatliche Repräsentant:innen eingeladen sind, sahen nun in der Nichteinladung ein falsches Signal in Bezug auf mangelnde Diplomatie- bzw. Friedensbereitschaft. Einige sahen auch eine gefährliche Nähe zum „Russophobie“-Diskurs, auch wenn das kein expliziter Vorwurf war. Andere fanden das Vorgehen von vornherein richtig. Einige sagten, man solle sich raushalten, andere, man könne sich gar nicht raushalten. Gedenkstätten werden, so eine Argumentation, schon lange nicht mehr als Orte antifaschistischen, mithin irgendwie linken, Widerstands wahrgenommen, sondern als politische Player. Dies galt auch für die Gedenkstätten für die Opfer der Euthanasiemorde während der Corona-Pandemie: Schon früh gab es sozialdarwinistische Positionen, die das Sterbenlassen oder letztlich Sterbenmachen von Kranken und Alten befürworteten; dem stellten sich die T4-Gedenkorte explizit entgegen. Hier lag eine öffentliche Positionierung vermutlich sachlich näher.

Als Mitarbeiter:in einer Gedenkstätte erlebte man im Frühjahr binnen kurzem die dritte Krise: Zunächst das kontinuierliche Erstarken der AfD und damit der von dieser Partei erzeugte oder gestärkte Druck, wieder Stolz auf Wehrmacht und deutsches Soldatentum zu äußern. Dann die Pandemie, die zum einen die eh schon prekär Arbeitenden in der Substanz getroffen hat und zum anderen eine lange Unterbrechung der historisch-politischen Bildungsarbeit bedeutete. Nicht zuletzt war es belastend, viele Überlebende nun an Covid-19 sterben zu sehen. Als nun gerade die Hoffnung aufkam, dass die Pandemie in den Griff zu kriegen sei, ereignete sich der Angriffskrieg.

Das alles war und ist emotional belastend: Zwei Nachfolgestaaten eines von Deutschland nicht nur angegriffenen, sondern mit einem rassistischen Vernichtungskrieg ohne Gleichen überzogenen Landes, das neben Polen auch die höchste Zahl an Holocaustopfern aufweist, befinden sich nun im Krieg gegeneinander. Rotarmisten sind nicht nur millionenfach gefallen, sondern wurden – ebenfalls millionenfach – in Gefangenschaft ermordet. Das ist zunächst verstörend. Auch wenn man sich differenziert mit allem befasst, gibt es parallel doch auch eine gewisse gefühlte Dichotomie: Nazideutschland hat die Sowjetunion überfallen, damit sind die Täter-/Opfer-/Widerstandsrollen klar verteilt. Sind sie natürlich nicht, es gab beispielsweise die Kollaboration in den sowjetischen Teilrepubliken und das Gegeneinander der politischen Kräfte in der Sowjetunion. Es war für mich zunächst schwierig, mich selbst darin zu finden und zu positionieren, einen emotionalen Anker zu finden. Natürlich jenseits der klaren Position in Bezug auf den russischen Angriffskrieg.

Sehr viele Menschen, die an NS-Gedenkstätten oder zu ähnlichen Themen arbeiten, haben eine besondere Beziehung zum postsowjetischen Raum, auch wenn sie selbst gar keine familiären Bezüge dorthin haben. Du hast dich zudem mit osteuropäischer Geschichte befasst. Ist dieses Geschichtswissen hilfreich, um sich aktuell zu orientieren, oder verstellt die „Last der Vergangenheit“ den Blick, weil es im Augenblick eher auf geopolitische und militärische Logik ankommt?

Im Studium hatte ich früh den Themenschwerpunkt osteuropäische Zeitgeschichte und habe mich intensiv mit der deutschen Besatzung beschäftigt. Ich habe in der Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ gearbeitet, bevor ich in der Gedenkstätte angefangen habe. Leningrad kam bei mir vor Neuengamme, das heißt die Auseinandersetzung mit dem Vernichtungskrieg lange vor der Beschäftigung mit dem System der Konzentrations- und Vernichtungslager.

Dann habe ich durch die Arbeit in Neuengamme sehr viele Kontakte zu Überlebenden und Angehörigen aus Osteuropa – aus Polen, aber eben auch aus Russland und der Ukraine gewonnen. Bisher hatte das historische Wissen mir nicht den Blick verstellt, sondern die Augen geöffnet. Ich musste mich immer schon damit auseinandersetzen, warum manche Gruppen von Überlebenden mit anderen nur wenig oder nichts zu tun haben wollten und was die unterschiedlichen Geschichtspolitiken und Erinnerungskulturen in unterschiedlichen Ländern und verschiedenen Häftlingsverbänden sind. Es gibt aus deutscher Sicht eine gewisse, schon genannte Dichotomie; aus beispielsweise polnischer Sicht gibt es eine andere Dichotomie als Land, das von zwei imperialistischen Mächten zerstört wurde. Nicht selten dabei unter Ausblendung der Geschichte der Kollaboration der eigenen Landsleute.

Weiter war für mich immer die Konfrontation mit Antisemitismus von Überlebenden ein Thema. Jetzt aber sind historisches Wissen und Verständnis nicht unbedingt hilfreich, weil es, wie du sagst, gerade auf andere Dinge ankommt. Geopolitik ist natürlich Thema im Kontext des Nationalsozialismus, natürlich auch das Militärische. Ein Stichwort ist „verbrecherische Befehle“, eine Kriegsführung, die auf dem Mord an Zivilist:innen und Gefangenen basiert. Ein anderes ist die Unterordnung militärischer Logik unter die ideologischen Ziele der Vernichtung des Judentums, etwa wenn militärische Infrastruktur nicht für den Nachschub von Ressourcen an die Front genutzt wurde, sondern zum Transport in Vernichtungslager. Dies lässt sich gerade nicht einfach auf heute übertragen, und mir fehlt da die Expertise. Und ich bin eher erstaunt, wie viele Menschen um mich herum plötzlich die bisher wohl verheimlichte geopolitische und militärstrategische Expertise herausholen können.

Zurück zu den tagesaktuellen Dilemmata. Die erste Gedenkstätte, von der ich gehört habe, dass sie die offiziellen Vertreter:innen Russlands und von Belarus nicht einlädt und für nicht willkommen erklärt, war Sandbostel. Was war Sandbostel, wer waren die Opfer und welche Kontakte gibt es zu Überlebenden aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion?

Das Dorf Sandbostel liegt bei Bremervörde im nördlichen Niedersachsen. Ab 1939 entstand hier das zunächst einzige Kriegsgefangenenlager im Wehrkreis X, also Schleswig-Holstein, Hamburg, Nordniedersachsen, Bremen; zwischen 1941 und 1945 waren die meisten Gefangenen, etwa 70.000, sowjetische Soldaten. Wie in allen Lagern für sowjetische Kriegsgefangene war die Todesrate sehr hoch, die genaue Zahl lässt sich nicht bestimmen; allerdings starben zwischen Herbst 1941 und Frühjahr 1942 bereits etwa ein Drittel der ersten 20.000 sowjetischen Kriegsgefangenen. Alle ausschließlich von der Wehrmacht geführten Gefangenenlager für Rotarmisten waren faktisch Todeslager, was absolute und relative Zahlen betrifft. Die Todesrate war höher als in den Konzentrationslagern, also nicht den Vernichtungslagern. Wie bei anderen Gedenkstätten auch, gibt es Kontakte zu Überlebenden nur noch punktuell, aber viele Angehörige aus Russland und der Ukraine bzw. mit eigener oder familiärer Einwanderungsgeschichte aus beiden Ländern sind nach wie vor da und aktiv.

Was war die Begründung für das Nichteinladen von offiziellen Vertreter:innen bzw. das „für nicht willkommen“ Erklären?

Es ging meines Erachtens darum, dass man es Überlebenden und Angehörigen, aber auch überhaupt Menschen aus der Ukraine nicht zumuten konnte, das Gedenken am 29. April, dem Jahrestag der Befreiung Sandbostels, in Anwesenheit staatlicher Vertreter Russlands und von Belarus zu vollziehen. Die Gedenkstätte Lager Sandbostel und ihr Leiter Andreas Ehresmann waren am 3. März wohl tatsächlich die ersten, die diese Entscheidung trafen, unter Zustimmung aller Beteiligten und der Belegschaft. Die Erklärung ist übrigens bei aller Eindeutigkeit sehr differenziert (vgl. stiftung-lager-sandbostel.de).

Sandbostel blieb mit dieser Erklärung lange allein, bis allmählich andere Gedenkstätten folgten; zu einer gemeinsamen Erklärung kam es allerdings nicht. Ob und wie eventuell Häftlingsverbände einbezogen waren, kann ich nicht sagen. Dazu muss man wissen, dass überlebende Kriegsgefangene und auch KZ-Häftlinge sich in der Sowjetunion nur in Veteranenverbänden organisieren konnten und die Organisierungsweise sich auch später nicht geändert hat. Von einer freien Meinungsbildung in den Verbänden kann man angesichts der politischen Situation in Russland und Belarus nicht ausgehen.

Wie geht es einem damit, zwischen den Überlebenden eines Lagers, ihren Angehörigen und Nachkommen, je nach Herkunftsland unterscheiden zu müssen, aber auch zwischen den Toten: Die ausländischen Opfer eines Lagers erfahren bei offiziellen Feiern ganz generell Repräsentation durch offizielle staatliche Vertreter:innen. Angesichts der nationalstaatlichen Verfasstheit von Gesellschaften ist das die Form, wie die Einzelnen gewürdigt werden. Wie erfahren die Opfer aus Russland und Belarus ein würdiges Gedenken, wenn ihre Repräsentant:innen nicht erwünscht sind?

Ich bin froh, dass ich selbst in keiner offiziellen Position bin, in der ich solche Entscheidungen treffen und solche Differenzierungen vornehmen muss. Dabei war es für mich immer schon sehr schwierig und anstrengend, angesichts der vielen Widersprüche und auch Konflikte zwischen den vielen unterschiedlichen Häftlingsverbänden und Überlebendeninteressen nicht mit hineingezogen zu werden. Alle Konflikte oder Positionen sind legitim und haben ihre jeweiligen materiellen Grundlagen. Überlebende eines Lagers waren immer so heterogen, wie es eben auch die Gründe ihrer Verfolgung und Deportation waren.

Das Konzept einer kollektiven und dann natürlich nationalstaatlichen Repräsentation ist halt selbst ein Problem. Dazu gehört auch die Würdigung durch deutsche staatliche Vertreter:innen bei offiziellen Feiern. Überlebende haben lange dafür gekämpft, dass sie Würdigung und Anerkennung als Opfer der nationalsozialistischen deutschen Staatsgewalt erfahren; es war für viele derjenigen, die das erleben konnten und können, eine viel zu späte Genugtuung. Die Menschen aus dem aktivistischen Feld, meist Angehörige der Täter:innen und Zuschauer:innen, wollten immer gerne auf staatliche Feiern verzichten, je linker der Kontext umso mehr. Aber das berechtigte Interesse an offizieller Würdigung ging vor. Was ich nie erlebt habe, bei aller Animosität zwischen Verbänden, ist, dass jemand gesagt hätte ‚Das wollen wir aber nicht, dass der oder die Generalkonsul:in aus Land X oder Y kommt‘. Insofern liegt nun eine neue Situation vor. Das ist einerseits berechtigt; es kann aber auch ein Dammbruch sein, das Gedenken an die NS-Verbrechen auch im Kontext von Feiern komplett der Tagespolitik zu unterwerfen. So gibt es zum Beispiel eine erste Beschwerde gegenüber einer anderen Gedenkstätte, weil der türkische Generalkonsul einen Kranz niederlegte. Aus yezidischen Communities wurde Unverständnis darüber geäußert, dass einem Vertreter der Türkei – die aktuell einen Angriffskrieg gegen Kurd:innen führt – erlaubt ist, was Russland verboten ist. In den 1990er Jahren, während der Kriege in Jugoslawien, gab es solche Auseinandersetzungen noch nicht, weil die heutigen Formen von Erinnerungskultur, jedenfalls in Hamburg, gerade erst entstanden.

In diesem Kontext muss natürlich der „Schlagabtausch“, wie es manchmal heißt, zwischen Harald Welzer und dem ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk bei Anne Will zur Sprache kommen: Der Soziologe und Publizist Welzer, dessen Arbeiten zum sozialpsychologischen Umgang mit den NS-Verbrechen in Deutschland fachlich sehr bedeutend sind, gehört zu denjenigen, die den Offenen Brief der Emma-Redaktion an Kanzler Olaf Scholz unterzeichnet haben. Darin wird gefordert, keine schweren Waffen an die Ukraine zu liefern. In der Diskussionsrunde am 8. Mai nun geschah in wenigen Minuten in Ton, Gestik, Mimik und Worten ein Übergriff Welzers auf Melnyk: Inhaltlich zentral ist dabei die Aussage Welzers, viele derjenigen, die sich gegen Waffenlieferungen aussprechen würden, täten dies aus ihrer über Generationen tradierten Erfahrung von Kriegsgewalt heraus. Diese Erfahrung berechtige die Deutschen dazu, den Ukrainer:innen die Mittel für eine angeblich dadurch aktiv betriebene Kriegsverlängerung zu verweigern. Dies sagte Welzer dem Repräsentanten einer Nation, deren Angehörige durch die Deutschen in eben dem gemeinten Krieg Massenmord, Unterwerfung und Ausbeutung ausgesetzt waren. Melnyk hat in Vielem eine problematische Haltung, aber das ist nicht Welzers Punkt. Er konstruiert Deutsche als Opfer von Kriegsgewalt und unterstellt der Ukraine implizit Kriegstreiberei, eigentlich eine Täter-Opfer-Umkehr. Dabei erinnerte sein Gebaren im gegebenen Kontext an das alte Herrenmenschentum gegenüber Osteuropäer:innen. Wie kann es zu so einem Verhalten kommen?

Ich bin kein Psychologe, nur Historiker. Ich fand die Kritik Meron Mendels ganz treffend und würde mich der wohl anschließen (vgl. ZEIT): Welzer betreibe eine Viktimisierung der Deutschen bzw. Gleichmacherei von Opferschaft. Leider gibt es wenig Reaktionen auf die herablassende Reaktion Welzers Richtung Mendel, auch er sei in jüngeren Jahren „meinungsstark“ gewesen und habe „Argumente überdehnt“.

Was mich vielmehr umtreibt, ist, dass ein kluger Mensch wie Welzer nicht beachtet, wer Melnyk ist. Dabei meine ich nicht Melnyk als Repräsentant einer Bevölkerung, die ab 1941 einem Vernichtungsfeldzug und Ernährungskrieg durch Deutsche ausgesetzt war, sondern als jemanden, der sich in seinem hohen diplomatischen Amt von Anfang an ganz offen als Nazifreund geriert. Das ist mehr als problematisch, das ist sehr schlimm. Melnyk ist seit Januar 2015 Botschafter und hat in dieser Funktion im April 2015 Blumen am Grab Stepan Banderas in München niedergelegt und diese Aktion öffentlichkeitswirksam getwittert. Die Bundesregierung reagierte darauf zwar für diplomatische Verhältnisse relativ deutlich, aber das hat damals kein Interesse hervorgerufen. Stepan Bandera und die OUN (Organisation Ukrainischer Nationalisten) bzw. die von ihr aufgestellte UPA (Ukrainische Aufständische Armee) kollaborierten zeitweise mit den Deutschen und waren verantwortlich für zahllose Morde an Juden:Jüdinnen, getragen von derselben antisemitischen Ideologie wie die der Deutschen, auch an Pol:innen, Ungar:innen, Rom:nja und anderen. Ein Harald Welzer hätte diese Dinge zum Thema machen müssen, anstatt sich der Lächerlichkeit preiszugeben. Solches Vorgehen erschwert es erneut, Melnyk als Naziverehrer zu kritisieren.

 Vor Kurzem wurden der 8. und von einigen auch der 9. Mai begangen. Wegen der Zeitverschiebung zwischen Berlin und Moskau wurde die deutsche Kapitulation an unterschiedlichen Daten wirksam. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine werden Denkmäler für die sowjetischen Soldat:innen angegriffen, lange schwelende Debatten um den Abriss flackern neu auf. NS-Gedenkstätten gehen schon lange mit dem unauflöslichen Widerspruch um, dass es Menschen aus einem verbrecherischen System waren, die unter massiven kollektiven Opfern die Befreiung vom Nationalsozialismus erkämpften, und dass die Menschen in der DDR unter dem sowjetischen Imperium lebten und diejenigen in der BRD in Gegnerschaft dazu. Was ist mit Blick auf sowjetische Ehrenmale, aber auch auf all die angesprochenen Widersprüche und Verwerfungen die Aufgabe von Geschichtsvermittlung und Bildungsarbeit?

Zunächst gilt die Binsenweisheit, dass Denk- und Mahnmale, Gedenkstätten usw. mehr über die Zeit ihrer Entstehung aussagen als über die Zeit, auf die sie sich beziehen. Das gilt genauso für jede Form von Vandalismus, Stürzen oder den institutionalisierten Abriss. Am 9. Mai sind in vielen norddeutschen NS-Gedenkstätten Kränze mit Schleifen der Russländischen Föderation oder des Russischen Generalkonsulats Hamburg aufgetaucht. Darauf wiederum haben andere reagiert und beispielsweise Schleifen abgeschnitten. Die Gedenkstätten haben diese Kränze zusammen mit den verwelkten Kränzen der Gedenkfeiern diskret entsorgt – eine verständliche Vorgehensweise.

Du sagst, wir gehen lange mit den Widersprüchen um, das aber sehr unterschiedlich. Zum Beispiel war es nicht immer schon üblich, das Schicksal sowjetischer Überlebender nach ihrer Repatriierung zu thematisieren. Das Durchleuchtet-Werden, die Verhöre, oft auch eine Internierung im Gulag tauchen bei der Präsentation von Lebensläufen seit einigen Jahren zunehmend auf. Ähnlich wie Zwangsarbeiter:innen galten gefangene Soldat:innen überhaupt nicht als Held:innen, sondern als potenzielle Kollaborateur:innen. Was mir fehlt, weil es sonst nur von den falschen Leuten im falschen Kontext thematisiert wird, ist die Thematisierung der inneren Verfasstheit der Roten Armee unter Stalin. Dazu gehört das komplett rücksichtslose Opfern von Menschen im Abwehrkrieg gegen Nazi-Deutschland, die mangelhafte und kurze Ausbildung von Arbeiter:innen und Bäuer:innen, bis hin zu deren Einsatz als menschliche „Minenfinder“. Es waren diese schieren Menschenmassen, die als Waffe eingesetzt wurden und deren Opfer den Sieg über Deutschland ermöglichte.

In diesem Ausmaß funktionierte das nur wegen der spezifischen Verfasstheit von stalinistischem Staat und Armee, die über die ja immer Zwang ausübende Formierung solcher Institutionen hinausging. In dem in bestimmten Kreisen eingeschliffenen „Danke für die Befreiung“ am 8. und 9. Mai geht die Kritik oft unter. Ein Bewusstsein dafür zu schaffen ist ein Auftrag an Bildung, wenn auch nicht unbedingt an den Orten der NS-Verbrechen selbst. Dann würde wieder alles zu einem Einheitsbrei nach dem Motto ‚Krieg ist immer schlimm, totalitäre Systeme sind immer schlimm‘. Bei der konkreten Auseinandersetzung muss das aber eine Rolle spielen, nur dann behalten Denk- und Ehrenmale für Rotarmist:innen eine aufklärerische Funktion.

Gibt es einen Punkt, der dir noch wichtig ist?

Es ist im Moment fast selbstverständlich geworden, in der Berichterstattung hierzulande Begriffe wie Kriegsverbrechen, Vernichtungskrieg, Verbrechen gegen die Menschheit, Genozid, etc. zu verwenden, als wären das selbstverständlich treffende, die Realitäten korrekt bezeichnende Termini. Insbesondere, wenn sie von der ukrainischen Seite verwendet werden, werden sie recht kritiklos übernommen. Diese Begriffe sind aber alle spezifisch belegt für mich, und zwar in Abgrenzung zu anderen verbrecherischen und Unrechtshandlungen in Kriegen. Muss es immer gleich ein „Vernichtungskrieg“ sein? Bischöfe und Politiker sahen im Westjordanland und im Gazastreifen immer wieder einen Vernichtungskrieg vor sich gehen, im Jugoslawien Milosevićs sowieso und wo auch immer.

Beim Begriff „Kriegsverbrechen“ ist die Sache definitorisch etwas einfacher. Bei „Genozid“ ist das schon anders, da es international stark variierende juristische Definitionen dafür gibt, und eine Menge politische Unschärfen bei der Frage, was das denn eigentlich sein soll. Als Beispiel Mariupol, das belagerte Stahlwerk in der ukrainischen Hafenstadt, das als Beleg für einen Vernichtungskrieg gilt. Ich behaupte mal, dass es eher nicht Praxis der Deutschen war, Zivilist:innen an internationale Organisationen zu übergeben, auch wenn dann noch aggressivere Angriffe erfolgen. Nazi-Praxis war es, Menschen einzuschließen, das Gebäude anzuzünden und mit Maschinenpistolen auf diejenigen zu schießen, die irgendwie rauskamen. Diese beständige Analogisierung mit der deutschen Kriegsführung ist ein Problem, aber es scheint mir schwierig, da momentan rauszukommen. Der russische Krieg, die Verbrechen und das Unrecht sind schlimm genug.

 

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