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Hanau Polizeiversagen von zivilgesellschaftlicher Initiative aufgedeckt

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Auf einer Gedenkveranstaltung fordern Protestierende Aufklärung und Konsequenzen.
Auf einer Gedenkveranstaltung fordern Protestierende Aufklärung und Konsequenzen. (Quelle: Leonhard Lenz / CC0 1.0 / Wikimedia Commons)

Über zwei Jahre nach dem rechtsterroristischen Anschlag von Hanau kamen vergangene Woche neue Erkenntnisse über den Polizeieinsatz in der Tatnacht ans Licht. Das britische Recherchekollektiv Forensic Architecture enthüllt im Rahmen der Ausstellung „Three Doors” im Frankfurter Kunstverein grobe Fehler in der Polizeiarbeit und wirft den Sicherheitsbehörden entsprechend gravierende Versäumnisse vor. „Das Fiasko von Hanau“ titelte die Frankfurter Rundschau wohl zutreffend angesichts der jüngsten Erkenntnis, dass das Haus des Täters nicht ausreichend bewacht oder umzingelt war, obwohl der Polizei zu dem Zeitpunkt bereits bekannt war, dass sich der Attentäter in dem Haus befand. 

In der Nacht des 19. Februar 2020 ermordete ein 43-Jähriger Hanauer neun Personen: Gökan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Innerhalb zwölf Minuten erschoss der Rechtsterrorist an mehreren Tatorten neun Menschen, die er nach augenscheinlichem Migrationshintergrund auswählte. Der Täter handelte sowohl bei der Auswahl der Tatorte, als auch während des Tatverlaufs planvoll und strategisch. Der rassistische und rechtsterroristische Anschlag wurde von ihm über Jahre geplant und vorbereitet. Mindestens fünf weitere Menschen wurden durch die über 50 abgefeuerten Schüsse verletzt. Der Attentäter flüchtete nachhause, erschoss dort zuerst seine Mutter und dann sich selbst.

Das Gutachten der Gruppe um Forensic Architecture stellt Rechercheergebnisse der Tatnacht vor. Unter anderem wurden die Aufzeichnungen eines Polizeihubschraubers und tausende Seiten Ermittlungsakten detailliert untersucht und ausgewertet. Die wohl gravierendste Feststellung: der Attentäter hätte für über einer Stunde die Möglichkeit gehabt, das Haus, unbemerkt von der anwesenden Polizei, zu verlassen, um zu fliehen oder seine grausame Tat fortzusetzen. Denn obwohl drei Polizeieinheiten damit beauftragt ware das Haus und mögliche Fluchtwege zu sichern, waren diese teilweise mangelhaft positioniert oder haben ihren Standpunkt verlassen. In dem Zeitraum zwischen 23:21 Uhr und 0:25 Uhr wurden weder die Haus-, noch die Hintertür zum Garten von Beamt:innen beobachtet.

Die Auswertungen der Funkaufnahmen zeigen außerdem, wie unkoordiniert und chaotisch die Kommunikation zwischen den Einsatzkräften ablief: „Sie haben es nicht geschafft, wichtigste Informationen zum Einsatz und der Ermittlung intern weiterzugeben“, kritisiert Bob Trafford, Projektleiter der Forschungsagentur Forensic Architecture in der hessenschau. Zwar kreiste ein Helikopter der Polizei über dem Stadtteil, doch den Piloten wurde nie die genaue Adresse des Hauses mitgeteilt, in dem sich der Attentäter befand. 

Ein weiterer Vorwurf wird gegenüber dem SEK formuliert. Denn laut Gutachten hätte das SEK deutlich früher agieren müssen. Nachdem die Polizei ab etwa 23 Uhr vor Ort war, wurde das Haus des Täters erst um drei Uhr morgens gestürmt. Zu diesem Zeitpunkt sind seine Mutter und der Rechtsterrorist längst tot. Nach Angaben der Polizei konnten die Beamt:innen vor Ort die dazugehörigen Schüsse nicht hören. Ein von Forensic Architecture durchgeführtes Schallexperiment widerlegt diese Aussagen jedoch. Die Forscher:innen stellten fest, dass die Schüsse mit einer Lautstärke von etwa 100 Dezibel rund um das Haus deutlich hörbar gewesen sein müssen. Darüber hinaus stellt das Gutachten des Rechercheteams die Glaubwürdigkeit der Aussagen des Vaters des Täters in Frage. Dieser hatte angegeben, von den Morden im eigenen Haus nichts mitbekommen zu haben.

Die neusten Erkenntnisse reihen sich in eine bittere Liste der Versäumnisse ein. Kritische Stimmen wurden bereits in der Vergangenheit laut, als öffentlich wurde, dass der lokale Notruf zum Tatzeitpunkt für viele Menschen, darunter Mordopfer Vili Viorel Păun, auch nach mehreren Versuchen nicht erreichbar war. Die Apparate waren in der Terrornacht nicht durchgängig besetzt und es gab keine Rufumleitung zu einer Leitstelle. Darüber hinaus sorgte die Tatsache, dass der Notausgang der „Arena Bar“ zur Tatzeit verriegelt war, für Entsetzen. Said Nesar Hasehemi und Hamza Kurtović wurden in der „Arena Bar“ von dem Attentäter ermordet. Mehrere Zeug:innenaussagen belegen, dass den Anwesenden eine Flucht durch den Notausgang unmöglich war. Ermittlungen zu diesem Umstand wurden von der Staatsanwaltschaft Hanau eingestellt. Im Sommer 2021 wächst die Liste der Skandale rund um den Anschlag von Hanau erneut. Wie auch Belltower.News berichtete, wurde eine Einheit des Frankfurter SEK wegen Verdacht auf Rechtsextremismus aufgelöst. In der Nacht des rechtsterroristischen Anschlags waren 13 Polizeibeamte dieses Teams im Einsatz. 

Zwar läuft seit einem halben Jahr der Untersuchungsausschuss zum rassistischen Attentat in Hanau, doch es war eine zivilgesellschaftliche Gruppe, die enorme Arbeit in die Aufklärung der Tat investierte und nun die neuen Erkenntnisse ans Licht brachte. Die Rechercheagentur Forensic Architecture wurde 2011 in London gegründet und setzt sich mittels wissenschaftlicher, technischer und juristischer Methoden mit verschiedensten Vorfällen auseinander. Das Team aus Forschenden aus Berlin und London wurde von Anwält:innen der Opferfamilien beauftragt, die Ermittlungen der Tatnacht zu überprüfen. Die Ergebnisse dieser Recherche lieferten nun einen wichtigen Beitrag zur weiteren Aufklärung der Umstände um den Anschlag. Die Ausstellung im Frankfurter Kunstverein ist noch bis zum 11. September zu sehen.

Die Tatsache, dass die nun aufgedeckten Umstände des Polizeieinsatzes wahrscheinlich nie an die Öffentlichkeit gekommen wären, ist erschreckend und bekräftigt abermals die Notwendigkeit des zivilgesellschaftliches Engagements und seine entscheidende Rolle für eine umfassende Aufklärung und Aufarbeitung. 

 

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