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Interview „Mehr Alltagsdemokratie wagen“

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Prof. Dr. Roland Roth. Foto: privat.

Mut: Ihr Buch „Bürgermacht“ erschien kurz nach den Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern. Die Wahlbeteiligung lag bei historisch niedrigen 51,1 Prozent. Hat das etwas mit der ländlichen Struktur des Flächenlandes Mecklenburg-Vorpommern zu tun?

Roth: Es ist so, dass die Wahlbeteiligung in Ostdeutschland in der Regel niedriger ist. Es gab sogar Kommunalwahlen in Sachsen-Anhalt mit einer Beteiligung von unter 40 Prozent. Das liegt daran, dass die üblichen politischen Strukturen, besonders die Parteien, nicht so verankert sind. Die Linkspartei bildet regional eine Ausnahme, hat aber auch Probleme mit fehlendem Nachwuchs. In dieser Situation können Rechtsextreme besser punkten. Wählerinnen und Wähler lassen sich viel leichter rüberziehen. Das zeigte sich an dem Wahlergebnis der DVU 1998 in Sachsen-Anhalt, als sie bei den unter 30-Jährigen stärkste Partei werden konnte. Was nicht heißt, dass diese Parteien dann in ihrer parlamentarischen Arbeit überzeugen. Doch dieses Phänomen lässt sich nicht nur auf Ostdeutschland beschränken. Die Wahlbeteiligung ist seit den 1970er Jahren auch im Westenrückläufig. Auch die Volksparteien repräsentieren nur noch kleiner werdende  Teile der Bevölkerung. Ihr Mitgliederschwund wird nicht durch neue kleinere Parteien aufgefangen. Insgesamt hat die Strahlkraft der repräsentativen Strukturen nachgelassen – sie sind nicht mehr so attraktiv wie vor einigen Jahrzehnten. Aber das demokratische politische Engagement ist nicht rückläufig, sondern es hat sich – so meine These – nur verlagert. In Ost- und Westdeutschland geht es um mehr direkte Beteiligung, in Bürgerinitiativen, Bürgerentscheiden und ähnliches.

Sie schreiben in ihrem Buch auch, dass die Regierungspraxis Tendenzen einer autoritären Staatlichkeit aufweist, was sich zum Beispiel durch die „Demokratieerklärung“ äußere. Sind das zwei Seiten einer Medaille?

So ist es. Parteien sollen der Idee nach für die  Willensbildung von unten nach oben sorgen und sind laut Grundgesetz der innerparteilichen Demokratie verpflichtet. Wer heute in eine Partei eintritt macht häufig die Erfahrung, dass kleine Führungsgruppen von oben nach unten bestimmen. Parteien wirken heute als Verstärker für kleine Führungseliten. Beispielhaft dafür war die mediale Begeisterung für die „Basta-Politik“ von Gerhard Schröder. Von den Medien wurde er bewundert, weil  er seine Politikvorstellungen gegen Mehrheiten in der eigenen Partei und in der Gesellschaft durchsetzen konnte. Ich beziehe mich deshalb auch häufig auf Colin Crouchs Begriff der „Postdemokratie“. Für sie ist unter anderem kennzeichnend, dass wichtige Entscheidungen nicht demokratisch, sondern von einflussreichen Zirkeln in Hinterzimmern ausgehandelt werden. Der Umgang mit der aktuellen Finanz- und Schuldenkrise belegt diese Tendenz eindrucksvoll. So musste bei uns selbst die Parlamentsbeteiligung vor dem Bundesverfassungsgericht eingeklagt werden. Wenn ein  griechischer Ministerpräsident auch noch auf die Idee kommt, das Volk selbst über die radikalen Sparauflagen abstimmen zu lassen, geht ein Aufschrei durch die politische Landschaft und er muss abtreten. Generell werden immer wieder Entscheidungszwänge suggeriert, die dann nur noch exekutiert werden können, anstatt einmal über diese vermeintlichen Zwänge – etwa durch die Finanzmärkte – selbst öffentlich zu diskutieren und abzustimmen. Aber auch der politische Normalbetrieb funktioniert einfach nicht mehr überzeugend. Wir erleben einen demokratischen Substanzverlust, der Wasser auf die Mühlen von rechtspopulistischen Gruppierungen liefert. Ihr Argument: „Seht Ihr, eigentlich haben wir keine Demokratie und Ihr habt ja keinen Einfluss.“ Es ist kein Zufall, dass sie aktuell in vielen europäischen Ländern so erfolgreich sind.

Wie kann man sich, gerade auch im ländlichen Raum, dieser Trends erwehren? Vielleicht auch, wenn eine aktive Zivilgesellschaft fehlt? Wie kann man Menschen aktivieren, dagegen vorzugehen?

Die Probleme im ländlichen Raum sind kein Naturereignis, sondern nicht zuletzt die Kehrseite einer Metropolenpolitik bzw. der Orientierung an regionalen Wachstumskernen. Die Verfassungsnorm der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet (Artikel 72) spielt kaum noch eine Rolle. Vielmehr werden wachsende Ungleichheiten in Kauf genommen, um in einigen wenigen Regionen ökonomische Wachstumsimpulse geben zu können. Außerdem es fehlt vor Ort oft an politischen Akteuren, die dagegen halten. Das liegt auch an der DDR-Geschichte. Die eigensinnige bürgerschaftliche Beteiligung galt als bourgeois und wurde in Nischen abgedrängt. Die kommunale Ebene wurde früh entmachtet und bekam erst mit den gefälschten Kommunalwahlen neue Aufmerksamkeit. Somit ist bürgerschaftliche Beteiligung weitgehend traditionslos. Nur an wenigen Orten konnten die runden Tische der Wendezeit eine neue Tradition begründen. Da ist es schwer, wieder etwas aufzubauen. Ich habe aber auch meine Zweifel, ob die Landesregierungen daran ein gesteigertes Interesse haben. Ein Beispiel dafür ist die zunächst gescheiterte Kreisgebietsreform in Mecklenburg-Vorpommern. Die neuen Kreise sind nach Verwaltungsrationalität und nicht nach Beteiligungsmöglichkeiten aufgebaut. Sie sind so groß, dass auch Partizipation drastisch erschwert ist. Dies begünstigt folgende Entwicklung: Die Politik wandert ab, kümmert sich nicht und die Ortsbürger machen die Erfahrung, dass sie selbst nichts mehr zu sagen haben. Die regionalen Wahlerfolge der NPD in Mecklenburg-Vorpommern zeigen aber, dass auch in vernachlässigten Regionen Politik gemacht werden kann. Die NPD inszeniert sich zum Beispiel als „Kümmerer“ und baut eine eigene Jugendkultur auf. Warum können die anderen Parteien das nicht? Sicherlich mit anderen Zielen und in anderer Form als die NPD. Die finanziellen Mittel haben sie. Sie müssen aktiv auftreten und Politik machen. Dafür gibt es sicherlich kein Zauberrezept. Dagegen-Sein allein reicht nicht, vielmehr braucht es Perspektiven für die Menschen. Mit den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort muss gemeinsam über die regionale Entwicklung nachgedacht werden. Das wäre ein erster demokratischer Impuls und für den braucht es einen alternativen politischen Raum. Anstatt arrogant zu sagen: „Ok, Ihr seid abgehängt und niemand interessiert sich für Euch. Aber benehmt Euch bitte.“ Zumindest erscheint mir die Stimmung häufig so.

Wie könnte dieser „alternative politische Raum“ aussehen?

Kurz gesagt: Mehr Demokratie wagen. Vor allem mehr Alltagsdemokratie. In der Schule, im Betrieb und in der Kommune. Menschen müssen Selbstgestaltung und Mitwirkung erleben. Das wurde den Menschen in solchen Landstrichen bisher nie zugebilligt. Das Schulsystem ist an vielen Stellen immer noch autoritär, anstatt auf Partizipation zu bauen. Und der einzige Akt der Selbstbestimmung im ländlichen Raum scheint am ehesten noch die Entscheidung zum Umzug in eine große Stadt zu sein. Das Gegenteil von dem, was heute passiert, müsste eigentlich getan werden. Nicht aufgrund sinkender Bevölkerungszahlen Bildungs- und Kultureinrichtungen schließen, sondern umkehrt. Noch mehr aufbauen. Das hört sich utopisch an, aber Politik muss nicht immer trendverstärkend sein.

Wie kann ein zivilgesellschaftlicher Akteur da ansetzen? Vor allem auch ohne das Ressentiment gegen „die da oben“ zu bedienen?

Es gibt ja gemeinsame Interessen vor Ort – gerade auch in der Freizeitgestaltung. So ärgerlich es ist, aber das macht ja auch die NPD. Eine gute Idee sind zum Beispiel Mobilitätsinitiativen. Das ist ja ein zentrales Problem im ländlichen Raum: Wie komme ich mit anderen Menschen zusammen. Das kann man gemeinsam organisieren. Wichtig sind zudem die Jugend- und Musikkultur. Ich erinnere mich an ein altes Bahnhofsgebäude in Sachsen-Anhalt, in dem Jugendliche eigene Proberäume haben und Musik aufnehmen können. Wenn nichts los ist, muss man selbst etwas anfangen. Da hilft es auch nicht, mal eine Band aus der großen Stadt zu holen. Es braucht eine Struktur für die Jugendlichen vor Ort. Angebote müssen entwickelt und dann in sie investiert werden. Das ist sicherlich keine flächendeckende Strategie, aber eine Möglichkeit gegen Ödnis und Langeweile anzukommen. Man muss ein bisschen wie ein Animateur sein und dabei die Bedürfnisse und Fähigkeiten der Menschen vor Ort einbinden. Das darf auch nicht aufgesetzt sein à la jetzt kommt mal wieder jemand aus der Stadt und erklärt, wie es so läuft. Alle Aktivitäten sollten das Vertrauen in die eigene Kraft erhöhen. Und Mangel an leerstehenden Räumen, die sich nutzen lassen, besteht ja nicht. In Kombination mit guter Jugendsozialarbeit kann das langfristig viel bewirken. Einen anderen Weg sehe ich nicht.

Vielen Dank für das Interview!

Das Interview führte Nora Winter.

Roth, Roland: Bürgermacht. Eine Streitschrift für mehr Partizipation. Hamburg (Körber-Stiftung) 2011 (328 S.) 16 € (ISBN 978-3-89684-081-3)

Das Interview ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).

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