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Jahresrückblick 2022 Saarland – Reichsbürger, Piusbrüder und Hammerskins

„Spaziergänger:innen“ in Saarbrücken: Unter den Demonstrierenden sind rechte Kader, viele sind gewaltbereit
„Spaziergänger:innen“ in Saarbrücken: Unter den Demonstrierenden sind rechte Kader, viele sind gewaltbereit (Quelle: Kai Schwerdt/CC BY-NC 2.0)

Mit der Diskussion über die Einführung einer Impfpflicht kam es im Saarland zu einer starken Zunahme an Protesten gegen die Corona-Maßnahmen. Während der Protest zunächst in zahlreichen Städten und Dörfern über das ganze Saarland verteilt war, zentrierte er sich im Laufe des Januars zunehmend auf Saarbrücken. Bis ins Frühjahr 2022 hinein nahmen sonntäglich mehrere tausend Personen an den Demonstrationen in der Landeshauptstadt teil. Die Teilnehmer*innen waren zu diesem Zeitpunkt heterogen. Bürger*innen, die dem Anschein nach weder den Corona-Leugner*innen noch extrem rechten Gruppierungen zuzuordnen waren, dürften den größten Teil der Protestzüge ausgemacht haben. Gleichzeitig schlossen sich rechtsextreme Gruppierungen den Protesten in Saarbrücken an. Zudem fungieren bis heute immer wieder rechtsextreme Personen bei den Aufzügen als Ordner*innen.

Indes konnten Rechtsextreme die Demonstrationen nie im größeren Umfang für sich vereinnahmen und traten im weiteren Jahresverlauf weniger in Erscheinung. Weitaus prominenter nutzen weiterhin die saarländischen Reichsbürger*innen die Demonstrationen als Bühne für ihre Agitation. Die saarländischen Reichsbürger*innen halten das Referendum von 1955 über den Status des Saarlands, in dessen Folge sich das Saarland an die Bundesrepublik Deutschland anschloss, für nichtig. Dementsprechend bestehe das Saarland in ihren Augen juristisch gesehen bis heute als eigenständiger Staat fort. An regelmäßigen Terminen können sich Saarländer*innen von den Reichsbürger*innen einen „saarländischen Pass“ ausstellen lassen.

Schrumpfende Corona-Proteste

Im Zuge der Lockerungen der Corona-Maßnahmen wurden die Proteste kleiner. Bis zum Sommer schwankten die Zahlen zwischen 500 und 1.000 Teilnehmenden. Ein deutlich geringeres Ausmaß hatten die Proteste in der zweiten Jahreshälfte. Selten mehr als 200 bis 300 Personen nahmen weiterhin an den Protesten teil. Auch die Taktung der Proteste, die bis in den Oktober hinein jeden Sonntag stattfanden, nahm im Herbst und Winter ab. Spätestens ab dem Sommer war Corona nur noch ein Thema neben vielen anderen. Die Forderungen reichten von der Öffnung von Nord Stream 2 über Friedensverhandlungen mit Russland und die Senkung der Lebenshaltungskosten bis hin zum Rücktritt der Regierung.

Nach außen hin versucht die Protestbewegung sich als friedlich darzustellen. Die Begriffe Liebe, Freiheit und Frieden sind stetig sowohl auf der Straße als auch in den sozialen Medien präsent. Gleichzeitig werden klare Feindbilder benannt – Politiker*innen, Bill Gates, eine ominöse Elite – die einer verschwörungstheoretischen Rahmenerzählung folgen. Insbesondere in den Telegram-Gruppen lassen sich eine Zunahme von Gewaltfantasien gegen die ernannten Feinde sowie verschwörungsideologische Inhalte inklusive antisemitischer Narrative beobachten.  Zudem werden Beiträge einschlägiger rechtsextremer Gruppierungen geteilt. Auch wenn die Beteiligung an den Demonstrationen seit Beginn des Jahres nachgelassen hat, hat sich eine Kern-Protestgruppe von 100 bis 200 Personen herauskristallisiert, die sich in der Ablehnung des Staats, der Politik, sowie von Medien und Wissenschaft radikalisiert hat.

Die Priesterbruderschaft St. Pius X

Die Priesterbruderschaft St. Pius X – auch als Piusbrüder bekannt – ist eine erzkonservative katholische Priestervereinigung. In der Vergangenheit haben die Piusbrüder immer wieder mit antijudaistischen, antisemitischen und antidemokratischen Aussagen für Aufsehen gesorgt. In Saarbrücken, wo die Piusbrüder eine Schule betreiben, tritt die Bruderschaft regelmäßig mit Gebeten vor dem Verein Pro Familia in Erscheinung. Die Diffamierung des Vereins, der u.a. Beratung für Schwangerschaftsabbrüche anbietet, samt des Rechts auf reproduktive Selbstbestimmung von Frauen findet direkt vor den Türen von Pro Familia statt.

Neben diesen regelmäßigen Gebetsveranstaltungen ist die Piusbrüderschaft maßgeblich an dem jährlich in Saarbrücken stattfindenden „Marsch für das Leben“ beteiligt. Nachdem dieser in den letzten Jahren pandemiebedingt vertagt wurde, fand der Marsch im Jahr 2022 wieder mit etwa 160 Personen statt. Sowohl die Gebete als auch der „Marsch für das Leben“ fallen durch Teilnahme und Reden von Personen aus rechtsextremen und verschwörungsideologischen Kontexten auf. Im Jahr 2022 war die Hauptrednerin Nicole Höchst, die seit 2017 für die AfD im Bundestag sitzt. Höchst verglich vor einigen Jahren Angela Merkel mit Adolf Hitler und bedient homosexuellenfeindliche sowie antimuslimische Ressentiments. In einer anderen Rede setzte sie Abtreibungen mit dem Holocaust gleich.

Um auf die Aktivitäten der Piusbrüder aufmerksam zu machen und in der Öffentlichkeit über deren extremistische Geisteshaltung aufzuklären, gründete sich in diesem Jahr das Bündnis für reproduktive Selbstbestimmung Saar, dem zahlreiche zivilgesellschaftliche Akteur*innen angehören.

Der Mordfall Samuel Yeboah

Am 19. September 1991 kam es in Saarlouis zu einem Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft, bei dem der 27-jährige Ghanaer Samuel Yeboah starb und weitere Bewohner*innen des Hauses verletzt wurden. Über 30 Jahre später kommt es nun zum Prozess gegen einen 50-jährigen Saarlouiser, der zu Tatzeit einer örtlichen Neonazigruppe angehörte. Die Anklage der Bundesstaatsanwaltschaft lautet Mord und versuchter Mord in 20 Fällen. Nachdem es neue Hinweise gegeben hatte, wurden die Ermittlungen im Jahr 2020 erneut aufgenommen.

Neben der Klärung der Schuldfrage führt der Prozess zu einer kritischen Einordnung der damaligen Ermittlungen. Vor 30 Jahren wurde der Mordfall an Samuel Yeboah nach nicht einmal einem Jahr zu den Akten gelegt. Der heutige Landespolizeipräsident Norbert Rupp räumte diesbezüglich Fehler ein.

Hammerskins

Im Gegensatz zur übrigen rechtsextremen Szene im Saarland, die in den vergangenen Jahren viel Veränderungen erfuhr, gibt es mit den Hammerskins eine Konstante innerhalb des neonazistischen Milieus. Sie sind Teil eines konspirativ agierenden internationalen Neonazi-Netzwerks. Die Hammerskins des sogenannten „Chapters Westmark“ betreiben in Dillingen seit Jahren den Veranstaltungsort „Hate Bar“. Hier finden Konzerte statt und es existiert das Label „H8 Bar Productions“, dessen letzte Veröffentlichung allerdings drei Jahre zurückliegt.

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