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Jüdische „Kontingentflüchtlinge“ Wider die Ungleichbehandlung der Rückkehrer

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(Quelle: Pixabay)

Auf Köln bezogen hat die Psychologin Stella Shcherbatova bei einem Vortrag kürzlich in einem Rückblick auf die vergangenen 30 Jahre ein ambivalentes, aber dennoch von Optimismus getragenes Resümee gezogen. Im Vordergrund ihrer Besorgnis steht weiterhin, dass nahezu alle seit 1990 in die Bundesrepublik eingewanderten Jüd*innen aus den GUS-Staaten mit Erreichen ihres Rentenalters finanziell auf einen Scherbenhaufen zurück blicken, weil ihre früheren Arbeitsleistungen in der Sowjetunion weiterhin nicht auf ihre Rente angerechnet werden. Sie, teils sehr hoch qualifiziert, bleiben trotz aller Lebensleistungen i.d.R. mit dem Renteneintritt weiterhin auf Sozialhilfe, also Grundsicherung im Alter, angewiesen. Entwertung bleibt eine tief kränkende Lebenserfahrung, gerade im Alter.

Dies ist Ausgangspunkt der nachfolgend vorgestellten wissenschaftlichen Studie Volker Becks, die in der Zeitschrift Osteuropa erschienen ist. Diese formuliert und begründet einen dringlichen Arbeitsauftrag an den deutschen Bundestag: Die seit 1990 eingewanderten russischen Jüd*innen rentenrechtlich zumindest den übrigen eingewanderten russischstämmigen Deutschen anzugleichen, ihnen also ein Leben im Alter in Würde zu ermöglichen.

Rentenrechtliche Anerkennung von Lebensleistungen

Volker Beck betont in seiner Studie: Auch wenn die deutsche Gesellschaft, die deutsche Regierung, vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Verbrechen in bemerkenswerter Weise Verantwortung übernommen hat, so bleibt ein zentrales Element der Integration und der „Wiedergutmachung“ bis heute ungelöst. Die rentenrechtliche Anerkennung der Lebensleistung der Juden aus der Sowjetunion. Politisch wäre dies erreicht, wenn deren rentenrechtlichen Ansprüche mit denen der Russlanddeutschen gleichbehandelt würden.

Der langjährige Grüne Bundestagsabgeordnete hat über Jahre hinweg immer wieder Gesetzesentwürfe im deutschen Bundestag eingereicht, in denen diese rechtliche und soziale Gleichbehandlung der jüdischen mit den russlanddeutschen Neueinwanderern eingefordert sowie gesetzlich umgesetzt worden wäre.

Alle parlamentarischen Versuche sind gescheitert. Keine Bundesregierung, kein Parlament war bisher bereit, den jüdischen Neueinwanderern im Alter ein Leben in Würde zu garantieren. Bundestagsopposition und Bundesrat fordern allerdings inzwischen die Gleichstellung. Die Koalition spricht von einem Härtefonds, mit dem allerdings keine Gleichstellung erreicht würde.

Volker Beck (2019): Wider die Ungleichbehandlung der Rückkehrer

In seiner Studie fordert Beck eine „geschichts- und identitätspolitische Korrektur“ ein: Die auch rentenmäßige Gleichbehandlung der Juden aus der Sowjetunion mit den Spätaussiedlern sei überfällig. In den letzten Jahrzehnten sind 2,5 Millionen Spätaussiedler in die Bundesrepublik eingewandert; weiterhin ab 1990 bzw. verstärkt ab 1993 200.000 Jüd*innen aus den GUS-Staaten.

Die Einwanderung dieser insgesamt 217.000 Menschen – von denen sich etwa 85.000 den hiesigen jüdischen Gemeinden angeschlossen haben – erfolgte vor dem Hintergrund eines Jahrzehntelangen Leidens und Diskriminierungserfahrungen: Während der Nazizeit wurden von den seinerzeit (1941) 5,1 Millionen sowjetischen Juden, 2,9 Millionen von Deutschen ermordet. Die systematische Verfolgung und Diskriminierung hörte auch nach dem Tode Stalins im Jahre 1953 nicht auf: Es kam weiterhin zu antizionistischen Kampagnen, Beleidigungen und Benachteiligungen. Shoah und die Folgen der antijüdischen Maßnahmen müssen Beck zufolge als Kriegsfolgenschicksal bewertet werden.

Außerdem weist er daraufhin, dass die Juden aus der Sowjetunion Nachfahren der aschkenasischen Juden waren, die vor den Pogromen zu Zeiten der Kreuzzüge und der großen Pest 1348 aus den Städten am Rhein und den deutschen Landen nach Polen-Litauen und später das Zarenreich geflohen waren.

Beck geht ausführlich auf Fragen des Staatsangehörigen- und Rentenrechts ein – die rechtliche Grundlage der bis heute anhaltenden Altersarmut der großen Mehrheit der neu eingewanderten Jüd*innen. Die Russlanddeutschen hingegen sind hiervon nicht mehr betroffen. Ihre Rentenansprüche wurden als Spätaussiedler durch das Fremdrentengesetz extra gesetzlich gewährleistet.

Für die nach 1923 aber vor 1993 geboren Einwander*innen, zum größten Teil Russlanddeutsche, galt die Regelung: Wenn sie sich „in ihrer Heimat zum deutschen Volkstum bekannt“ hätten, gelten sie juristisch als Deutsche. Dies zeige sich darin, so die juristische Sprachregelung, dass sie dies durch Sprache, Erziehung oder Kultur bestätigten. In der Sowjetunion dokumentierte sich diese Anerkennung durch das Ausstellen eines Inlandspasses, legt Beck dar.

Ab 1993 kam es in der Bundesrepublik zu einer Verschärfung der gesetzlichen Regelung: Spätaussiedler*innen mussten ihre Benachteiligung aufgrund ihrer „deutschen Volkszugehörigkeit“ glaubhaft machen, um in Deutschland als Deutsche anerkannt zu werden. Bei Russlanddeutschen wurde dies allerdings pauschal unterstellt.

Die insgesamt 2,5 Millionen „Spätaussiedler*innen“ wurden versorgungstechnisch allesamt in das Bundesvertriebenen- und Fremdrentengesetz aufgenommen; Begründung: Kriegsfolgenschicksal und Zugehörigkeit zum deutschen Volkstum. Ihre vorhergehende arbeitsmäßige Lebensleistung wurde hierdurch bei Erreichung des Rentenalters anerkannt, sie erhielten eine „ausreichende“ Rente. Die entstehenden Kosten wurden als Kriegsfolgen betrachtet und somit vom Bund getragen.

Die DDR, in der der Antizionismus gewissermaßen Staatsideologie war, hatte erst Mitte der 1980er Jahre, als die herrschende Partei ihr baldiges Ende ahnte, symbolische Versuche unternommen, sich von ihrem „Antizionismus“ vorsichtig zu distanzieren und die Instrumentalisierung und Diskriminierung von Juden zu beenden. Im Februar 1990 legte der Jüdische Kulturverein Berlin (JKV) einen Antrag vor, der, vor dem Hintergrund der Shoah, eine Neueinwanderung von russischen Jüd*innen ermöglichen sollte. Dieser Antrag ging auf den Aufruf der 1986 gegründeten Ostberliner Gruppe „Wir für uns – Juden für Juden“ zurück. Der „Runde Tisch“ der DDR beschloss am 12.2.1990 auf Antrag der Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM), diesen Aufruf einstimmig zu unterstützen. Es war ein Versuch, das DDR-Unrecht und den veritablen Antizionismus – vergleiche Jeffrey Herf (2019) – zumindest symbolisch zu reparieren.

Die Erfolge des Versuchs hielten nicht lange an: Im September 1990 kam es wegen der bevorstehenden Wiedervereinigung, es waren erst wenige Hundert Jüd*innen eingewandert, zu einem Aufnahmestopp.

„Besondere Verantwortung als Deutsche gegenüber Juden“

Zugleich setzte eine parlamentarische Diskussion ein. Der parlamentarische Staatssekretär Waffenschmidt sprach, so erinnert Beck in seiner Studie, von der „besonderen Verantwortung als Deutsche gegenüber Juden“. Zugleich versprach sich der Staatssekretär von der Einwanderung von russischstämmigen Jüd*innen eine „Revitalisierung des jüdischen Elements im deutschen Kultur- und Geistesleben.“

Im Rückblick, was die bis heute ungelöste Rentenfrage betrifft, vielleicht als Fehler erwies sich die eilig gezimmerte Regelung, dass die insgesamt gut 200.000 Jüd*innen formal als ausländische Kontingentflüchtlinge betrachtet wurden, vergleichbar den vietnamesischen Boatpeople, die ab 1979 von Deutschland aufgenommen wurden.

Der Rechtsstatus der russisch-deutschen Jüd*innen blieb ungeklärt.

Die jüdischen Zuwander*innen erhielten eine Niederlassungserlaubnis. Sie kommen also bis heute als „Ausländer“ und nicht als „Mit-Bürger“. In den letzten Jahren haben sich die Aufnahmebedingungen verschärft, wie Beck darlegt. Voraussetzung für eine Zuwanderung sei heute, dass Zuwandernde die Bereitschaft zur Aufnahme in eine Jüdische Gemeinde nachweisen können. Das Interesse des Aufnahmestaates steht also im Vordergrund. Die Wiederbelegung des jüdischen Lebens in Deutschland wird nun als bedeutsamer bewertet, als das Verfolgungsschicksal des Aufzunehmenden.

Ab 1956: Neueinwanderer aus Ungarn, Polen, der CSSR und dem Iran

In den 35 Jahren vor dem Jahr 1990, also vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, kamen die jüdischen Zuwanderungen, als Folge drastischer antisemitischer Kampagnen, vorwiegend aus Ungarn, Polen, der damaligen ČSSR, weiterhin aus Iran mit seiner ehemals starken jüdischen Gemeinde. Aus ihnen rekurrierte sich der größte Teil der nicht-aschkenasischen Juden in Deutschland. Nur wenige Synagogengemeinden vermochten diesen ein entsprechendes Angebot zu machen.

Rechtliche Rahmen

Das Fremdrentengesetz bildete die Grundlage für die Anerkennung von Arbeitsleistungen in den früheren Lebensphasen. Dieses bezog sich jedoch nicht auf Kontingentflüchtlinge, also auch nicht auf Jüd*innen, die nach § 23 II des Aufenthaltsgesetzes aufgenommen wurden, stellt Beck dar. Hieran änderte auch der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit nichts. Ihre in der Sowjetunion bzw. weiteren GUS-Staaten erworbenen Arbeits-, Ausbildungs- und Kindererziehungszeiten werden weiterhin nicht in der deutschen Rentenversicherung berücksichtigt. Verteidiger dieser Regelung argumentieren, „diese hätten kein Kriegsfolgenschicksal erlitten“, weiterhin sei bei Jüd*innen „keine deutsche Volkszugehörigkeit gegeben.“ Beck wiederlegt diese Annahme in seiner wissenschaftlichen und juristischen Studie im Detail.

Volkszählung

Gemäß einer Volkszählung in der UdSSR von 1939 lebten seinerzeit drei Millionen Jüd*innen sowie eine deutsche Minderheit von 1,42 Millionen Personen dort; 1941, durch die Verschiebung der Westgrenze der UdSSR nach dem Hitler-Stalin-Pakt, erhöhte sich die Zahl auf 5,1 Millionen.

1897 hatten 97 Prozent der Jüd*innen in der UdSSR Jiddisch als ihre Muttersprache angegeben. Diese Zahl verminderte sich in den folgenden Jahren aufgrund des antisemitischen Anpassungs- und Unterdrückungsdruckes systematisch; 1979 sprachen nur noch 14 Prozent Jiddisch. Der Verlust der eigenen Sprache verdeutlicht die hohen Kosten, die die russischen Jüd*innen zahlen mussten. In Deutschland wiederum ist Jiddisch nicht als Teil der deutschen Kultur anerkannt – im Unterschied zu Dänisch, Friesisch, Sorbisch oder Romanes. Auch das Leiden der Russlanddeutschen, so Beck in seiner Studie, sei „dramatisch aber nicht singulär“ gewesen im Rahmen des stalinistischen Regimes. Auch Russlanddeutsche erhielten in der SU keine Wiedergutmachung.

Nach dem Überfall des Deutschen Reichs auf die Sowjetunion versuchte die Sowjetführung nicht, die jüdische Bevölkerung durch Evakuierung vor der Vernichtung durch die deutschen Truppen zu schützen. Sowjetische Sicherheitskräfte hinderten Jüd*innen sogar, so legt Beck dar, vor den anrückenden deutschen Truppen in den Osten zu fliehen. Die 1942 aus propagandistischen Motiven erfolgte Gründung des Jüdischen Antifaschistischen Komitees (JAFK) verbesserte die Situation in keinster Weise. Das Komitee sollte vor allem Druck auf amerikanische Jüd*innen auszuüben, damit diese sich gegenüber ihrer Regierung dafür einsetzten, dass die USA eine zweite Front gegen Nazideutschland auf dem europäischen Kontinent eröffneten.

Bei Kriegsende lebten nur noch 2,9 der ehemals 5,1 Millionen Juden und Jüdinnen auf dem Gebiet der Sowjetunion. Antijüdischen Maßnahmen gingen weiter: Jüdische Ghettoinsassen wurden nach dem Krieg teils mit Verbrechern gemeinsam interniert. In Kiew kam es nach der Befreiung von den Deutschen zu einem Pogrom. Jüd*innen wurden weiterhin als „Fünfte Kolonne“ verdächtigt. Die Zahl der Jüd*innen in der Verwaltung und Politik sank dramatisch.

Jüd*innen, darunter auch Kommunist*innen und Führungspersönlichkeiten, wurden unter Stalin weiterhin verhaftet, teils auch ermordet. Infolge der Auflösung des JAFK und der Verhaftung und Verurteilung seiner Mitglieder kam es zu mehreren antijüdischen Verfolgungswellen. Der damalige Vorsitzende des Ministerrates, Bulgarin, sagte 1970 aus, dass 1953 eine Massendeportation von Jüd*innen nach Birobidschan geplant gewesen sei. Nach Stalins Tod wurde das Vernichtungsplan nicht mehr in die Tat umgesetzt. Eine Rehabilitation gab es allerdings nicht, stattdessen folgten von 1957 bis 1964 umfassende atheistische Kampagne gegen das Judentum.

Eine Erinnerung an den Holocaust war in der Sowjetunion – wie bekanntlich auch in der DDR – ein absolutes Tabu. Es gab, so legt Beck dar, ein regelrechtes „Verbot des Gedächtnisses an den Holocaust“. Erst Mitte der 1980er Jahre ließ der staatliche Antisemitismus in der Sowjetunion nach.

Ein zum Handeln aufforderndes Resümee

„Die Verhaftungen und Deportationen in den nach dem Hitler-Stalin-Pakt annektierten Gebieten, die Gründung und spätere Auflösung des Jüdischen Antifaschistischen Komitees und die darauf einsetzenden Verfolgungswellen im Rahmen der Kampagne gegen ‚Kosmopoliten‘ und der Kremlärzte-Prozesse, wie die Verfolgung von ‚Zionisten‘ nach der Gründung des Staates Israels sind unmittelbare Folgen des von Deutschland über die Sowjetunion gebrachten Krieges“, so Volker Becks Resümee. Sie seien ebenso als Kriegsfolgenschicksal anzusehen wie die Ermordung von 2,9 Millionen sowjetischer Jüd*innen durch die Deutschen sowie die Folgen, die dies für das Überleben und den Bestand jüdischer und jiddischer Kultur und Sprache in dem auf Russifizierung angelegten System hatten.

Im Sommer 2018 forderten fast 100 Prominente und Wissenschaftler*innen, darunter Bischöfe der beiden Kirchen und Vorsitzende der Wohlfahrtsorganisationen Zedek – „Gerechtigkeit für jüdische Zuwanderer im Rentenrecht“, eine „Gleichstellung der Juden mit den Spätaussiedlern in Bezug auf ihre Rentenansprüche“. Eine Ungleichbehandlung zwischen Spätaussiedlern und jüdischen Kontingentflüchtlingen lasse sich an Hand dieser Kriterien nicht begründen, so der Jurist Beck. Ein Festhalten daran wäre „gleichheits- und somit bei Lichte betrachtet verfassungswidrig“.

Beck fügt hinzu: „Es ist geschichtspolitisch wie rechtlich nicht zu vertreten, dass der Fall der Russlanddeutschen – mit ungefähr 50.000 bei der Deportation getöteten Menschen – als Kriegsfolgenschicksal eingeordnet wird, im Falle der Juden und Jüdinnen ein solches Kriegsfolgenschicksal aber nicht als gegeben gesehen wird, obwohl 2,9 Millionen sowjetische Juden von Deutschen ermordet wurden.

Dieser Text ist zuerst bei haGalil erschienen. 

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