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Kommentar Polizei ermöglicht Angst und Schrecken in Kreuzberg

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Zur Erinnerung: Am Samstag (14. Mai 2011) demonstrieren etwa 110 Neonazis am Mehringdamm, dem Herzen des westlichen Kreuzbergs, einem Stadtteil mit hohem Migrationsanteil. Die Polizei verschwieg den geplanten Aufmarsch. Nur durch eine Unachtsamkeit der Neonazis auf einer Facebook-Seite bekommen Gegendemonstrierende überhaupt erst Wind von der geplanten Aktion. Selbst auf Nachfrage von Journalist*innen bleibt die Polizei bei ihrer Schweigetaktik und nennt selbst dann noch unterschiedliche Aufmarschorte, als die Neonazis bereits unterwegs sind. Vor Ort eskaliert die Situation. Die Neonazis geben sich gereizt und aggressiv. Zeitweise spielen sie auch Katz und Maus mit der Polizei. Auf Kommando verschwinden sie im U-Bahnschacht, werfen Böller, irritieren so die Polizei, um am anderen Ende der U-Bahn wieder ans Tageslicht zu kommen. Dort gehen die Neonazis sofort mit massiver Gewalt auf Gegendemonstrierende und unbeteiligte Passantinnen und Passanten los. Augenzeugen berichten von eingesetzten Metallstangen. Eine Schülerin wird von einer Flasche am Kopf getroffen. Erst nach einiger Zeit gelingt der Polizei wieder die Trennung der Demonstrierenden – und der Unbeteiligten, die von dem ganzen Geschehen schlicht überrascht werden. Mehrere Menschen mit Migrationshintergrund waren entsetzt, dass in ihrem Stadtteil unangekündigt Neonazis wüten konnten. Sie hatten und haben jetzt Angst an einem Ort, an dem sie sich eigentlich sicher vor Rechtsextremen fühlten.

Fatale Polizeistrategie

Für die Neonazis dürfte die Veranstaltung deshalb ein voller Erfolg gewesen sein. Zwar gelang es ihnen nicht, die gewünschte Demonstration tatsächlich durchzuführen. Sie kennen jedoch den Wert des Symbolischen. Sie haben –aus ihrer Sicht – erfolgreich Angst und Schrecken in einem Viertel verbreitet, in dem es vor Jahren noch als Mutprobe für sie galt, mit dem Auto durch zu fahren. Dieser Erfolg der Neonazis ist dabei der Berliner Polizeispitze und ihrer Strategie zu verdanken.

Was wäre wenn?

Spielen wir ein Gegen-Szenario durch. Die Berliner Polizei hätte die demokratische Seite über die geplante Demonstration informiert. Kreuzberg hätte Kopf gestanden. Mit Sicherheit wären mehrere Tausend Gegendemonstrierende unterwegs gewesen und hätten höchstwahrscheinlich verhindert, dass die Neonazis überhaupt nach Kreuzberg herein kommen. Dies hätte zwei Folgen gehabt: Einerseits hätte die Neonazi-Demonstration abgesagt oder verlegt werden müssen. Die unbeteiligte Kreuzberger Bevölkerung hätte ein angstfreies Wochenende verlebt. Die Polizei hätte andererseits jedoch zwei Wochen nach dem 1. Mai wieder einen aufwändigen und anstrengenden Einsatz leisten müssen, der etliche Hundertschaften nötig gemacht hätte. Das war nicht gewollt. In der Abwägung zwischen Aufwand und demokratischem Recht auf Information hat sich die Polizei für die vermeintlich weniger aufwändige Variante entschieden. Offensichtlich sollte versucht werden, den Marsch mit möglichst wenig Mitteln durchzuführen. Das gelang jedoch nicht. Der Flurschaden ist riesig. Um Ressourcen zu schonen, hat sie Menschenleben vor Ort gefährdet. Besonders Migrant*innen wurde signalisiert, dass sie in scheinbar sicheren Gegenden vor aggressiven Neonazis nicht mehr geschützt sind. Der demokratischen Zivilgesellschaft wurde signalisiert, dass sie zwar als buntes Aushängeschild für Demokratie- und Toleranzfeste des Senats gebraucht wird. Im Zweifelsfalle wird sie jedoch eben weder informiert noch einbezogen. Öffentlichkeit und Transparenz sind jedoch Kernmerkmale einer demokratischen Kultur. Das Demonstrationsrecht dient dazu, Öffentlichkeit für politische Anliegen herzustellen. Das gilt selbstredend auch für Neonazis. Wer die Öffentlichkeit sucht, muss jedoch auch bereit sein, sich der öffentlichen Auseinandersetzung zu stellen. Auch das gilt für Neonazis. Und diese Möglichkeit einer öffentlichen Auseinandersetzung im Rahmen der Rechtsordnung hat die Berliner Polizei den Kreuzberger Bürger*innen vorenthalten. Das ist ein handfester demokratiepolitischer Skandal. Die Eskalation der Gewalt vor Ort hätte vermieden werden können, wenn die Bürger*innen die Möglichkeit gehabt hätten, sich den Neonazis wahlweise zu stellen oder ihnen auch – besonders im Falle der Opfer rechtsextremen Gewalt – bewusst auch aus dem Weg zu gehen.

Die Opfer der Polizeistrategie

Halten wir als Bilanz dieser Demonstration fest: Zu den Opfern der Polizeistrategie gehören die unmittelbar vor Ort Geschädigten, die Bedrohten, die Bürger*innen in Kreuzberg, die demokratische Öffentlichkeit und – nicht zu vergessen – die Polizist*innen, die für eine skandalöse Strategie vor Ort den Kopf hinhalten müssen. Die linken Kräfte werden diese außergewöhnliche, gewalttätige Provokation sicher nicht unbeantwortet lassen. Es droht eine erneute Spirale der Gewalt.

Der Extremismusforscher Dierk Borstel ist Professor für praxisorientierte Politikwissenschaften an der Fachhochschule Dortmund. 

Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).

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