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Newsletter-Editorial Warum Pirna so sehr deprimiert – und was nun zu tun ist

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Misstraue der Idylle: Schloss Sonnenstein in Pirna. (Quelle: Flickr.com/Bambizoe, CC0 1.0 Deed )

Liebe Leser*innen,

wir leben in einer schnelllebigen Zeit, aber manche Dinge sind gar nicht so schnell zu verarbeiten, wie wir vielleicht hoffen. 78 Jahre ist es her, dass die Alliierten dem NS-Regime ein Ende bereiteten. Das ist nicht einmal ein Menschenleben. Trotzdem erscheint die NS-Zeit heute vielen schon historisch: Ist dazwischen nicht viel passiert? Re-Education und 68er im Westen, postulierter Antifaschismus in der DDR, dann die Wiedervereinigung, Deutschland als Teil eine einigen Europas…

Und dann kommt eine Oberbürgermeisterwahl in Pirna und zeigt: Deutschlands dunkelste Geschichte ist noch längst nicht historisch und vergangen. Ihre Folgen – und ihre Ideologien – leben fort. Über Generationen, über Regime- und Staatsformwechsel, und trotz aller Versuche, dies zu bearbeiten. Pirna war im Nationalsozialismus einer der Orte, in dem die NS-Euthanasie, also Menschenversuche und Morde an Menschen mit Behinderungen, im großen Stil betrieben wurde: Auf Schloss Sonnenstein, das über der Stadt auf einem Berg thront, wurden in zwei Jahren, zwischen 1940 und 1941, über 13.000 psychisch kranke und geistig beeinträchtigte Menschen gequält und in Gaskammern ermordet. Fast jede*r Bewohner*in Pirnas arbeitete damals für Schloss Sonnenstein und wusste, was die „Aktion T4“ bedeutet: Mord an Menschen, deren Leben Nationalsozialist*innen als „unwert“ bezeichneten. Viele Einwohner*innen Pirnas haben das mitgetragen, als Lieferanten, als Köchinnen, als Fahrer oder Gärtnerin, aber auch als Personal der Einrichtung. Und nach 1945 haben alle versucht, es zu vergessen, oder zumindest: Es durch Schweigen vergessen zu machen.

Wenn Schweigen die Bearbeitungsstrategie von Menschenfeindlichkeit ist, wird die Ideologie in den Familien trotzdem weitergegeben. Was in den 1990er Jahren dazu führte, dass Pirna und Umgebung eine der rechtsextremsten Regionen nach der Wiedervereinigung war. Und erst in den 2000er Jahren eine Jugendgruppe versuchte, die NS-Zeit aufzuarbeiten, um eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Ich habe die Aktion Zivilcourage das erste Mal 2007 besucht, damals noch für das Belltower-Vorgänger-Portal mut-gegen-rechte-gewalt.de, war beeindruckt von dem Durchhaltevermögen und Energie der jungen Menschen. Es gibt die Aktion Zivilcourage bis heute, und sie hat für viele Betroffene von rechtsextremer Gewalt einen enormen Unterschied erarbeitet.

Das ist heutzutage umso wichtiger, wie die Oberbürgermeisterwahlen zeigen: Denn der Mainstream, Rechtsextremismus zumindest zu verharmlosen, aber auch in einigen bis vielen Teilen rechtsextremer Ideologie schlicht zuzustimmen, ist in Pirna offenbar ungebrochen. Jetzt hat die hübsche Stadt in der Sächsischen Schweiz einen parteilosen Oberbürgermeister auf AfD-Ticket, der sich aber auch im Wahlkampf von AfD-Rechtsextremen wie Andreas Kalbitz unterstützen ließ und als eine der ersten Amtshandlungen angekündigt hat, die Loyalität der Mitarbeiter*innen im Rathaus zu prüfen (vgl. mdr). Gesinnungstests, weil sich der AfD-Kandidat unter Demokrat*innen unwohl fühlt, das erinnert an ungute und unfreie Zeiten. Aber: Noch ist Pirna demokratisch. Oberbürgermeister sind Beamte, zumindest auf Amtszeit. Und Beamte, die nicht die freiheitlich demokratische Grundordnung vertreten, gegen die können wir uns in der Demokratie auch wehren. Und genau dafür wünschen wir den demokratischen Kräften in Pirna jetzt viel Kraft und gute juristische Unterstützung.

Herzliche Grüße

Simone Rafael

Chefredakteurin Belltower.News

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