Weiter zum Inhalt Skip to table of contents

Regressive Rebellion Formate der Erwachsenenbildung gegen Verschwörungsglauben

Von|
Wer ist hier ein Schlafschaf? Verschwörungsglauben führt oft zu Streit, ob in Vereinen oder in Familien. Was tun? (Quelle: Pixabay / suju-Foto)

Die neue Broschüre der Amadeu Antonio Stiftung aus dem bundesweiten Modellprojekt Fachstelle für Politische Bildung und Entschwörung heißt „Entschwörung mit Format. Neue Wege der Erwachsenenbildung.“ – und versucht, diese Fragen zu beantwoten. Heute ein Auszug aus Teil 2: Welche Formate eignen sich, um Menschen mit Bildungsarbeit zu erreichen, die keine politische Bildungsarbeit besuchen?

Politische Bildung als Organisationsberatung

(…) Die Bildungsangebote zu Verschwörungsideologien beziehen sich in der Regel auf die individuelle oder die strukturellen, inhaltlichen Ebene. Entweder gibt es einen handlungsorientierten Fokus auf den Umgang mit Verschwörungsgläubigen im direkten persönlichen Umfeld oder einen wissensvermittelnden Fokus, der auf die analytische  Aufklärung über Verschwörungsideologien und die politischen Akteur:innen, die sie vertreten, zielt.

Die Zwischenebene des Institutionellen wird weit seltener aufgegriffen, was besonders in der Erwachsenenbildung viel Potenzial verschenkt. Denn (ältere) Erwachsene verbringen den absoluten Großteil ihres Lebens eingebunden in Institutionen: in Arbeitsstätten und Vereinen, Initiativen und Parteien. Gerade die Verschwörungserzählungen rund um die Corona-Pandemie haben dazu geführt, dass Verschwörungsideologien direkten und alltäglichen Einfluss auf die Prozesse und Diskussionen innerhalb dieser Verbände nehmen. Denn sie stören konkrete institutionelle Abläufe, belasten die Beziehungen der Mitglieder untereinander und stellen die Werte und Normen aller Beteiligten, nicht zuletzt der Institution selbst in Frage.

In den Kooperationsgesprächen der Fachstelle für Politische Bildung und Entschwörung mit verschiedenen Organisationen zeigte sich, was für mehrdimensionale Herausforderungen das zur Folge haben kann. Ein Gewerkschaftssekretär zum Beispiel berichtete uns von gleich mehreren Kontroversen in seiner Organisation:

■ Mitglieder würden die politische Ausrichtung der Gewerkschaft kritisieren und fordern, dass sie sich mit „Querdenken“ solidarisiere. Er selbst habe schon mehrfache Schreiben auf dem Tisch gehabt, in der die vermeintlich fehlende „Kritik“ an den Corona-Maßnahmen als Grund für den Austritt aus der Gewerkschaft angegeben wurde.

■ Manche Vertrauensleute und Betriebsräte würden mittlerweile Bedenken haben, das Thema „Maskenpflicht im Betrieb“ offensiv anzusprechen. Sie hätten Angst davor, nicht adäquat darauf reagieren zu können, wenn sich Kolleg:innen bei der Diskussion um Masken als verschwörungsgläubig herausstellten.

■ Einige Gewerkschaftsmitglieder würden die Impfung gegen das Coronavirus aus verschwörungsideologischen Gründen ablehnen. Manche würden dies ablehnen, aber tolerieren, andere fanden das absolut unvereinbar mit einer gewerkschaftlichen Haltung. In mehr als einer Betriebsgruppe hätten solche Kontroversen zu handfesten Konflikten geführt, die die gemeinsame Arbeit fast unmöglich machten.

Diese Komplexität führte zu viel Verunsicherung, die sich interessanterweise auch in einer anfänglichen Zurückhaltung bis Skepsis gegenüber politischer Bildung ausdrückte: In den Kooperationsgesprächen kam die Sorge zur Sprache, dass eine breite Thematisierung von Verschwörungsideologien Konflikte und Kontroversen innerhalb der Institution nur vergrößern könnte. Viele in der Gewerkschaft würden Verschwörungsideologien nicht als „eigentliches“ Thema der Institution betrachten, sondern eher als einen unbehaglichen Störfaktor, den es kleinzuhalten gelte. Wie so oft bestand der erste Impuls also darin, politische Bildung als eine Art Intervention zu nutzen, die eher punktuell eingesetzt wird und die als eine Art Feuerwehr dort löscht, wo der Rauch nicht mehr zu ignorieren ist.

Anknüpfungspunkte und Bedarfe aufzeigen

In weiteren Gesprächen konnte diese Zurückhaltung jedoch aufgelöst werden. Mehr noch: die vertiefte Auseinandersetzung über das Thema „Gewerkschaft und Verschwörungsideologie“ führte dazu, dass immer mehr eigene Anknüpfungspunkte und Bedarfe gesehen wurden. So kristallisierte sich zum Beispiel heraus, dass Verschwörungsideologien gleich mehrere gewerkschaftliche Kernthemen wie Arbeitsschutz und, allgemeiner, Solidarität betreffen. Auch die Kontroversen um Abgrenzung zu Verschwörungsmythen erwiesen sich als nicht so neu, wie es auf den ersten Blick schien: eine unserer Ansprechpartner:innen erinnerte sich im Laufe der Gespräche an eine zurückliegende breite Debatte über Bilder und Motive bei gewerkschaftlichen Kampagnen, die mit Mustern des verschwörungsideologischen Antisemitismus wie Strippenziehern und Heuschrecken arbeiteten.

An diesem Punkt entfaltete sich eine Art Kettenreaktion des Interesses und Engagements: Mit dem von den gemeinsamen Vorgesprächen motivierten Gewerkschaftssekretär wurde ein Workshop mit einigen Vorstandsmitgliedern des Bezirks organisiert, was wiederum dazu führte, dass „Verschwörungsideologie und gewerkschaftliche Haltung“ zum inhaltlichen Thema der Bezirksklausur 2021 gewählt wurde. Hierfür wurde eine Fortbildung konzipiert für die Mitglieder der Gewerkschaft, die in beratenden und vermittelnden Funktionen aktiv waren und deshalb in Betriebsgruppen und Gremien besonders gut Mitglieder an der Basis erreichen konnten. Aufgrund der ausführlichen Vorarbeit in den Kooperationsgesprächen konnten dafür
Handlungsoptionen an realistischen Szenarien der gewerkschaftlichen Arbeit entwickelt werden, während die Reflexion der eigenen Haltung an den Werten und der Geschichte der Gewerkschaft selbst reflektiert wurde.

Das Format erwies sich als voller Erfolg. So wurde in einem Nachgespräch berichtet, welchen nachhaltigen Effekt die Kooperation und dieses Format auf die Auseinandersetzung innerhalb der Gewerkschaft hatten. Unter anderem fand ein von der Gewerkschaft entwickeltes Plakat zum Thema nach der Klausur sehr viel größeren Absatz.

Spezifisch, konkret und trotzdem übertragbar

Eine weitere Kooperation der Fachstelle für Politische Bildung und Entschwörung bewies wiederum, dass sowohl das Vorgehen als auch das mit der Gewerkschaft entwickelte Format übertragbar auf andere Organisationen und Themen war. Mit einem Umweltverband konnte das Format auf die spezifischen Bedarfe und Herausforderungen des Vereins sowie des Themas „Verschwörungsideologie und Ökologie“ eingestellt und ebenso erfolgreich durchgeführt werden. Wieder wurde dafür eine Fortbildung für Mitglieder in vermittelnder Funktion angeboten: diesmal im Rahmen der internen Fortbildungsstruktur für Vereinsmitglieder, die als Berater:innen für Ortsgruppen eingesetzt werden.

Trotz der Komplexität des Themas „Verschwörungsideologien in Institutionen“ zeigte sich so ein herausragendes Potenzial für politische Bildung, sofern die nötige Arbeit in tiefergehende und längerfristige Vorgespräche und Kooperationen investiert wird. Denn:

■ Institutionen bringen viele (ältere) Erwachsene zusammen und bie
ten einen sehr konkreten, lebensweltlichen Zugang zum Thema Verschwörungsideologien,
■ Institutionen basieren auf der Grundlage geteilter Werte und/oder Aktivitäten, an denen politische Bildung besonders gut ansetzen kann,

■ Institutionen ermöglichen eine mehrdimensionale und nachhaltige politische Bildung: demokratische Positionen werden bei Auseinandersetzungen innerhalb der Institution gestärkt und die Institution wird dabei unterstützt, demokratische Positionen präsenter „nach außen“ zu vertreten.

Das Format der „Organisationsberatung als politische Bildung“ eignet sich besonders gut dafür, diese Potenziale zu entfalten, (älteren) Erwachsenen da zu begegnen, wo sie schon aktiv und engagiert sind, und sie darin zu unterstützen, in und mit ihrer Institution gegen Verschwörungsideologien vorzugehen.

Handlungstraining: „Hilfe, mein Vater ist Coronaleugner!“

Mittlerweile kennen fast alle jemanden persönlich, der an Verschwörungsideologien glaubt und diese aktiv vertritt. Immer mehr Menschen berichten von Kolleg:innen, Bekannten, aber auch Freund:innen und Familienmitgliedern, die einem immer radikaleren Verschwörungsglauben anheimfallen.

Das wird von den allermeisten als überfordernd und äußerst bedrohlich für die jeweilige Beziehung empfunden. Einerseits kennt und schätzt man sein Gegenüber oft als Mensch, andererseits hängen (einstmals) nahe Menschen Ideologien an, die nicht nur zu einer Obsession werden können, sondern auch zu einer Gefahr für sich und andere. Deshalb stellen sich schnell viele Fragen und Gefühle von Sorge, Ärger oder Hilflosigkeit ein: „Wie kann ich widersprechen, ohne gleich die ganze Beziehung zu gefährden?!“, „Wie kann ich mein Gegenüber noch überzeugen?!“ und „Ist Überzeugen überhaupt die richtige Herangehensweise?!“. Der Beratungsbedarf für Angehörige von Verschwörungsgläubigen ist spätestens seit der Corona-Pandemie enorm angestiegen. Stellenweise ist die Nachfrage so groß, dass die Kapazitäten der entsprechenden Stellen nicht ausreichen.

„Bei derzeit 50 bis 60 Anfragen im Monat und aus dem gesamten Bundesgebiet zeigt sich schon jetzt klar: der Bedarf übersteigt deutlich unsere Kapazitäten.“
Tobias Meilicke, Leiter einer der ersten Beratungsstellen,
die ausschließlich zu Verschwörungsideologien arbeitet

Dabei ist zu bedenken, dass selbst sehr zugängliche Beratungsangebote für viele Menschen eine gewisse Hemmschwelle innehaben. Das ist zum einen ungünstig, weil Beratungsangebote vor allem dann erfolgversprechend sind, wenn sie frühzeitig in Anspruch genommen werden (Hinweise zu hilfreichen Anlaufstellen finden Sie am Ende dieser Handreichung im Abschnitt Informationen, Beratung und Unterstützung). Zum anderen verweist es auch darauf, dass von einem noch viel größeren Bedarf ausgegangen werden muss, der sich zum Beispiel an den unzähligen journalistischen Artikeln messen lässt, die praktische Tipps zum Umgang mit Verschwörungsgläubigen enthalten.

Ein Kurzworkshopformat für Reflexion und Handlungssicherheit

Gerade bei (älteren) Erwachsenen handelt es sich um eine Zielgruppe, die zumeist stark eingebunden ist in Berufs- und Familienstrukturen und deshalb wenig Ressourcen für ausgiebige Bildungsveranstaltungen besitzt.

Gleichzeitig spielen soziale Nahbeziehungen für sie eine enorme Rolle, weswegen sie eine besonders große Motivation haben, sich Verschwörungsideologien mindestens in ihrem direkten Umfeld anzunehmen.

Während der Kooperationen der Fachstelle für Politische Bildung und Entschwörung wurde deshalb ein Kurzworkshopformat entwickelt, das auf diese Situation reagiert und die Lücke zwischen allgemeinen journalistischen Ratgebern und einer ausgiebigen professionellen Beratung füllt. Inhalt des Workshops ist ein Grundverständnis der vor allem psychologischen Funktionen von Verschwörungsideologien und die Vermittlung von Leitkonzepten für die Gesprächsführung sowie, allgemeiner, den Umgang mit Verschwörungsgläubigen. Im relativ schmalen Rahmen von 60 bis 90 Minuten werden die Teilnehmenden nach eigenen Erfahrungen gefragt und dazu eingeladen, besondere Herausforderungen zu schildern. Auf diese wird dann in einem Vortrag und einer darauffolgenden Frage-Antwort-Runde eingegangen.

Im Projekt wurde die mehrmalige Erfahrung gemacht, dass sich viele Menschen beim Thema Verschwörungsideologien eine einfache Anleitung wünschen, die sie nur befolgen müssten, um jegliche Konflikte aufzulösen. Der große Erfolg des Formats besteht darin, diesen Wunsch produktiv zu enttäuschen und trotzdem bzw. genau deshalb die Handlungssicherheit der Teilnehmenden über Reflexion und einen „Werkzeugkoffer“ an Leitfragen und -konzepten zu stärken. Der (kurze) Input über die Funktionen von Verschwörungsideologien klärt dabei darüber auf, warum Menschen diese Mythen glauben, und macht gleichzeitig deutlich, dass das, was sie glauben, demokratie- und menschenfeindliche Implikationen und Folgen hat. Auch hier werden die Teilnehmenden bei ihrem unmittelbaren Handlungsdruck abgeholt, während gleichzeitig die Notwendigkeit einer weiterführenden couragierten Haltung gegen Verschwörungsideologien unterstrichen wird.

„Der Bekannte, der im Gespräch verschwörungsideologische Inhalte teilt, mag noch zugänglich für die empathische Nachfrage sein, wie er denn darauf komme. Läuft derselbe Bekannte bei einer ,Querdenken‘-Demonstration mit, ist er ein politischer Akteur und Teil einer demokratiefeindlichen Bewegung, deren Inhalte kein Verständnis, sondern Gegenrede und Abgrenzung verdienen.“
Artikel der Fachstelle für Politische Bildung und Entschwörung auf Belltower.News

Handlungstrainings als „Türöffner“ für weitergehende politische Bildung

Das Format eignet sich somit sehr gut für einen punktuellen Einsatz, bietet ebenso viele Anknüpfungspunkte für weiterführende Angebote der politischen Bildung und Beratung. So wurde die Fachstelle für Politische Bildung und Entschwörung des Öfteren nach Workshops von Teilnehmer:innen und Teilnehmern kontaktiert, die ein ausführlicheres Format etwa zu den Funktionen und der Verbreitung von Verschwörungsideologien interessierte.
Andere wiederum bedankten sich für die Thematisierung der Möglichkeiten und Grenzen des persönlichen Umgangs sowie die Hinweise auf (lokale) Beratungsstellen. In einigen Fällen wirkte der Workshop so als der entscheidende Faktor für das Aufsuchen eines professionellen Beratungsangebots.

Diese Anknüpfungspunkte fungierten für das Format oft als Türöffner in der Anfangsphase der Projektkooperationen. Es wurde zum Beispiel als eine Art Kennenlernen für Mitglieder einer Gewerkschaft durchgeführt, woraus sich eine weitere Veranstaltung ergab.

Bei der Kooperation mit einem politischen Bündnis gegen Antisemitismus wurde das Handlungstraining zum Beispiel als Teil einer gemeinsamen öffentlichen Veranstaltung eingesetzt. Diese wurde online durchgeführt und bestand aus einem Input des Bündnisses über Verschwörungsideologien und die politischen Akteur:innen, die sie (lokal) vertreten, und dem Handlungstraining der Fachstelle. Beide „Teile“ konnten so produktiv ineinandergreifen: Die Notwendigkeit von Haltung und Handlung bei Verschwörungsideologien wurde lokal konkretisiert und mit spezifischer politischer Aufklärung verbunden. Interessierte, die hauptsächlich wegen Fragen und Problemen zu Verschwörungsideologien in ihrem direkten Umfeld zur Veranstaltung kamen, wurden so über die politische Lage „vor Ort“ sowie die Arbeit des Bündnisses informiert. Andere, die vornehmlich kamen, um die politische Entwicklung „ihrer“ Stadt zu diskutieren, wurden hingegen dazu angeregt, darüber zu reflektieren, wie sie mit Verschwörungsideologien direkt und konkret umgehen können.

Das politische Bündnis hatte im Vorfeld berichtet, dass immer weniger und tendenziell immer die gleichen Menschen zu ihren Veranstaltungen kämen. Das breite Profil der Kooperationsveranstaltung erzeugte hingegen eine große Resonanz mit fast einhundert Online-Teilnehmenden, was vom Bündnis als enorm motivierend für seine Arbeit bewertet wurde.

Politische Bildung wird immer wieder nur punktuell und als eine Art Intervention eingesetzt. In der Besprechung des Formats „Organisationsberatung“ wurde gezeigt, wie das ihrer nachhaltigen Wirkung entgegenstehen kann. Das bedeutet aber keineswegs, dass kurze, handlungsorientierte Formate kein Potenzial hätten oder unvereinbar wären mit längerfristigen und tiefergehenden Angeboten. Der Kurzworkshop „Hilfe, mein Vater ist Coronaleugner!“ unterstreicht vielmehr das Potenzial von niedrigschwelligen Formaten, vor allem dort, wo sie eingebunden und/oder vernetzt mit anderen Angeboten der politischen Bildung und Beratung stattfinden.

Weitere Ideen

finden Sie in der Broschüre „Entschwörung mit Format. Neue Formate der Erwachsenenbildung“.

Darunter: Das Erzählcafé, die dialogische Sinnsuche und die Schaufensterausstellung.

Die Broschüre zum Download:

Amadeu Antonio Stiftung (Hrsg.):

Entschwörung mit Format – Neue Wege der Erwachsenenbildung.

Berlin/Leipzig 2022

PDF zum Download:

Weiterlesen

Eine Plattform der