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Revision im Halle-Prozess „Ein Urteil, das wir niemals als gerecht akzeptieren können.“

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Der Kiez-Döner war ein Angriffsziel des Attentäters. Inhaber İsmet Tekin legte vergeblich Revision gegen das Urteil ein.
Der Kiez-Döner war ein Angriffsziel des Attentäters. Inhaber İsmet Tekin legte vergeblich Revision gegen das Urteil ein. (Quelle: AAS)

Das Urteil um den rechtsterroristisch, antisemitisch und rassistisch motivierten Anschlag in Halle am 9. Oktober 2019 wurde am 22. März 2022 vom Bundesgerichtshof (BGH) für rechtskräftig erklärt. Das Oberlandesgericht Naumburg verurteilte den Attentäter wegen Mordes in zwei Fällen, versuchten Mordes in einer Vielzahl von Fällen sowie weiterer Delikte zu einer lebenslagen Freiheitsstrafe. Darüber hinaus wurde die besondere Schwere der Schuld festgestellt und die Unterbringung des Täters in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Was sich auf den ersten Blick als Erfolg darstellt, bekommt durch die Perspektiven der Nebenkläger İsmet Tekin und Aftax I. einen bitteren Beigeschmack. Beide Nebenkläger hatten Revision vor dem BGH eingelegt, weil das Urteil die Angriffe des Attentäters ihnen gegenüber nicht als versuchte Morde gewertet hat. Die Revisionen wurden von dem BGH ohne weitere Begründung verworfen.

Im Sommer 2020 beschrieb Aftax I. im Gespräch mit Belltower.News, wie er am Tag des Attentats in Halle auf dem Weg zur Arbeit die Straße von einer Straßenbahn-Haltestelle überqueren wollte, als er zur Seite schaute und plötzlich sah, wie ein auf der falschen Fahrbahn fahrendes Auto direkt auf ihn zuraste. 

„Mir war sofort bewusst, dass dieser Angriff vom Autofahrer rassistisch motiviert war. Ich dachte noch, naja, es ist ein ganz normaler rassistischer Vorfall, der in Sachsen-Anhalt und in Halle einfach häufiger passiert. Daher wusste ich sofort, wie ich das einzuordnen hatte. Er hat bewusst auf mich als Schwarzer gezielt. Um mich herum waren andere weiße Menschen, auf die er mit dem Auto hätte zufahren können. Ich wusste, dass er auf mich zielte und mich versuchte umzufahren.“

Zwar schaffte es Aftax I. zur Seite zu springen, dennoch wurde er seitlich von dem Auto des Attentäters erfasst und erlitt schwere Prellungen am Knie, sowie Verletzungen an der linken Hand. Neun Monate später, zum Zeitpunkt des Interviews mit Belltower.News, berichtete er von der bleibenden Belastung durch Verunsicherung und Angst vor schnell fahrenden Autos und beim Überqueren von Straßen. Von dem Prozess gegen den Täter, hatte er sich vor allem gewünscht,  dass das rassistische Motiv der Tat gegen ihn anerkannt wird: „Der Attentäter von Halle hat mich aus einem bestimmten Grund angefahren und ich möchte, dass es als rassistischer Angriff anerkannt wird.“ Leider wurde er enttäuscht. Das Oberlandesgericht Naumburg stellte nicht fest, „dass der Angeklagte bei seinem Fahrmanöver den Geschädigten absichtlich anfuhr oder mit einer Verletzung rechnete und sich damit abfand“ und bewertete die Tat lediglich als „fahrlässige Körperverletzung“. 

Auch İsmet Tekin trat im Prozess als Nebenkläger auf. Er ist der Besitzer des Imbiss „Kiez Döner“, der Ziel des rassistischen Angriffs wurde und in dem der 20-jährige Kevin Schwarze durch Schüsse des Attentäters ermordet wurde. Wie İsmet Tekin im Interview mit Belltower.News berichtete, befand er sich zum Tatzeitpunkt nicht im Imbiss, erfuhr jedoch von seinem Bruder, der sich vor Ort befand, von dem Angriff. Er sei daraufhin sofort losgerannt, um seinem Bruder zu helfen. Nur wenige Meter von dem Laden entfernt, hörte er einen Schuss, der neben ihm an einer Hauswand abprallte.

„Da habe ich gemerkt, dass der Attentäter auf mich gezielt hat. In meinem Kopf hat es sich so angefühlt als würde mein ganzes Leben innerhalb von wenigen Sekunden an mir vorbeiziehen, wie in einem Film. Mir rasten so viele Fragen durch den Kopf und ich hatte große Angst.“

İsmet Tekin konnte sich hinter einem parkenden PKW vor den Schüssen des Attentäters schützen und blieb unverletzt. Entgegen Tekins Schilderung des Tathergangs, stellte das Oberlandesgericht nicht fest, „dass der Angeklagte den Nebenkläger wahrnahm, gezielt auf ihn Schüsse abgab oder damit rechnete, Unbeteiligte zu verletzen oder zu töten“. Entsprechend wurde der Attentäter nicht wegen einer Straftat gegen İsmet Tekin verurteilt.

In einer gemeinsamen Pressemitteilung der Mobilen Opferberatung und des VBRG e.V. kritisieren die Rechtsanwält:innen von Aftax I. die Entscheidung des BGHs: „Aftax I. und İsmet Tekin durften erwarten, dass die rassistisch motivierten Tötungsversuche vom Gericht wahrgenommen und als solche anerkannt werden. Stattdessen scheint man der Auffassung zu sein, mit der Verurteilung des Attentäters zu lebenslanger Freiheitsstrafe alles Erforderliche getan zu haben. Dass Bundesanwaltschaft und Justiz trotz aller entgegenstehender Anhaltspunkte am Ende dem Attentäter glauben, dass er Aftax I. nicht absichtlich angefahren und seinen Tod auch nicht in Kauf genommen hat, ist juristisch nur schwer nachvollziehbar.“

Auch Talya Feldmann, Überlebende des Attentats auf die Synagoge, kritisiert den Beschluss: „Mit der verworfenen Revision und der Rechtskraft dieses Urteils entzieht sich die Justiz in beschämender Weise der Verantwortung, die rassistischen Motive der Gewalt gegen Aftax I. und İsmet Tekin anzuerkennen. Damit werden wir einmal mehr daran erinnert, dass die Worte und Meinungen von Tätern über die gelebten Erfahrungen von Zeug:innen und Überlebenden gestellt werden. Es ist ein Urteil, das wir niemals als gerecht akzeptieren können.“

Zweieinhalb Jahre sind seit dem rechtsterroristisch, antisemitisch und rassistisch motivierten Anschlag in Halle vergangen. Angehörige der Ermordeten und Überlebende des Anschlags leiden bis heute massiv unter den Folgen des schrecklichen Angriffs. Mit einem rechtskräftigen Urteil soll nach einem Strafprozess der Rechtsfrieden herrschen, dieser bleibt den Überlebenden İsmet Tekin und Aftax I. jedoch verwehrt. Die Revisionen waren ein Versuch der beiden Nebenkläger, das ihnen widerfahrene Unrecht anerkannt zu bekommen. Der Beschluss des BGHs ist daher eine bittere Enttäuschung. 

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