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Rezension Teuflische Allmacht

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(Quelle: Edition Telok)

Viele jüdische Autoren wie Leon Poliakov, Saul Friedländer, Walter Laquer, Daniel Goldhagen, Simon Wiesenthal, David Nirenberg, Pinchas Lapide und Chaim Cohn haben nach 1945 immer wieder die engen Verbindungen zwischen Christentum, Kirchen und Antisemitismus nachgewiesen. Die nichtjüdische Mehrheit in der Antisemitismusforschung und in der Öffentlichkeit ignoriert diese Erkenntnisse und klammert sich wider alle Evidenz an die Trennung von religiös motiviertem „Antijudaismus“ und rassistischem Antisemitismus. Tilman Tarach hat sich in seinem Buch zum Ziel gesetzt nachzuweisen, „dass die in weiten Teilen der Antisemitismusforschung gängige, bisweilen gar zum Glaubensbekenntnis gewordene kategoriale Unterscheidung zwischen sogenanntem christlichem Antijudaismus und modernem Antisemitismus nicht haltbar ist und letztlich einer Entlastungsstrategie dient.“

Tarach entfaltet ein Panorama über die verleugneten Verbindungen in 22 kurzen Kapiteln. Dabei schreibt er einen angenehmen Stil, stellenweise angemessen scharf aber ohne Polemik. Ein Großteil des Buches dient dem Nachweis der Kontinuität zentraler antisemitischer Motive von der Spätantike bis ins 20. Jahrhundert: In Äußerungen der Kirchenväter, anderer Heiliger, Päpste und der Jesuitenzeitschrift „La Cività Cattolica“ lassen sich die gleichen Motive aufzeigen wie in der NS-Hetzschrift „Stürmer“, in den Reden Hitlers, in den Tagebucheinträgen Goebbels und in Stellungnahmen Himmlers, die sich alle als Christen verstanden. Zu diesen Motiven gehören insbesondere die Rede von den Juden als „Kinder des Teufels“ (Johannes 8:44) und der Vorwurf des Christus- oder Gottesmordes unter Rückgriff auf Matthäus 27:25.

Tarach erinnert auch daran, dass der Zwang zum Tragen eines „Judensterns“ an frühere christliche und muslimische Praktiken der Markierung von Jüdinnen:Juden in der Öffentlichkeit durch den „gelben Fleck“ anknüpfte. Weiterhin zeigt Tarach die Geschichte, Bedeutung und Kontinuität der Ritualmordlegende und des Brunnenvergifter-Mythos auf, die vom Mittelalter über das 19. und 20. Jahrhundert bis zu aktuellen Phänomenen wie den „Corona-Leugnern“ und israelbezogenem Antisemitismus reicht.

Besondere Beachtung verdienen Tarachs Ausführungen über die Vorläufer des nationalsozialistischen „Ariernachweises“ in den „limpieza de sangre“ [„Reinheit des Blutes“]-Gesetzen im frühneuzeitlichen Spanien: Aus Angst, die unter Zwang zum Christentum konvertierten spanischen Jüdinnen:Juden könnten heimlich weiterhin das Judentum praktizieren, galt für die Spanische Inquisition bereits eine entfernte jüdische Abstammung als potentiell gefährlich. Tarach weist darauf hin, dass Simon Wiesenthal bereits vor 30 Jahren die Spanischen Reinheitsgesetze als „Vorläufer des nationalsozialistischen Ariernachweises“ bezeichnet hat. Im gleichen Kontext erinnert Tarach daran, dass der 1593 gegründete Jesuitenorden, der heute der größte katholische Orden ist, bis in den Herbst 1946 von seinen Mitgliedern eine „judenfreie Abstammungslinie“ verlangte, deren Strenge nur mit dem „Großen Ariernachweis“, der von Anwärtern auf die SS verlangt wurde, vergleichbar war. Eine kritische Stellungnahme des Ordens hierzu steht bislang aus und kam auch auf Nachfrage Tarachs nicht zustande.

Im Anschluss an den Nachweis der Kontinuität der spanischen „limpieza“-Gesetze und dem „Ariernachweis“ stellt Tarach die bemerkenswerte Tatsache heraus, dass sich „Ariernachweis“ und „Nürnberger Gesetze“ entgegen ihrer Etikettierung weder auf „Blut“ noch auf „Rasse“ bezogen, sondern auf „nicht mehr und nicht weniger als das religiöse Bekenntnis der Vorfahren bis zur Generation der Großeltern“. Damit steht die Rede von einem dem Nationalsozialismus eigenen „Rasseantisemitismus“ infrage. Diese vermeintliche Eigenheit des NS-Antisemitismus wird häufig angeführt, um die christliche Tradition der Judenfeindschaft von der Shoah abzugrenzen. „Ariernachweis“ und „Limpieza“-Gesetze stehen somit quer zur Unterscheidung von religiös begründetem Antijudaismus und rassistischem Antisemitismus.

Des Weiteren weist Tarach auf die bis heute verleugnete und bagatellisierte Verstrickung des Vatikan mit dem Nationalsozialismus hin: So hat Papst Pius XII. nicht etwa, wie ihm oft vorgeworfen wird, zur Shoah geschwiegen, sondern diese aktiv ideologisch befördert: Tarach erinnert daran, dass Pius XII. bei einer Weihnachtsansprache 1942, als die Vernichtung des europäischen Judentums ihren Höhepunkt erreicht hatte, den Gottesmordvorwurf beschwor und „den Juden“ „starre Verblendung und hartnäckige Verleugnung“ vorwarf. Dass es dann auch der Vatikan war, der über die „Rattenlinie“ zahlreichen NS-Funktionären Straffreiheit und ein neues Leben in Lateinamerika verschaffte, bestärkt Tarachs Diagnose, dass die katholische Kirche „die wichtigsten Hass-Schwerpunkte mit den Nationalsozialisten teilte“. Als „geradezu besessen“ charakterisiert Tarach eine Stellungnahme des Vatikans aus dem Jahr 1949, in dem der Zionismus als von einer „zweitausend Jahre alten [jüdischen] Rache gegen das Christentum inspiriert“ bezeichnet wird.

Auch nach dem zweiten Vatikanischen Konzil besteht für Tarach kein Grund zur Annahme, dass eine gründliche Aufarbeitung der institutionellen ideologischen Verflechtungen der Kirche mit dem Nationalsozialismus stattgefunden hat. Ideologisch waren sich Nationalsozialisten und viele Kirchenmänner darin einig, dass die Moderne und die damit einhergehende Säkularisierung ein jüdisches Projekt waren. Vor diesem Hintergrund bezeichnet Tarach es als „Geschichtsklitterung“, wenn Papst Benedikt XVI. 2010 behauptete, die „Nazityrannei“ habe „Gott aus der Gesellschaft entfernen“ wollen. Dem hält Tarach entgegen, dass „Nationalsozialismus und traditionelles Christentum […] nicht-religiöse Menschen als gemeinsamen Feind“ bekämpften. Fast die gesamte Spitze des NS-Staates sah sich als Verteidiger des Christentums gegen eine vermeintlich von Juden forcierte „Gottlosigkeit“, identifizierte sich selbst mit dem Christentum und äußerte noch in ihren letzten Worten Vertrauen in Gott.

Besonders wertvoll sind auch Tarachs Hinweise, wie christlicher Antisemitismus sich an Israel abarbeitet: Zum einen benennt Tarach ideologische Kontinuitäten wie den Versuch der Judenmission und den Anspruch auf die Kontrolle über die heiligen Stätten des Christentums. Zum anderen macht der Publizist auf ein verbreitetes Phänomen aufmerksam, dass er „delegierten Antisemitismus“ nennt, nämlich die Praxis katholischer und evangelischer Gruppen, radikal antiisraelische NGOs zu unterstützen.

Tarach wühlt Dreck auf, den insbesondere jüdische Autor:innen vor ihm schon einmal aufgewühlt haben. Weder in der Antisemitismusforschung noch in der breiteren Öffentlichkeit wurde das hinreichend registriert. Dass Tarach dieses kompromittierende Material in zugänglicher Weise auf knapp 200 Seiten zusammengestellt und mit einem praktischen Sach-, Orts- und Personenregister versehen hat, ist eine wichtige Intervention in aktuelle Debatten: Im Vergangenen Jahr war viel von „importiertem Antisemitismus“ und noch immer vom „christlich-jüdischem Abendland“ die Rede, während die Verflechtungen des Christentums und der Kirchen mit der Shoah und den vielfältigen Formen von Antisemitismus weiterhin heruntergespielt und bagatellisiert werden. Diese Bagatellisierung findet nicht nur statt, wenn Antisemitismus als eine Unterform des Rassismus aus seiner religiösen Tradition gelöst wird, sondern auch dann, wenn Antisemitismus unter „Feindschaft gegen Andersgläubige“ subsumiert wird: Denn dann geht unter, dass Antisemitismus keine bloße Feindschaft gegen irgendeine Religion ist, sondern seine Wurzeln im Christentum hat (und teilweise auch im Islam, worauf Tarach in einer seinem Hauptanliegen angemessenen Kürze eingeht). Tarachs Buch verdeutlicht, dass der Kampf gegen Antisemitismus in der deutschen Mehrheitsgesellschaft mit einer Aufarbeitung der Geschichte der christlichen Judenfeindschaft und einer ehrlichen Kritik des antijüdischen Potentials der kanonischen Texte des Christentums einhergehen muss.

Antisemit:innen missbrauchen das Christentum nicht bloß ideologisch, sondern stehen in einer langen christlichen Tradition des Judenhasses. Auf den letzten drei Seiten des Buches skizziert Tarach unter der Überschrift „Zur Ideologie des Christentums“ knapp drei Aspekte des Christentums, die den Antisemitismus begünstigen. Zwar werden diese Punkte christliche Theolog:innen nicht überzeugen, da diese seit den frühsten Tagen des Christentums elaborierte Antworten auf die Aporien des Christentums bereithalten. Das ist jedoch offensichtlich auch nicht Tarachs Absicht. Nach der Shoah kann es nicht mehr nur darum gehen, dass man die christlichen Texte und die damit verbundenen Lehren auch anders, nicht antisemitisch auslegen kann: Es bedarf eines Eingeständnisses, dass der christlich motivierte Judenhass ein weit verbreitetes Verständnis des Christentums war und ist, das endlich aufgearbeitet werden muss.

Teuflische Allmacht. Über die verleugneten christlichen Wurzeln des modernen Antisemitismus und Antizionismus, 224 Seiten, 14,80 Euro, ISBN 978-3-9813486-4-4, hier bestellen.

Joël Ben-Yehoshua ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei RIAS Thüringen am IDZ Jena und Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie der Philipps-Universität Marburg. Er promoviert zum Thema Lügen und Antisemitismus.

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