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Rezension Wir sind da!

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Die Synagoge in Ulm. (Quelle: Pixabay)

„Wir leben trotzdem, wir werden leben und erleben und schlechte Zeiten überleben, wir leben trotzdem, wir sind da”, singt die Shoah-Überlebende Ester Bejarano in ihrer Übersetzung dieses Liedes, das sie am Ende ihrer Konzerte spielt.

Dieses „Trotzdem” ist ein Leitgedanke des Buches „Wir sind da”. Denn jüdisches Leben gibt es in Deutschland trotz Ausgrenzung, Vertreibung, trotz Pogromen und Shoah. Dieses Trotzdem auszubuchstabieren, verständlich zu machen, wogegen trotzend sich jüdisches Leben in Deutschland durchgesetzt hat, durchsetzen musste, das ist der Verdienst dieses Buchs. Diese Geschichte zu erzählen, heißt also auch die Geschichte jüdischer Selbstbehauptung und Widerständigkeit zu erzählen. Dabei wird jüdisches Leben gesetzt als eines, das da ist und bleiben wird. Denn der Titel, „Wir sind da”, ist Selbstvergewisserung wie Ansage an die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft.

Uwe von Seltmann zeichnet auf gut 300 Seiten eine über tausendjährige Geschichte jüdischen Lebens an dem Ort, der sich erst vergleichsweise kurz Deutschland nennt. Gespickt mit Quellen, Bildern und mit zahlreichen Zitaten von Jüdinnen und Juden oder Chronisten jüdischen Lebens gelingt es ihm eine lesenswerte Gesellschaftsgeschichte zu erzählen. Dabei wird die Geschichte dieser jüdischen Gesellschaft immer wieder mit Personenportraits angereichert, sodass man am Ende des Buchs einige dutzend namhafte jüdische Persönlichkeiten samt ihrer Lebensgeschichte kennt. Dabei entsteht das Bild eines vielfältigen jüdischen Lebens in Deutschland, das allen Widrigkeiten zum Trotz lebendig ist.

Die Geschichte des jüdischen Lebens erzählt Uwe von Seltmann von der Gegenwart aus. „Denken an gestern und Leben im Jetzt” lautet passenderweise der Untertitel des Vorworts von Linda Rachel Sabier. „Alle Fragen”, heißt es an einer Stelle des Buchs, „die im Hinblick auf die Geschichte gestellt werden, gelten auch für die Gegenwart.” Hier nimmt das Buch seinen Ausgang: bei der verzerrten Wahrnehmung jüdischen Lebens als „unbekannter Welt nebenan”, beim vorherrschenden Unwissen, bei jiddischer Kultur heute und Fragen nach dem Fortleben der Shoah. Denn das Leiden „an den Spätfolgen des Holocaust” (Micha Brumlik) führt dazu, dass nicht nur die Vergangenheit bewältigt werden muss, sondern auch die Gegenwart.

Fest steht, dass Jüdinnen und Juden hier länger leben als Deutsche und dass die Zahl 1700 eine Setzung ist. Es ist eine Erzählung, ein Anlass, um Inne zu halten und sich auf eine lange Geschichte zu besinnen und durch öffentlichkeitswirksame Feierlichkeiten deutlich zu sagen: Wir sind da, und das schon lange.

Wann genau sich Jüdinnen und Juden in dem Gebiet niedergelassen haben, das damals Colonia Agrippina und heute Deutschland heißt, weiß niemand. „Alte Legenden berichten davon”, so weiß das Buch, „dass jüdische Händler und Sklaven bereits vor der Zerstörung des Jerusalemer Tempels mit den ersten römischen Legionären an den Rhein gezogen waren.” Historiker:innen gehen von einer durchgängigen jüdischen Geschichte aber erst ab dem zehnten Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung aus. Insbesondere die ersten Jahrhunderte werden oft sehr kurz abgehandelt. In „Wir sind da” wird die Zeit einigermaßen ausführlich beschrieben.

„Nach dem Untergang des Weströmischen Reiches” um 455 „verlieren sich für fast 500 Jahre die Spuren des Judentums” hier. Mit den SchUM-Städten, Speyer, Worms und Mainz erblüht dann im zehnten Jahrhundert das jüdische Leben am Rhein. Die Geschichte der folgenden Jahrhunderte, der Kreuzzüge, Pogrome und Vertreibungen, kann ohne christlichen Antijudaismus nicht erzählt werden; eine Erscheinungsform des Antisemitismus deren Nachleben heute weitgehend aus dem Blick gerät. Noch im 19. Jahrhundert regelte der „Judenmatrikel” wie viele jüdische Familien in einem bayerischen oder hessischen Dort leben durften.

Simon Dubnow, der große Chronist der jüdischen Geschichte, beendete seine Biographie im Jahre 1940 mit einer „Vorhersage”. Er zitierte den Theologen und Philosophen David Friedrich Strauß mit den Worten: „Im Sturme hast du angefangen, im Sturme sollst du enden.” Von Seltmann schreibt zu Recht, dass die Metapher des Sturms „als Motto über der Geschichte der 1700 Jahre jüdischen Lebens in Deutschland” stehen könnte. Dieser Sturm der Geschichte, der „unablässig Trümmer auf Trümmer häuft”, um es einmal frei nach Walter Benjamins Angelus Novus zu sagen, scheint rückblickend auf die Shoah zuzusteuern.

Die Geschichte des Nationalsozialismus erzählt „Wir sind da” auf besondere Weise. Antijüdische Maßnahmen gehören nicht in dieses Buch, schreibt von Seltmann, weil sie nicht Teil der jüdischen Geschichte sind, sondern der antisemitischen. Obwohl das stimmt, kann die jüdische Geschichte, ohne den Hass, die Gewalt und Verfolgung nicht erzählt werden. Man lernt also auch weniger Bekanntes. Von den Hep-Hep-Unruhen 1818 werden viele gehört haben. Von den antisemitischen Plünderungen im Berliner Scheunenviertel 1923 wenige. Insbesondere die Geschichte des Nationalsozialismus kann nicht ohne dessen Antisemitismus geschrieben werden.

“Wir sind da” erzählt diese Geschichte aber nicht so, dass Jüdinnen und Juden nur als Objekte der nationalsozialistischen Politik erscheinen. Formen jüdischer Widerständigkeit werden beschrieben. Etwa Robert Weltschs Kommentar in der Jüdischen Rundschau im April 1933, in dem es heißt: „tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck!“  Weltsch, das verschweigt das Buch nicht, hat fünf Jahre später über den Text gesagt, er hätte besser geschrieben: „Packt sofort euren Koffer und verschwindet.“

Von Seltmann erzählt die jüdische Geschichte im Dritten Reich im Spannungsfeld zwischen Hoffen, sich Wehren, Retten und Gehen (müssen), nicht wenige wählten auch den Selbstmord. Die Geschichte wird also aus dem Blickwinkel der Jüdinnen und Juden erzählt, die unter dem Nationalsozialismus litten. (Das ist, der Einschub sei mir erlaubt, auch methodisch für die NS-Forschung und Geschichtswissenschaft interessant und hat sicher ein Vorbild in Saul Friedländers opus magnum “Das Dritte Reich und die Juden”)

So ist die Geschichte, die „Wir sind da” erzählt, nicht nur die Geschichte des Antisemitismus, sondern auch die des Anti-Antisemitismus, von jüdischer Widerständigkeit, des Trotzdem.

Verwoben mit dieser großen Geschichte erfährt man einige vielleicht unbekannte Details. Drei Beispiele: 1. der erste Jude, der auf deutschem Boden namentlich erwähnt wurde, hieß Isaak. Er brachte im achten Jahrhundert von Bagdad einen Elefanten nach Aachen. 2. die erste Rabbinerin des Judentums hieß Regina Jonas. Sie reiste noch 1940/41 durch Deutschland „im Auftrag der Reichsvereinigung der Juden” um zu predigen. 1942 wurde sie nach Theresienstadt deportiert und zwei Jahre später in Auschwitz ermordet. 3. Albert Einstein wurde 1952 das Amt des israelischen Staatspräsidenten angeboten. Er lehnte dankend ab. „Er glaubte, für offizielle Funktionen ungeeignet zu sein.”

Am Anfang des Buchs beschreibt von Seltmann den Versuch Heinrich Bölls und anderer die jüdische Geschichte für die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft der 1950er Jahre aufzubereiten. Denn die war vor allem unwissend — vielleicht ist sie das bis heute. Der Test ist leicht zu machen. Liebe nichtjüdischen Leser*innen, fragen Sie einmal im Familien- und Bekanntenkreis: Wie Viele kennen den Unterschied zwischen jüdisch, israelisch und israelitisch, wissen was hebräisch von jiddisch unterscheidet? Wer weiß was Aschkenasim und Sephardim sind? Wie Viele kennen die SchUM Städte, wissen, was die Thora ist, was der Talmud, was der Tanach? Wer kann annähernd schätzen, wie viele Jüdinnen und Juden heute in Deutschland leben, wie viele es 1900 waren, 1933, 1938, wie viele 1945?

Damit sich an diesem Un- und Halbwissen etwas ändert, bedarf es der Aufklärung. Das Festjahr 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland ist ein Anfang. Dieses Buch sowieso.

„Wir sind da” ist ein informativer, leicht zugänglicher und schöner Band, der es verdient hätte von Vielen gelesen zu werden — nicht nur, aber auch von denjenigen, die glauben, noch wenig zu wissen.

Uwe von Seltmann: Wir sind da! 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Homunculus Verlag, Erlangen. 2021. 344 Seiten, 29 Euro. 

 

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