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Sylt Nazis? Das sind die Anderen

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Ostdeutsche, Abgehängte, jetzt "die Reichen". Nazis? Das sind die Anderen. (Quelle: picture alliance/dpa | Georg Wendt)

Das Video, in dem reiche junge Deutsche zu „L’Amour Toujours“ von Gigi d’Agostino „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ sangen und einer von ihnen den Hitlergruß zeigte, kursierte noch nicht lange online, als in sozialen Netzwerken die ersten Witze auftauchten. Eat the rich-Memes und Persiflagen auf Bootsschuhe, Polohemden und altes Nazi-Geld. Die Deutsche Bahn setzte unter #Sylt den Tweet ab „Kein Ausstieg in Fahrtrichtung rechts“. Ein bekannter deutscher Komiker hielt es für lustig, der Welt mitzuteilen, es sei bekanntlich der Hindenburgdamm, der nach Sylt führe ­­– eine historische Anspielung. Der damalige deutsche Reichspräsident Paul Hindenburg ernannte Adolf Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler. Wie der Weg zum Nationalsozialismus in Deutschland über Paul Hindenburg führte, führt der Weg zu Rassismus und NS-Erbe heute über den Hindenburgdamm, so die Botschaft, womit auch gleich geklärt schien: Was am Pfingstwochenende vor dem Pony-Club in Kampen auf Sylt passiert ist, hat nichts mit allen Deutschen zu tun. „Ausländer raus“ schreien in Deutschland nur die da oben.

Da waren und sind nicht nur all die „Haha, doofe reiche Jung-Nazis auf Sylt“-Takes in sozialen Netzwerken, sondern auch zig Möchtegern-erkenntnisreiche Analysen aus Politik und Medien über „wohlstandverwahrloste junge Menschen“. Und natürlich der Bundeskanzler, der das Geschehene „eklig“ nannte. Man kennt es nicht anders. Sobald wieder mal ein Fall von Rassismus, Antisemitismus, NS-Verharmlosung oder Verherrlichung bekannt wird, also eigentlich jeden Tag, setzt in Deutschland kollektive Abscheu ein. Alle bestürzt, was positiv wäre, würde das eigentliche Problem dabei nicht rituell weggeredet.

Zum Beispiel als im Oktober 2023 ein Video von einem Erntefest in Mecklenburg-Vorpommern auftauchte, bei dem eine feiernde Gruppe die gleiche ausländerfeindliche Parole wie in Kampen zum gleichen Track von Gigi d’Agostino sang? Das Rassismusproblem im Osten, da sind ja viele Menschen sozial abgehängt. Im Januar dieses Jahres ein Clip aus dem bayerischen Greding: Teilnehmer des dort stattfindenden AfD-Landesparteitags beim Discobesuch, wieder Gigi d’Agostino, wieder „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“-Gegröle. AfD eben, alles Rechte und Rechtsextreme. Im Februar bei einer Karnevalsparty im sauerländischen Olpe. Klar, Karneval, alle betrunken. An Pfingsten dann Sylt. Gerade hatte man sich so schön auf die Idee mit den reichen Nazi-Erben verständigt, als aus Hessen die Meldung kam, beim Landespokal habe ein Offenbach-Fan den Hitlergruß gezeigt. Man sollte meinen, dass Erklär-Ansätze bei dem Tempo gar nicht mithalten können, in dem Deutschland nachlegt. Aber einer geht noch. Also halt Fußballproleten.

Wüsste man es nicht besser, könnte man glauben, rassistisch, antisemitisch oder ein bisschen Faschismus-begeistert sind in Deutschland nur bestimmte Gruppen, nämliche Reiche, sozial benachteiligte Menschen sowie Rechte und Rechtsextreme. Leider tut die Realität dieser Gesellschaft nicht den Gefallen, das Märchen zu bestätigen, dass sie sich seit 1945 selbst erzählt. Studien, Umfragen und sonstige Analysen belegen immer wieder, dass sich die Menschenfeindlichkeit, die sich auf Sylt gezeigt hat, durch alle gesellschaftlichen Schichten und Gruppen zieht. Genau wie Deutsche aus allen Schichten und Gruppen nicht nur schon immer zu Autoritarismus neigten, sondern es weiterhin, inzwischen sogar wieder verstärkt, tun. Das haben zuletzt etwa die Leipziger Autoritarismus-Studie und die Mitte-Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung belegt.

Sich selbst nicht als Teil des Problems verstehen, „Ausländer raus“-Denke woanders verorten, nicht in der Mitte, sondern am liebsten ganz oben, ganz unten oder am rechten Rand – schon die Großeltern-Generation hat es kollektiv so gemacht. Bekanntlich war da niemand wie die Nazis. Niemand wusste etwas, hat sich an Hetze und Hass beteiligt, höchstens ist man mitgelaufen, weil man getäuscht und verführt wurde. Von Eliten, die Hitler zur Macht verhalfen. Von Rechtsextremisten und Faschisten, die in den Konzentrationslagern mordeten. Von Schlägern und Proleten, die sich bei SA und SS sammelten. Eigentlich lässt sich die gesamte deutsche Entnazifizierung mit den Worten zusammenfassen, die jene junge Frau auf Instagram teilte, die gleich zu Beginn des Sylt-Videos singend zu sehen ist: Sie sei betrunken gewesen und habe einfach ein Meme mitgegrölt. Betrunken gewesen, Meme mitgegrölt, Faschismus-trunken gewesen, Heil Hitler mitgeschrien – wenn ein ganzes Land nach 1945 damit davongekommen ist, warum nicht auch ein paar reiche junge Menschen im Jahr 2024?

Wer darauf besteht, dass solche Hinweise auf die Umstände eine bequeme Ausrede sind, wer darüber sprechen will, dass dieses Land ein strukturelles Rassismus- und Antisemitismus-Problem hat, dass Greding, Olpe, Sylt, der NSU, Hanau, Halle und all die anderen Orte und Beispiele, die man nennen müsste, keine Einzelfälle sind, hat es schwer. Erst recht, wenn es dabei auch noch um historische Kontinuitäten gehen soll und darum, dass sich dieses Land seiner Geschichte und den Folgen dieser Geschichte bis heute nicht wirklich und umfassend stellt. Man darf in Deutschland vieles, aber eines definitiv nicht: Diesem Land die Vorstellung nehmen, es sei „Erinnerungsweltmeister“ und habe aus seiner Vergangenheit gelernt, was es zu lernen gäbe.

Also spart man sich besser die Frage, was genau Forderungen nach einer schärferen Migrationspolitik und nach mehr Abschiebungen oder auch nur die Zustimmung zu solchen Forderungen von „Deutschland den Deutschen“ unterscheidet. Hinweise auf Statistiken, die belegen, wie oft und gerne deutsche Ärzte „morbus mediterraneus“ diagnostizieren, also das Simulieren von Krankheit, bevor sie in Erwägung ziehen, vor ihnen stehende Patient*innen of Color könnten wirklich krank sein – bitte gerne für sich behalten. Rechtsextreme Polizei-Chatgruppen im ganzen Land, genau wie Lehrer*innen, die die Leistung von Samira, Wladimir, Arjun und Hafsa anders bewerten als die von Lea, Maximilian, Sophie und Moritz. Einigkeit, dass Björn Höcke gar nicht gehe und die AfD wählen auch nicht, um genauso einmütig festzustellen, dass Friedrich Merz aber schon Recht habe mit dem, was er über „kleine Paschas“ in Kreuzberg sage. Die millionenfach verkauften Bücher von Thilo Sarrazin. Rassistische Witze, die erzählt werden, als wäre es das normalste der Welt, um ein pseudo-verschämtes „Darf man ja heutzutage alles gar nicht mehr sagen“ hinterherzuschicken. Immer mehr Deutsche, die finden, es müsse jetzt auch mal gut sein mit dem ständigen Gerede vom Holocaust.

Wo bleibt die kollektive Empörung und der Abscheu über das alles, fragt man sich jeden Tag, um sich auch gleich zu fragen, wieso ethnisch Deutsche sich solche Fragen nicht stellen. Die Antwort: siehe oben. Ausländerfeindlich sind hier immer nur bestimmte Gruppen. Die deutsche Gesellschaft als solche und vor allem die Mitte dieser Gesellschaft ist höchstens „migrationskritisch“ oder unterscheidet zwischen echten Deutschen und „Pass-Deutschen“. Und weil das so ist, muss sie sich auch nicht fragen, was es über sie als Ganzes aussagt, wenn Menschen überall im Land zu ausländerfeindlichen Gesängen ansetzen und den Hitler-Gruß zeigen. Lieber die Namen der „Einzelfälle“ recherchieren, um diese Leute dann durchs Netz zu treiben. Oder schnell ein, zwei Videos posten, die zeigen, wie zu Gigi d’Agostinos „L’Amour Toujours“ jetzt einfach „Nazis raus“ skandiert wird. Nimm das, deutsche Geschichte. Zustimmend lächeln zu Schlagzeilen wie jener, die die taz zum Thema Sylt verfasste: „Wo sind die Punks, wenn man sie braucht?“. Ein Tweet, das gute Deutschland möge sich im Sommer bitte auf Sylt treffen, um die Insel zu entnazifizieren – 49-Euro-Ticket und die Deutsche Bahn machen’s möglich. Heute hilft die Bahn beim Entnazifizieren, neulich noch hat sie KZ-Transporte organisiert, aber, nee nee, das war ja gar nicht die Deutsche Bahn und überhaupt waren es andere Zeiten und das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Rassismus und Antisemitismus in Deutschland abgeschafft, fertig, weiter geht’s.

Wenn man nicht ethnisch deutsch ist und dieses Muster schon viel zu lange beobachtet, wird man müde. Passt man nicht auf, schleicht sich Verbitterung ein, oder man stumpft ab. Davor sollte man sich schützen und dabei hilft nur eins – weil all das Warnen und Erklären und immer wieder Hinweisen ja eben nicht hilft. Was man stattdessen tun kann, hat die kluge Autorin Mely Kiyak vor einiger Zeit erklärt. „Ihr hört es sicher nicht gerne, aber es sind eure Leute, die diese Scheiße verbreiten. Nicht meine Leute.“, schrieb sie. Es sei die deutsche Gesellschaft als ganzes, die das alles geschehen lasse, die weitermache, als wäre nichts. Wie all die Leute im Sylt-Video um die singende und grölende „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“-Gruppe herum. So oder so ähnlich macht es dieses Land jeden Tag. Das ist das eigentliche Problem, an dem sich nichts ändert, weil niemand es angehen will. „Ich habe mich deshalb innerlich von euch abgevolkt“, schreibt Mely Kiyak. Was soll man dazu sagen, außer: „Ich auch“? Und ich würde allen sogenannten Ausländern raten, es genauso zu machen.

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