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Weil Mann es Cannes Johnny Depp und Sexismus in der Filmbranche

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Johnny Depp präsentiert sich bei der Premiere von "Jeanne du Barry" auf der 76. Ausgabe des Filmfestivals in Cannes. (Quelle: picture alliance / Vianney Le Caer/Invision/AP | Vianney Le Caer)

Der Wonnemonat Mai an der Côte d’Azur ist eine Zeit voller Magie. Blitzlichter, spärlich geschnittene und doch reichlich glitzernde Abendkleider, VIP-Partys im Villenviertel, glamouröse Galadinners auf schaukelnden Superyachten, klirrende Champagnergläser am Boulevard de la Croisette, Rum & Coke soweit die Nase reicht und riecht – und, ach ja, auch noch Filme obendrein. Zahlreiche sogar. Denn die internationalen Filmfestspiele finden seit 1946 hier statt, und sie gehören zu den Big Three Festivals dieser Art weltweit, nach Venedigs 1932 eingeweihter Biennale und vor der 1951 gegründeten Berlinale. Aus den rund 2.000 Filmen, die jährlich in Cannes eingereicht werden, erkürt die Auswahlkommission um die 70 Werke als die Crème de la Crème, und diese Auslese bildet den Löwenanteil des anderthalb Wochen langen Wettbewerbes.

Es ist also eine prickelnde Mischung aus Hollywood und Haute Couture, Laissez-faire und Luxusleben. Und von dieser Kulisse umgeben, schreibt Cannes mit breiter, nackter Brust auf sein Panier, auch jene Streifen vorzuführen, die sich durch starke politische Prägung auszeichnen. Dramen und Dokus, die sich in Bild und Ton progressiven Themen widmen, werden demzufolge auf die Leinwand gebracht, wenn auch zwischen den erwarteten Kassenschlagern. Doch damit nicht genug: Auch außerhalb des opulenten Kongresspalasts will man sich während des Festivals immer wieder zu Fragen der sozialen Gerechtigkeit äußern. In diesem Sinne, und zwar nicht ohne Esprit, zwangen beispielsweise Jean-Luc Godard und François Truffaut während der Pariser Revolte 1968 die Filmfestspiele von Cannes zum Abbruch.

Im Laufe der Zeit gab es auch andere Skandälchen gleichsam mit High Heels, und einer fußte auf einem Wunderkind mit wenig Fingerspitzengefühl. Siehe Lars von Trier, der 2011 in Cannes beteuerte: „Ich verstehe Hitler. Okay, ich bin ein Nazi.“ Wegen der eklatanten Entgleisung wurde er zur Persona non grata erklärt. Nach sieben Jahren Verbannung nahm Cannes ihn jedoch mit Handschlag wieder in Empfang. The Show must go on.

Rührende Momente spielten sich aber ebenfalls ab. Letztes Jahr, wenige Monate nach dem Ausbruch des Angriffskrieges gegen die Ukraine, hielt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj per Videoschalte nach Cannes eine ergreifende Ansprache. Dabei rief er Charlie Chaplins Klassiker Der große Diktator ins Gedächtnis. Die Anspielung auf den 1940 uraufgeführten Film, einen Rundumschlag gegen den Nationalsozialismus, gemahnte das Publikum an die mächtige Rolle, die Filme bei der Aufklärung in puncto Menschenwürde spielen können. Der Auftritt von Selenskyj zur Festeröffnung wurde begeistert begrüßt. Er erhielt die meisten stehenden Ovationen des Abends.

Das war eine Steilvorlage zu einem offenen, ja konsequent sensibilisierten Umgang mit brisanten Themen. Doch dieses Jahr in Cannes lief die Eröffnung gemäß einem anderen, eigentlich vertrauteren Drehbuch. Bei der Eröffnung am 16. Mai 2023 suchte ein geradezu orkanartiger Beifallssturm die Côte d’Azur heim. Diesmal stand nicht etwa ein Selenskyj, sondern ein gewisser Depp im Mittelpunkt: Johnny Depp. Tatsächlich wurde dem kontroversen 54-Jährigen vom Publikum sage und schreibe sieben Minuten lang applaudiert. Das waren übrigens nicht lediglich frenetische Fans und gutsituierte Groupies, sondern auch viele seiner Kolleg*innen, die vor und hinter der Kamera stehen. Er weinte. Dann lächelte er. Sogar mit verfault anmutenden Zähnen – zu viel Kreide gefressen?

Schuld, Unschuld und die „Unschönvermutung“

Wäre dieser Fauxpas zu vermeiden gewesen? Eigentlich schon. Die Festivalleitung führt nämlich Regie. Es ginge nicht darum, den Jubel für Johnny gewissermaßen am Schneidetisch politisch korrekt raus zu zensieren. Nein, der Fehler war bereits vorprogrammiert. Indem die Festivalleitung ausgerechnet diesem US-Amerikaner den roten Teppich ausrollte, machte sie einen Kniefall vor einem Kinostar, der zumindest in großbritannischen Gerichtsakten als wife beater, Frauenschläger, gilt.

Rückblende: 2018 reichte Depp eine Verleumdungsklage gegen die britische Zeitung The Sun ein, da diese ihn als „Ehefrauenschläger“ bezeichnet hatte. Siehe Depp v. News Group Newspapers Ltd [2020] EWHC 2911 (QB). Der Londoner High Court of Justice hielt die Vorwürfe der Zeitung allerdings für glaubwürdig und wies Depps Klage ab.

Moment mal: Depp sei doch freigesprochen worden. So beteuern viele. Sie beziehen sich auf den Rechtsstreit zwischen Depp und seiner Ex-Gattin, der nun 38-jährigen amerikanischen Schauspielerin Amber Heard.

Fakt ist, dass ich, als gelernte Juristin (Juris Dr., US), die unsachlichen und schlichtweg falschen Annahmen betreffs der Causa Depp einfach nicht so stehen lassen kann. Zuerst einmal: In US-amerikanischen Zivilprozessen, im Gegensatz zu dortigen Strafprozessen, gibt es die Urteile „schuldig“ oder „nicht schuldig“ eben nicht, sondern stattdessen „haftbar“ oder „nicht haftbar“. Der Prozess John C. Depp, II v. Amber Laura Heard 2022 im US-Bundesstaat Virginia war keine straf-, sondern eine zivilrechtliche Angelegenheit. Johnny Depp trat als Kläger in Erscheinung. Amber Heard, die Beklagte, trat im Rahmen desselben medienträchtigen Prozesses mit einem Gegenanspruch auf. Die Geschworenen entschieden sich primär für Depp. Demnach wurde Heard zu 10 Millionen US-Dollar Schadensersatz zuzüglich fünf Millionen US-Dollar punitive damages verdonnert. Letztere Summe wurde gesetzlich auf 350.000 US-Dollar gedeckelt.

Gleichzeitig aber wurde Depp dazu verurteilt, zwei Millionen Schadensersatz an Heard zu leisten. Schließlich, um langjährige, teure gegenseitige Berufungen zu vermeiden, einigten sie die beiden darauf, dass Heard netto eine Million an Depp zahlt. Einen „Freispruch“ für Depp gab es also nicht. Leider aber genießt er in der Filmbranche einen Freibrief wie aus den Zeiten, in denen der Fluch der Karibik eine historische Gegebenheit war. Amber Heard, wie eine Aussätzige behandelt, zog nach Madrid und kehrte Hollywood den Rücken. Depp kehrte ins globale Filmgeschäft zurück und wird angehimmelt. Depps Beute umfasst einen neu ergatterten Werbevertrag mit Dior. Genug für eine ordentliche Zahnaufhellung oder sogar ein hochkarätig goldenes Gebiss müsste drin sein. Der Darsteller von Capt’n Jack bekommt immerhin 20 Millionen US-Dollar, um das Parfüm „Sauvage“ in aller Welt zu tragen. Offenbar kann man ihn wieder gut riechen.

Freibeuterei statt Feinfühligkeit

Natürlich sind international ausgefochtene Scheidungen und Schlammschlachten ein heißes Eisen. Aber Cannes hat mit dem fürstlichen Empfang für Johnny Depp einen Beschluss gefasst, der für Amber Heard und andere glaubwürdige Opfer misogyner Gewalt einen Schlag ins Gesicht bedeuten. Hat niemand in der Festivalleitung das von Amber Heard heimlich aufgenommene, sogar im US-Prozess zugelassene Video gesehen? Der Ausschnitt zeigt, wie ein wütender, betrunkener Depp in Anwesenheit seiner zitternden Frau die heimische Küche demoliert.

Warum tun die Verantwortlichen, als hätte es diese Vorwürfe gar nicht gegeben? Deshalb, weil Mann es Cannes. It’s a man’s world, and boys will be boys. Oder nicht? Zweifelsohne ist das Filmgeschäft noch sehr patriarchalisch geprägt. Ebendeswegen gab es bei der #MeToo-Bewegung einen Hoffnungsschimmer am Horizont der französischen Riviera. Denn seit Juli 2022 hat Iris Knobloch das Heft in der Hand. Die 60-Jährige deutsche Rechtsanwältin und Managerin ist nämlich die erste Frau und die erste Nichtfranzösin, die das Ehrenamt als Präsidentin des Filmfestivals von Cannes innehat. Gerade sie, eine weibliche Führungskraft, hätte gemeinsam mit dem Festivalleiter Thierry Frémaux ein Zeichen der Solidarität mit unterdrückten und missbrauchten Frauen setzen können.

Anstatt Depps Film Jeanne du Barry als Aufmacher in Szene zu setzen, hätten sie lieber Maria Schraders She Said (2022) präsentieren können. Dieser Spielfilm dokumentiert, wie der Hollywoodmogul Harvey Weinstein, inzwischen ein verurteilter Sexualstraftäter, durch mutige Frauen zu Fall gebracht wurde. Anstelle einer Würdigung dieser Frauen erfolgte jedoch ein süffisantes Augenzwinkern wie aus einem mit Zigarrenrauch verpesteten Hinterzimmer am Set der Serie Mad Men. Tja, wie bei Paschas in Nadelstreifen. Es ist wiederum Business. Big Business. Die Tatsache, dass Iris Knobloch 25 Jahre lang in Führungspositionen bei Warner Bros. bzw. Time Warner arbeitete, ab 2020 sogar als Geschäftsführerin von Warner Media France, stößt etlichen reformorientierten Kritiker:innen des Festivals immerhin übel auf.

Kurs setzen statt Segel streichen

Cannes kenne ich eigentlich seit 1986. Mit meiner museumsreifen Canon AE-1 zielte ich auf einen 67 Meter langen Dreimaster. Es war eine nachgebaute Galeone, und diese hatte jüngst als Filmset für Roman Polańskis Pirates gedient. Die abendfüllende Abenteuerkomödie war sogar der Eröffnungsfilm des 39. Festivals, auch wenn sie hors concours, also außerhalb des Wettbewerbs lief. Und siehe da: Roman Polański war höchstpersönlich anwesend.

Es war ein komisches Gefühl, Polański im Fadenkreuz meiner Objektiv zu haben. Schon damals waren die Vergewaltigungsvorwürfe (Sex mit einer Minderjährigen in Kalifornien) gegen den flüchtigen Filmemacher längst bekannt. Egal, er wurde in Cannes enthusiastisch gefeiert. Doch im Laufe der elftägigen Veranstaltung gab es einen Lichtblick, was das sogenannte „schwächere Geschlecht“ betraf: Jane Campions Film An Exercise in Discipline: Peel. Der Titel war weitaus länger als die neunminütige Handlung, aber das Werk erhielt die Palme d’Or für den besten Kurzfilm und ging damit zum ersten Mal an eine Frau.

Polańskis Film Pirates, 30 Millionen US-Dollar schwer und zwei Stunden lang, floppte an der Kinokasse. Der Streifen hatte übrigens mit Depps Piraten-Filmreihe nichts zu tun. Wobei es auffällt, dass beiden Männern plausibel nachgesagt wird, Frauen als beliebig gekaperte Beute zu behandeln. Neben der Empörung, die wir unbedingt empfinden sollten, obliegt es der #MeToo-Bewegung und unseren Verbündeten, die Segel nicht zu streichen, sondern den Kurs auf Aufklärung zu setzen und eine unaufhörliche Breitseite (Anzeigen, Boykottierungen) gegen die Missstände zu liefern. Meine nächste Kolumne befasst sich mit den Hürden und speziell mit der Situation in Deutschland.

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