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4 Jahre Hanau Wie Betroffene für Gerechtigkeit kämpfen (müssen) 

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Über 8.000 Menschen erinnern am 17. Februar an die Ermordeten von Hanau. (Quelle: AAS)

Am 17. Februar 2024 stehen in Hanau 8.000 Menschen Schulter an Schulter. Während im ganzen Bundesgebiet Demonstrierende auf die Straße gehen, um ein Zeichen gegen Rechtsextremismus und Ausgrenzungsideen zu setzen, werden in der hessischen Kleinstadt die Konsequenzen von menschenverachtendem Handeln greifbar: Die Demonstration markiert den vierten Jahrestag des rechtsextremen Anschlags vom 19. Februar 2020. Ein rassistischer Attentäter ermordete neun Menschen: Said Nesar Hashemi, Hamza Kenan Kurtović, Ferhat Unvar, Sedat Gürbüz, Fatih Saraçoğlu, Gökhan Gültekin, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz und Kaloyan Velkov. Außerdem erschoss er seine eigene Mutter und verletzte weitere Menschen zum Teil schwer.

Fast auf den Tag genau vier Jahre später, werden am Samstag hunderte Schilder in die Luft gehalten, mit den Gesichtern und Namen der Opfer. Das Gedenken an die Ermordeten von Hanau ist ein Perspektivwechsel und das Ergebnis eines jahrzehntelangen Ringens um die Sichtbarkeit der Betroffenen von rechtsextremen Angriffen: Die Namen der Opfer wurden unvergessen gemacht und stehen für ein Gedenken aus Betroffenenperspektive.

Und auch wenn die Demo vorbei ist, bleiben die Gesichter und Namen im Stadtbild und in den Köpfen der Menschen präsent: An den zwei Tatorten erinnern heute Fotos und Tafeln an die Menschen, die nicht vergessen werden sollen. Aber nicht nur die basieren auf der Eigeninitiative der Angehörigen, sondern auch der 140 Quadratmeter große Gedenkraum, die öffentlichkeitswirksame Gedenkkampangne „#saytheirnames“, die bundesweiten Mobilisierungen zu den Gedenktagen, die Betreuung und Vernetzung der Angehörigen und Überlebenden anderer Anschläge, etwa dem in Halle 2019, der Aufbau von Bildungsangeboten für Kinder und Jugendliche, der Austausch mit Wissenschaft, Politik und Presse und selbst der Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag.

Die Initiative 19. Februar Hanau und die Bildungsinitiative Ferhat Unvar werden dort aktiv, wo staatliche Stellen in schöner Regelmäßigkeit versagen. Sie haben nicht nur Räume für Gedenken, Bildung, Aufklärung und Trauer geschaffen. Sie setzen sich mit Beharrlichkeit öffentlich für die Aufklärung der Tat ein und gegen institutionellen und strukturellen Rassismus. Sie treffen sich an jedem 19. des Monats und organisieren Gedenkveranstaltungen – nach ihren Wünschen und Bedingungen.

Ohne diesen Einsatz wären die Taten und die vielen Missstände im Polizeieinsatz, den Ermittlungen und nach der Tat nie öffentlich geworden. In detaillierter Kleinstarbeit und unter hohem persönlichen Einsatz – in einer Phase, in der die Angehörigen eigentlich Zeit und Ruhe zum Trauern gebraucht hätten – recherchierten sie den Tathergang vom 19. Februar. Ihrem Einsatz ist es zu verdanken, dass mittlerweile bekannt ist, dass der Notausgang der „Arena Bar“ verschlossen war, der Notruf der Polizei nicht zu erreichen, die medizinische Behandlung behindert wurde und 13 der Polizist*innen, die nach der Tat vor Ort waren, in rechtsextremen Chatgruppen waren.

Die beiden Initiativen setzen sich immer wieder dafür ein, dass die Stimmen der Betroffenen gehört werden und keine Erinnerungsarbeit über ihren Köpfen hinweg praktiziert wird. So zeigt nicht nur das jüngste Theaterstück „And now Hanau“ von Tuğsal Moğul, dass diese starke Haltung angenommen wird: Das Stück wurde gemeinsam mit einigen Betroffenen erarbeitet und ist ein Beispiel partizipativer Gedenkpraxis.

Während die Initiativen bundesweit Menschen aufklären, sensibilisieren und so eine neue Praxis im Gedenken an rechtsextreme, rassistische, antisemitische und antiziganistische Gewalt gestalten, schafft es die Stadt Hanau in vier Jahren nicht, ein zentrales Mahnmal zu errichten. Zwei Betroffene haben ihre Erfahrungen mit den Behörden und der Stadt vor und nach dem Anschlag jetzt aufgeschrieben. Said Etris Hashemis jüngerer Bruder Said Nesar wurde am 19. Februar ermordet, er selbst schwer verletzt. Sein Buch heißt „Der Tag an dem ich sterben sollte”. Auch Çetin Gültekins Bruder gehört zu den Opfern. Sein Buch trägt den Titel „Geboren, aufgewachsen und ermordet in Deutschland”. Die beiden Autoren erzählen von ihrem Leben und das ihrer Angehörigen und Freund*innen in Hanau vor dem Anschlag und beschreiben die Missstände im Umgang mit den Angehörigen und auch in der Aufklärung als „zweiten Anschlag“.

Kraft gibt den Angehörigen die Gemeinschaft in den Initiativen, das bundesweite Netzwerk aus Betroffenen anderer Anschläge sowie der Wunsch, die Taten aufzuklären und Konsequenzen zu erwirken. Bereits seit den 1990er Jahren setzen Angehörige und Überlebende sich dafür ein, dass rechte, antisemitische und rassistische Taten benannt werden und in das Bewusstsein der Öffentlichkeit rücken. Die Vernetzung der Gruppen verstärkte sich nach den Morden des NSU, als die Angehörigen fünf Jahre vor der Selbstenttarnung in Kassel auf die Straße gingen und die Taten rechtsextremen Täter*innen zuschrieben. Die Angehörigen und Überlebenden der rechtsextremen Terrortaten von Hanau, und auch aus Halle, München, Dortmund und vielen anderen Orten gedenken am Samstag in Hanau gemeinsam. Sie betonen auf der Bühne wiederholt, dass die Betroffenen in Solidarität zusammenhalten. Newroz Duman formuliert es so: „Wir sagen heute hier neun Namen und meinen aber alle.”

Auf der Bühne heißt es am Samstag immer wieder: Ohne Aufklärung kann es keine Konsequenzen und keine Gerechtigkeit für die Betroffenen geben. Die Angehörigen fordern Taten vor allem von den politischen Entscheidungsträger*innen und nennen die Entwaffnung Rechtsextremer als Beispiel. Serpil Unvar macht deutlich, dass sie kein Mitleid haben möchte – jedoch Mitgefühl: „Mein Sohn kommt nie wieder! Dieser Kampf ist nicht für mich, sondern für euch, für eure Kinder!”

Durch die Organisation von Informationsveranstaltungen, Bildungsangeboten, die Förderung von Dialog und von politischen Diskussionen setzen die Hanauer Initiativen sich aktiv für eine gerechtere und sicherere Gesellschaft ein. Ihre Arbeit ist nicht nur ein Akt der Erinnerung, sondern auch ein entschlossener Schritt in Richtung einer nachhaltigen Veränderung und Prävention.

Es gilt also nach wie vor, die Forderungen wahrzunehmen, zuzuhören und an der Seite der Betroffenen zu stehen. Bei der Gedenkdemo in Hanau, aber auch wenn es darum geht, sie in die Gesellschaft hineinzutragen. Und sich letztendlich gegen Hass und Gewalt einzusetzen. Said Etris Hasemi formulierte es kürzlich so: Dass Hanau wirklich eine Zäsur bleibt, ist eine Aufgabe an uns.

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